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Algerisches Familienepos

Boualem Sansal erzählt anhand seiner eigenen Biografie das Schicksal seines Landes zwischen Kolonialherrschaft, Sozialismus und Islamismus und macht sich zugleich auf die Suche nach seiner eigenen Herkunft und Identität.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.12.2012
    "Der Auslöser für diesen Roman war der Tod meiner Mutter vor vier Jahren. Nach dem Schmerz und der Trauer sah ich mich plötzlich wieder mit vielen Fragen konfrontiert, die ich mir mein Leben lang gestellt hatte, ab dem Alter von fünf Jahren bis heute. Fragen über meine Herkunft, über meine Mutter, meinen Vater und über meine Geschwister. Weil die einzige Person, die mir Antworten hätte geben können, gestorben war, sagte ich mir: Ich werde die Antworten in mir selbst suchen, denn vermutlich kenne ich sie und habe sie nur verdrängt. Ich habe mich immer davor gedrückt, denn das hätte bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe mich also vor meinen Computer gesetzt und habe versucht, jede Frage einzeln zu beantworten."
    Es ist die Stadt der Sehnsucht der jungen Generation Algeriens, in der Yazid die lebensrettende medizinische Hilfe für seine kranke Mutter zu finden hofft. Vergeblich: Schon auf dem Flug von Algier nach Paris fällt die alte Frau in ein Koma, von dem sie nicht mehr erwacht.

    So bleibt dem Ich-Erzähler von Boualem Sansals Roman "Rue Darwin" nur, seine in der Welt verteilten Geschwister nach Paris zu rufen, zum Abschied von der sterbenden Mutter. Für Yazid ist der Tod seiner Mutter und das Wiedersehen mit den Geschwistern wie ein Weckruf zu einer Reise in die Vergangenheit.

    Es klang wie ein Ruf aus dem Jenseits: "Geh, kehre zurück in die Rue Darwin." Ich bekam eine Gänsehaut. Niemals, zu keinem Zeitpunkt, hatte ich auch nur eine Sekunde lang erwogen, eines Tages in diese arme Gasse meiner Kindheit zurückzukehren. Es gab keinen Grund; dieser Teil meines Lebens hatte sich in einer anderen Welt abgespielt, und jene Welt ist untergegangen und mit ihr die Erinnerung.

    Die Rue Darwin in Belcourt, dem Viertel im Süden Algiers, aus dem auch Sansals Landsmann Albert Camus stammt, ist für Yazid der Ort der glücklichen Kindheit. Trotz der Armut seiner Familie - er wohnt mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern auf 20 Quadratmetern - nennt er es sein Paradies und Königreich, unbeschwert und frei.

    In der Rue Darwin erlebt Yazid die Schlacht um Algier zwischen Januar und Oktober 1957, als sich die französische Armee und die algerisch-nationalistische Rebellenorganisation FLN gegenüberstehen. Für ihn, den achtjährigen Jungen, ist Algier selbst im Kriegszustand das Synonym absoluter Freiheit. Als er 50 Jahre später in die Straße seiner Kindheit zurückkehrt, zeigt sich für Yazid der gesellschaftliche Wandel des Landes seit der Unabhängigkeit überdeutlich.

    Seither hat sich viel getan, heute liegt Belcourt in einer anderen Welt. Nicht ein einziges dieser ehemaligen Kinder würde es wiederkennen. Heute ist die Freiheit, die den damaligen Bewohnern so wesentlich war, eine unverzeihliche Sünde. Der Islam, der als eifersüchtiger und rachsüchtiger Gebieter herrscht, will es so. "Der Mensch kann nur frei sein, wenn er sich Allah unterwirft", hallt es von morgens bis abends und vom Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen. "Das Glück liegt im Märtyrertod", erwidert das Echo im gleichen höllischen Rhythmus. Barmherziger Gott, warum das denn? Ohne freie erwachsene Menschen, die sie lieben, sind Kinder keine Kinder, sondern Klone von angsterfüllten und verantwortungslosen Menschen.

    Auch in "Rue Darwin", Boualem Sansals bisher persönlichstem, ja intimstem Roman, finden wir seine scharfe, teils polarisierende Ablehnung religiöser Autoritäten, seine Verurteilung von Islamismus und Unterdrückung, seine provozierend offene Anklage gegen soziales Elend, politische Korruption und kulturellen Konformismus in seiner Heimat, sowie eine gewisse Nostalgie nach den gesellschaftlichen Freiheiten während der französischen Kolonialherrschaft.

    "Nach der Unabhängigkeit ist unser Familienclan auseinandergebrochen. Damals hatten die jungen Leute nur eines im Kopf: in den Westen emigrieren. Dort gab es gute Universitäten, es gab Fortschritt und ein schönes Leben wartete. Die erste Generation ist also nach Frankreich gegangen, in die USA und nach Kanada, so wie meine Schwestern. Dagegen ist mein jüngster Bruder das denkbar schlimmste Produkt des Algeriens nach der Unabhängigkeit. Er ist ein Eleve der "neuen Schule": Es wird nur Arabisch gesprochen, den Leuten wird der Islam eingetrichtert, nur die Moschee zählt. Er ist in den Osten abgehauen, man weiß nicht genau wohin, vielleicht nach Afghanistan. Für meine Mutter war es sehr schwer, über diese Dinge zu sprechen. Für sie bedeutete das so viel wie ein gescheitertes Leben."

    Der Ich-Erzähler Yazid, so sagt Boualem Sansal, das sei er selbst. Dennoch sei an seinem Roman "alles wahr und alles falsch" zugleich, zu viel über seine Vergangenheit, seine wahre Herkunft und Identität liege noch immer im Ungewissen.

    Sicher ist, dass er 1949 in einem kleinen Dorf unweit von Algier zur Welt kam. Seine Mutter arbeitete vermutlich als Freudenmädchen in einem Bordell des alten algerischen Klans der Kadri. Kurz nach seiner Geburt wird sie verstoßen und flieht nach Algier. Bis zu seinem achten Lebensjahr, als er seiner Mutter in die Rue Darwin in Algier folgt, verbringt Sansals Wiedergänger und Ich-Erzähler Yazid eine Kindheit abgeschottet hinter Mauern, in der Obhut der ebenso gefürchteten wie verehrten Klanchefin Djeda und ihrem "Hofstaat."

    "Der Clan hatte durch die Kolonialherrschaft der Franzosen seine ganze Macht eingebüßt. Ich weiß nicht wie - denn das konnte ich nicht recherchieren -, aber Djeda beschloss, ein Bordell zu gründen. Sie führte ein Doppelleben: einerseits das offizielle Leben einer ehrbaren Chefin eines Familienklans, und andererseits ein geheimes Leben der strengen Patronin eines Bordellrings. Ihr Familienstamm war Jahrhunderte alt. Und diese Frau hat mit beeindruckender Intelligenz diesen Stamm durch unser bewegtes 20. Jahrhundert geführt. Sie hat eine Macht aufgebaut, die sie später zu einer sehr einflussreichen Person im gesamten Maghreb werden ließ!"

    Über die Figur der mächtigen Djeda spiegelt Boualem Sansal die Geschichte seines Landes als Spielball zwischen Kolonialherrschaft, Nationalismus, Sozialismus und schließlich dem Islamismus. Die Klanchefin Djeda führt den Familienstamm über alle politischen Wirren und Regimewechsel hinweg mit starker Hand, autoritär und gerecht zugleich.

    Den Franzosen ist sie zuverlässige Unterstützerin des Kolonialregimes. Nach der Unabhängigkeit erhält sie ihre Macht durch öffentlich in Szene gesetzte Großspenden zum Wohle der Sozialistischen Volksrepublik. Erst unter dem wachsenden Einfluss der Islamischen Heilsfront Anfang der 1990er-Jahre büßt der Klan seine Macht endgültig ein.

    Boualem Sansal erzählt mit seiner Lebensgeschichte zugleich die Geschichte Algeriens seit der Unabhängigkeit als eine tragische Abfolge politischer Sündenfälle und populistischer Verführungen, allen voran der extremistische Islamismus, der nicht nur die politische Glaubwürdigkeit des Landes, sondern vor allem auch die Seele des Volkes in den Abgrund zerrt.

    Zugleich beschreibt Sansal seine Erinnerungen an das Glück seiner Kindheit und die Suche nach der eigenen Identität mit emotionaler Dichte und beeindruckender Klarheit.
    Die deutsche Übersetzung von Christiane Kayser verliert dabei kein Stück der schwebenden Leichtigkeit des mal plätschernden, mal reißenden und dabei immer die Aufmerksamkeit bannenden, mal analytischen und mal märchenhaften Erzählstroms dieses großen Romanciers und unbestechlichen Chronisten seines Landes.

    Wieso Boualem Sansal als einer der größten algerischen Literaten der Gegenwart gilt und zugleich in seinem Land verboten, beschimpft und bedroht wird, ist in diesem großen Familienepos nachzulesen.

    Boualem Sansal: "Rue Darwin".
    Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Merlin Verlag, Gifkendorf, September 2012, 268 Seiten, 24,90 Euro