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Alice im Wandel der Zeit

Alice im Wunderland - das Buch begeistert bis heute, die Symbolfigur Alice diente manch einem Künstler als Vorlage. Die Tate Liverpool nimmt sich Alice im Wunderland im Laufe der Zeit vor und zeigt Werke von Künstlern der 1930er-Jahre bis heute.

Von Hans Pietsch |
    Auf die Frage des weißen Kaninchens, wo es anfangen soll mit seiner Geschichte, antwortet der König: "Am Anfang, und dann weiter, bis Du am Ende angelangt bist.” Die Kuratoren der Schau haben das auf den Kopf gestellt und beginnen am Ende, mit einem Raum zeitgenössischer Antworten auf Alice - etwa mehrere horizontal schwebende Alice-Figuren in bunten Kleidchen von Annalies Strba und eine Neonarbeit von Jason Rhodes, dessen zotige Wörter anzudeuten scheinen, dass der Eingang des Kaninchenbaus, durch den Alice fällt, mehr ist als nur der Eingang zu einem Kaninchenbau.

    Nach dieser Präambel geht es dann aber überaus gesittet zu. Der Reverend Charles Dodgson wird vorgestellt, als Mathematikprofessor in Oxford, als Fotograf nicht nur von jungen Mädchen, als Freund und Bewunderer der Präraffaeliten und vor allem als Illustrator seiner eigenen Geschichten, witzig und kompetent, doch es fehlen die Absurdität und Bedrohlichkeit von John Tenniels für die Erstausgabe von 1865 entstandenen Zeichnungen. Und dann wunderschön altmodische Glasvitrinen mit weiteren Ausgaben sowie Keksdosen, Spielkarten und Glasplatten für die Laterna Magica mit Alice-Motiven - in unseren Zeiten von Harry Potter nichts Verwunderliches, im 19. Jahrhundert ganz neu.

    Was in den beiden Geschichten wohl unterschwellig mitklingt - "eine sublimierte Sehnsucht nach einem vor-geschlechtsreifen Kind”, wie es der Katalog nennt - das bricht bei den Surrealisten in den 30er-Jahren voll heraus - Alice als sexualisiertes Kind-Weib. Vor allem Max Ernst malt sie, mit der jungen Leonora Carrington, seiner damaligen Geliebten, als Alice, nackt, umhüllt von dunkler Vegetation.

    Auch Salvador Dali faszinierten die Träume und Spiegel, 1946 tat er sich gar mit Walt Disney zusammen, und zeichnete den Storyboard für einen Kurzfilm, mit tanzender Alice mit Sprungseil. Leider können die beiden hier ihre schlechten Seiten - nämlich Kitsch und Sentimentalität - nicht unterdrücken.

    Auch die englischen Surrealisten, die sich selbst als "Carrolls Kinder” sahen, verwenden seine Versatzstücke. Traurig anzusehen, denn sie waren eigentlich zweitklassige Maler.

    Eine Kuriosität hier Oscar Kokoschkas "Anschluss - Alice im Wunderland”, 1941 im Londoner Exil entstanden. Ein brennendes Wien, die Bürger mit Helm und Gasmaske, am Rand die nackte Alice mit Feigenblatt und blondem Zopf, als unschuldige Austria, die nicht zu verstehen scheint, was ihr zustößt.

    In den 60er-Jahren regt sich dann die psychedelische Alice, auf Adrian Pipers LSD-inspirierten Leinwänden wirbeln bunte Wellen und Schlieren, sowie die feministische Alice - Fotos einer Performance der Japanerin Yayoi Kusama vor der Alice-Statue in New Yorks Central Park, mit nacktem Hutmacher und Märzhasen, und, ein Höhepunkt der Schau, die verstört-verstörenden Fotos der damals blutjungen Amerikanerin Francesca Woodman, nicht viel älter als Alice selbst, bevölkert von bizarren Figuren, etwa einem nackten Mann mit Kaninchenkopf in einer im Halbschatten liegenden Tür.

    Vieles aus unserer Zeit hat, zumindest inhaltlich, wenig oder gar nichts mit Alice zu tun, etwa Douglas Gordons Video "Through the Looking Glass”, in dem der Schotte die berühmte Szene, in der Robert de Niro als Travis Bickle in "Taxi Driver” sein "You Talking To Me?” ausspuckt, auf zwei Leinwänden leicht zeitversetzt endlos wiederholt. Hypnotisch zwar, doch der Titel allein tut's nicht.

    Thematische Ausstellungen müssen immer ihre eigene Prämisse durchtesten. Dieser gelingt es nicht so ganz. Vielleicht hätte sie sich ganz auf Carroll selbst und seine Kreationen konzentrieren sollen und auf Illustrationen, etwa die des englischen Pop-Künstlers Peter Blake, dessen zeitgenössische Alice ebenso wenig in ihre fantastische, surreale Umgebung zu passen scheint wie die von Carroll und Tenniel. Wie sagt Alice doch? "Was für einen Nutzen hat ein Buch ohne Bilder?”