Es hat lange gedauert, viel zu lange, bis das Grauen von Ruanda für eine breitere Öffentlichkeit auch hier in Deutschland fassbar gemacht werden konnte. Ruanda ist nicht Auschwitz, es ist keine Gedenkstätte, der man sich ehrfürchtig und voller Scheu nähert. Es ist ein lebendiges, blühendes Land voller Menschen, und für sie ist der Völkermord keine ferne Vergangenheit. Sie erinnern sich noch alle daran, was damals im Frühjahr 1994 geschah. Die meisten Täter leben noch, die Gräber sind noch frisch, die Geschichten sind lebendig. Ruanda ist ein Land voller Erinnerungen und Traumata.
Zum ersten Mal liegt jetzt auf Deutsch eine Darstellung des ruandischen Völkermordes vor, die es schafft, den Bogen zu schlagen von der großen Geschichte zur kleinen, von den historischen und weltpolitischen Hintergründen zu den Unfassbarkeiten des banalen Mordens: auf den Hügeln, in den Kirchen, an den Straßensperren, im Busch. Der Titel "Kein Zeuge darf überleben: Der Genozid in Ruanda" ist programmatisch: Im Zentrum steht die Motivation der Massenmörder und die Art, wie sie es anstellten, ihre Mitmenschen dazu zu bringen, eine komplette soziale Gruppe ihres Landes einfach auszurotten. Der englische Titel ist prägnant in einer anderen Weise: "Leave None to Tell the Story" heißt das Buch in seiner 1999 veröffentlichten Originalversion, also auf Deutsch: Lass niemanden zurück, der die Geschichte erzählen kann. Dieses Buch ist also auch Beweis dafür, dass die Mörder trotz der hohen Zahl ihrer Opfer ihr Endziel nicht erreichten. Es gibt noch genug Leute, die ihre Geschichte erzählen.
Die Autorin Alison Des Forges ist keine Unbekannte in Ruanda. Sie beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit diesem Land. Die kleine, weißhaarige US-Amerikanerin hat schon vor den Massenmorden über Menschenrechtsverletzungen in Ruanda geforscht und für die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch darüber Berichte verfasst. Auch das jetzt vorliegende Buch ist eigentlich ein Untersuchungsbericht von Human Rights Watch. Aber mit seinen 900 Seiten, seinem Apparat wissenschaftlicher Forschung und seiner Fülle von Details, die sich zu einem apokalyptischen Gesamtbild zusammenfügen, ist es viel mehr als das. "Kein Zeuge darf überleben" ist ganz einfach das beste Werk auf Deutsch über Ruandas neuere Geschichte und unverzichtbar für jeden, der nicht nur dieses ferne Land und eine ferne Region Afrikas kennenlernen will, sondern auch etwas über das Funktionieren von Macht und sozialem Gehorsam im Dienst verbrecherischer Ideologien begreifen möchte – ein Thema, das gerade den Deutschen am Herzen liegen dürfte.
Oftmals wurden Straßensperren vor Bars oder in der Nähe von Geschäften errichtet. Örtliche Geschäftsleute oder andere wohlhabende Kreise versorgten die Wachen mit Essen und Getränken und manchmal auch mit Marihuana. Die Wachleute – ob betrunken oder nüchtern – bestimmten über Leben und Tod all jener, die die Sperren passieren wollten, manchmal auch von gefangengenommenen Personen, die Patrouillen bei ihnen abgeliefert hatten. Bei der Einschätzung jedes einzelnen Falles konnten sie überlegen, ob die betreffende Person wie ein Tutsi aussah oder nicht. Sie konnten auch abwägen, wie viel die betreffende Person zahlen konnte, um sein oder ihr Leben zu retten, und – falls es sich um eine Frau handelte – ob sie begehrenswert genug war, um sie zu vergewaltigen.
Es gab auch großangelegte Massaker, mit Tausenden von Toten, wenn Tutsi sich in ein Kirchengelände geflüchtet hatten und dann dem Angriff von Soldaten, unterstützt durch aus dem Volk rekrutierte Milizen, preisgegeben wurden. Diese Angriffe sowie die Patrouillen und die Straßensperren waren nicht spontan, sondern folgten Anweisungen und Aufforderungen des Militärs und der neuen Militärregierung.
Ruandas Völkermord war kein plötzliches, irrationales Aufbegehren blutrünstiger, primitiver Hutu, die einfach so über ihre Tutsi-Nachbarn hergefallen wären. Der Genozid war eine administrative Maßnahme, die allmählich und unerbittlich auf das ganze Land ausgedehnt wurde. Das besondere Verdienst von "Kein Zeuge darf überleben" ist, dass das Buch diesen Prozess im Einzelnen anhand konkreter Orte und Menschen erzählt: Wie die Zentralregierung und das Militär das Töten organisierte, wie sie mit Zurückhaltung umging, wie sie Widerstand brach, wie sie die ruandische Gesellschaft in eine Mordmaschine verwandelte. Die Sache war eben nicht so einfach, wie viele der Täter sie heute darstellen, wenn sie sagen, sie hätten ja nur Befehle befolgt.
Ebenso wie die Organisatoren des Völkermordes waren auch die Täter keineswegs Dämonen oder Marionetten, die Kräften ausgesetzt waren, denen sie sich nicht entziehen konnten. Sie waren Menschen, die sich entschieden hatten, Böses zu tun.
Ein Bürgermeister erzählt:
Es hat niemals irgendwelche Weisungen gegeben. In den Besprechungen der Bürgermeister wurde uns zu keinem Zeitpunkt gesagt, was wir tun sollen. Jeder Bürgermeister erstattete lediglich Bericht über die Situation in seiner Gemeinde, wie viele Menschen getötet worden waren und wo die Gewalt stattgefunden hatte. Danach waren die Treffen beendet.
Wenn allerdings Bürgermeister sich den Milizen und Soldaten widersetzten – was häufig geschah –, wurden sie selbst Zielscheibe der Gewalt und machten dann oft umso eifriger mit, um nicht aufzufallen. Die Effizienz des Mordens war so ungemein, dass dieses System schließlich von innen heraus zusammenbrach, weil vielerorts nach der Ausrottung der Tutsi die Gewalt der Milizen nicht mehr zu stoppen war und weil angesichts des Vorrückens von Tutsi-Rebellen das ruandische Territorium einfach nicht mehr zu halten war. Das Militärregime rettete sich am Schluss nur noch durch die Flucht nach Zaire – eine organisierte Flucht, bei der die Armee, die Staatskasse und der gesamte Regierungsapparat mitging und im Exil jenseits der Grenze seine Zelte neu aufschlug, inmitten von zwei Millionen mitgenommenen Zivilisten, unter Schutz der UNO. Diese Geschichte erzählt "Kein Zeuge darf überleben" leider nicht. Diese organisierte Massenflucht brachte innerhalb von zwei Jahren das riesige Zaire zum Einsturz und trat einen regionalen Krieg los, der bis heute nicht zu Ende ist. Dieses Drama harrt noch der Erforschung und Einordnung. Dafür aber leitet "Kein Zeuge darf überleben" den Blick auf ein vergessenes Kapitel des Genozids: den Widerstand innerhalb Ruandas selbst. Zahlreiche Hutu weigerten sich, zumindest eine Zeitlang, beim organisierten Mord an den Tutsi mitzumachen. Es mussten in manchen Regionen kleine Militärputsche stattfinden, um die lokale Administration gefügig zu machen. Und es gab Gegenden, wo sich Tutsi verschanzten und sich wehrten – mit hohen Verlusten. Dieses verzweifelte Aufbegehren wurde von der Welt nicht wahrgenommen. Die Untätigkeit der UNO und der Großmächte angesichts des Völkermordes erscheint umso krimineller, als deutlich wird, dass gezielte Hilfe für diesen Widerstand möglich gewesen wäre.
Trotz alledem sind dies die Geschichten, die Hoffnung machen. Sie zeigen, dass es möglich ist, sich dem staatlichen Verbrechen zu widersetzen. Dass Ruanda keine Chiffre für blutrünstige Massaker sein muss. Es ist ein Land voller Menschen, die leben, die überlebt haben und deren Erfahrung des Überlebens und des Umgangs mit dem Verbrechen ein kostbarer Beitrag zum Frieden nicht nur in Afrika sein kann.
Alison Des Forges, "Kein Zeuge darf überleben: Der Genozid in Ruanda". Das 947 Seiten starke Werk kostet Euro 48 und ist in der Hamburger Edition erschienen.