Archiv


Alle Vögel fliegen hoch

Wenn Kinder Worte aussprechen, kennen sie nicht unbedingt die exakte Bedeutung. Ein Hund kann manchmal auch eine Katze sein. Die Verbindung eines Wortes mit dessen Bedeutung ist ein Lernprozess, dem sich die Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich angenommen hat.

Von Thomas Wagner |
    "Steffen, was kann der Lastwagen denn alles. Kann der kippen, der Lastwagen? Ja. Und was kann der so kippen? Was kippt ein Lastwagen so alles? - Das hier....- Und was ist das? - Ein Container."

    Alltag in der Kindertagesstätte Wiki in Friedrichshafen: Immer wieder krabbeln die Erzieher gemeinsam mit den Kindern auf dem Teppichboden, deuten auf die Spielzeuge, wiederholen immer wieder die dazu passenden Begriffe. Die Kinder sollen spielend Wörter und ihre Bedeutungen lernen - jeden Tag ein paar mehr. Das ist aber wesentlich komplizierter als bisher angenommen.

    "Man kann sagen: In der ersten Phase des Spracherwerbs, des Worterwerbs, wo das dann zum ersten Mal im Wortschatz auftaucht, dann wird es halt verwendet. Das heißt aber nicht, dass die Kinder das dann so verwenden, wie das halt Erwachsene machen, also sozusagen die konventionelle Wortbedeutung sich angeeignet haben. Sondern das ist sozusagen ein Lernprozess,"

    so Henrik Saalbach vom Lehrstuhl für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. Er und sein Team sind der Frage nachgegangen, ob Kinder, die ein bestimmtes Wort aussprechen, auch tatsächlich dessen Bedeutung kennen - und zwar so, wie Erwachsene die Bedeutung dieses Wortes sehen. Die verblüffende Antwort ist: Je jünger Kinder sind, desto weiter sind sie entfernt davon, den Worten auch die richtige Bedeutung zuzuordnen.

    "Das ist wirklich ein langer Prozess: Am Beispiel Hund mal zu bleiben - das kann durchaus sein, dass das übergeneralisiert wird, sozusagen auf alle Tiere mit Beine und Felle angewandt wird. Und dass diese Justierung im Sinne der Bedeutung der Erwachsenen tatsächlich erst viel später einsetzt."

    Und so wird dann aus einer Katze schnell auch mal ein Hund: Vierbeiner mit Fell, das reicht für ein Kleinkind völlig aus, um das, was es da sieht, dem allerersten Wort zuzuordnen, das es mit einer solchen Erscheinung in Verbindung bringt: Nämlich mit einem Hund.

    "Der Zeppelin.Wo ist der Zeppelin? Sag mal Zeppelin.Guck mal, jetzt fliegt er runter. Zeppelin - gleich landet er. Jetzt fliegt er runter, guck mal."

    Die Kindertagesstätte Wiki liegt am Rande des Flughafens Friedrichshafens. Und dort sehen die Kinder fast täglich den 60 Meter langen Zeppelin auf- und absteigen. Doch selbst wenn ein großer Düsenjet auf die Startbahn rollt, sprechen manche von ihnen vom Zeppelin. Übergeneralisierung nennt der Lehr- und Lernforscher Henrik Saalbach den Vorgang, wenn Kinder ein Wort, das sie gelernt haben, als eine Art Oberbegriff verwenden: Wie der Hund bei der Übergeneralisierung für Vierbeiner steht, so ist der Zeppelin im Sprachschatz der Kinder das Wort für alles, was aussieht wie eine längliche Metallröhre und fliegt.

    "Genau! Übergeneralisierung heißt, um beim Beispiel Hund zu bleiben: Das Kind hat ‚Hund’ gelernt und verknüpft das vielleicht mit dem Merkmal für Beine und Fell und überträgt das dann auf die Tiere, die die gleichen Merkmale haben. Erst später wird es spezifische Merkmale erkennen, die dann wirklich stärker zur Justierung führen. Aber am Anfang sozusagen ist das eine sehr breite Verwendung."

    Doch auch das Gegenteil ist möglich - die so genannte Untergeneralisierung. In diesem Fall lernen die Kinder ein Wort, dessen Bedeutung aber viel umfassender ist als das, was sie damit in ihrer Vorstellungswelt assoziieren.

    "Wenn man zum Beispiel als Kategorie das Wort 'Vögel' nennt. Dann ist es gut möglich, dass Kinder sagen: Vögel - das ist gleichbedeutend mit dem Merkmal 'Hat Flügel und fliegt auch'. Und dann fallen beispielsweise der Pinguin und der Strauß nicht da rein."

    Nach den Beobachtungen der Lernforscher aus Zürich dauert es viel länger als bislang angenommen, bis die Kinder tatsächlich den Wörtern, die sie sprechen, auch die gleichen Bedeutungen wie die Erwachsenen zuordnen, in der Regel bis in die erste und zweite Schulklasse. Warum aber brauchen Kinder dafür so lange? Die erste Vermutung der Schweizer Experten ging dahin, dass Eltern mit ihren kleinen Töchtern und Söhnen häufig in einer vereinfachten Kindersprache reden - und damit den Kindern gar keine Möglichkeit geben, die Begriffe sauber voneinander abzugrenzen. Diese Annahme hat sich aber, so Henrik Saalbach, nicht bestätigt. In einem Experiment mussten Mütter ihren Kindern einfache Handlungen erklären, die sie zuvor auf kleinen Videofilmen gesehen haben.

    "Und zwar haben wir da Mütter mit ihren Kindern eingeladen, zweijährige und fünfjährige Kinder. Und dann haben wir die Mütter gebeten, diese Videos ihren Kindern zu erklären und zu sagen: Welche Wörter verwenden sie, um diese Handlung zu erklären? Und unsere Annahme war, dass sie dann einfach ein Verb, einfach so ein allgemeines Verb, verwenden, für alle möglichen Handlungen erklären. Dem war aber tatsächlich nicht so. Sie haben eben ganz genau, wie alle Erwachsene ohne Kinder, das adäquate Verb verwendet. Also daran kann es nicht liegen."

    An was aber dann? Warum braucht es Jahre, bis Kinder Wörtern die richtige Bedeutung zuordnen? Dies liege, so Henrik Saalbach, am Prozess des Spracherwerbes an sich: Je mehr Wörter ein Kind lernt, desto drängender wird der Zwang, diese Wörter auch bedeutungsmäßig voneinander abzugrenzen.

    "Es ist so zu sehen, dass das einfach ein hochkomplexer Prozess ist, weil erstens verfügen die Kinder nicht über das große Vokabular. Und mit jedem neu gelernten Wort, das sozusagen eine Beziehung hat zum Beispiel wie 'Tragen, halten', da ändert sich dieser ganze Bereich, dann wird die Bedeutung aller Verben in diesem inhaltlichen Bereich neu justiert. Und sofort wird die Bedeutung der Wörter neu verschoben."

    Mit einem Feldversuch haben die Züricher Experten diesen Fokussierungs- und Abgrenzungsprozess erforscht. Dabei wurden den Kindern Videos mit kleinen Spielszenen gezeigt. Die Kinder mussten beschreiben, was in diesen Szenen geschieht. Wichtig dabei: Der Feldversuch wurde in China durchgeführt. Denn die chinesische Sprache enthalte, so Henrik Saalbach, von ihrer Struktur her wesentlich mehr Bedeutungsabstufungen als die europäischen Sprachen:

    "Also wir haben im Chinesischen die Wörter für 'tragen' und 'halten' untersucht. Im Deutschen oder Englischen gibt es nur zwei Wörter dafür, eben 'tragen' oder 'halten'. Eines ist dynamisch, das andere statisch. Aber im Chinesischen gibt es eben mehr als 20 davon. Und die richten sich danach, wie man ein Objekt zusammenträgt oder hält, ob auf dem Kopf, auf dem Rücken, unterm Arm, in der Hand et cetera. Und das ist alles bedeutungsentscheidend. Und dann haben wir einfach Videos gedreht mit typischen Handlungen, die jeweils für eines dieser Verben standen. Und dann haben wir das einfach gezeigt, den Erwachsenen gezeigt, den Kindern gezeigt. Und so haben wir geschaut, wie das übereinstimmt miteinander."

    Die Erwachsenen nutzten bei der Beschreibung der Szenen stets das dazu passende Verb, die Kinder dagegen brachten die 20 verschiedenen Verben kunterbunt durcheinander. Je jünger die Kinder, desto häufiger die Verwendung eines nicht pass-genauen Verbes. Ähnliche Versuche unternahmen die Züricher Forscher auch mit Videos, mit denen Substantive abgefragt wurden. Und so kamen sie allmählich darauf, wie lange der Prozess dauert, bis Kinder den Wörtern, die sie verwenden, die richtige Bedeutung zuordnen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die frühkindliche Erziehung, zuhause im Elternhaus, ebenso wie später im Kindergarten.

    "Das wäre eine praktische Implikation: Wenn Eltern ihre Kinder beim Sprechen lernen unterstützen möchten, wäre es sicher nicht schlecht, dann auch mal zwei relativ ähnliche Wörter gegeneinander zu kontrastieren, zu fragen: Was ist denn jetzt der Unterschied? Was sind die Gemeinsamkeiten? Um sozusagen die Kinder bezüglich der Grenze zwischen beiden Wörtern zu sensibilisieren."

    Genau darauf sollten die Eltern, so Henrik Saalbach, viel häufiger als gemeinhin üblich achten - und das über Jahre hinweg. Denn der Prozess der Sprachfokussierung hält bis ins Grundschulalter an, hat Henrik Saalbach herausgefunden. Ihm und dem Züricher Expertenteam geht es deshalb darum,

    "zu zeigen, dass dieser Sprachlernprozess nicht irgendwann im Kleinkindalter aufhört. Diese Annahme trifft man ja schon noch häufig an, dass man sagt: Okay, die ersten drei oder vier Jahre meinetwegen entscheidend beim Sprache lernen. Das geht weiter, das geht weit in die Schulzeit hinein. Und das ist ein wichtiger Befund. Und das zeigt auch, dass Eltern und Lehrer damit umgehen müssen und auch Unterstützungsangebote machen können, die Kinder dabei zu unterstützen, die Wortbedeutungen voneinander abzugrenzen."

    Ein Prozess, der streng genommen bis ins Erwachsenenalter anhält:

    "Es gibt ja dann auch wissenschaftliche Begriffe in der späteren Schullaufbahn. Wenn wir beispielsweise von Kraft sprechen, von Arbeit sprechen, von Energie - das sagt sich einfach her, wird aber vielfach in einem falschen Kontext verwendet. Der Gebrauch dieser Wörter heißt noch nicht, dass sie wirklich durchdrungen sind, verstanden sind. Auch hier bietet es sich wirklich an, sich bezüglich der richtigen Definition zu sensibilisieren."