Archiv


"Alles ist schief hier"

Eisenbahnwaggons aus Holz hängen in vier bis sechs Meter Höhe kreuz und quer in den Bäumen: Wer im Baumhotel in Hollenbek übernachten will muss schwindelfrei sein. Doch die schiefen und krummen Baumbehausungen haben so einiges zu bieten, was man erst auf den zweiten Blick entdeckt.

Von Martin Koch |
    "Alles schief. Und man muss sich festhalten, weil alles schief ist. Und dann ist doch wieder alles gerade. Auf allem, wo man draufsteht, ist man gerade, aber die Wände sind schief."

    Frauke Moritz aus dem ostwestfälischen Spenge ist seit ein paar Stunden im Baumhotel in Hollenbek - und noch immer dabei, sich mit der außergewöhnlichen Architektur ihrer Unterkunft anzufreunden: Sie wird in einem der drei Eisenbahnwaggons aus Holz übernachten, die in vier bis sechs Meter Höhe kreuz und quer in den Bäumen hängen. Auf dem stillgelegten Bahnhofsgelände, umgeben von Wiesen und Ackerland, sind sie ein bizarrer Anblick. Der einzige Weg zu den fünf Meter langen Kabinen führt über steile Holzplanken und Stiegen. Da müssen die Gäste schon schwindelfrei sein - aber die Konstruktion erfüllt alle Sicherheitsstandards, beruhigt Hotelbetreiber Oliver Victor:

    "Das ganze Baumhaus ist aus sehr stabilen Hölzern gebaut, aus Eiche und aus Robinie, das ist eine Akazienart, längere Standzeiten als Eiche, ist aber Krummholz, deshalb sieht alles so skurril aus, weil das alles so krumm ist. Und durch dieses schwere Holz ist das alles auch ein ziemlich schwerer Klopper: Jedes der drei Baumhaus-Appartments wiegt 5,5 Tonnen."

    Und bietet - verteilt auf zwei Ebenen - knapp 30 Quadratmeter Wohnfläche: Esstisch, Stühle und Betten sowie Dusche und WC - insgesamt können hier zwölf Personen übernachten. Die Höhe der Baukosten verrät Oliver Victor nicht - nur dass er für das Geld auch ein Einfamilienhaus bekommen hätte. Das windschiefe Baumhotel mit seinen nachgebauten Holzwaggons ist aber mehr als eine skurrile Herberge. Die Idee geht auf eine Katastrophe Ende des Zweiten Weltkriegs hier am Bahnhof Hollenbek zurück. Im Februar 1945 bombardierten englische und amerikanische Kampfflugzeuge einen Güterzug, der Eisen und Holz geladen hatte - und unter Planen versteckt mindestens zehn Raketensprengköpfe für Hitlers sogenannte Wunderwaffe V2. Die Explosion war gigantisch:

    "Das war dann ein Loch so 150 Meter lang, 20 Meter breit und zwölf Meter tief. Die Lok, die den Zug gezogen hat, der Kessel mit der Feuerkiste, zusammen 90 Tonnen schwer, die ist 600 Meter weiter Richtung Dorf wieder runtergekommen. Schienenstücke sind durch die Dächer der Häuser geflogen."

    Martin Flint war damals fünf Jahre alt und lebte als Sohn des Stationsvorstehers im Bahnhofsgebäude. Heute wohnt er wieder dort: In den 70er Jahren kaufte er der Bahn sein Elternhaus ab. Die Verbindung zwischen dem Baumhotel und dem Unglück von 1945, bei dem 20 Soldaten ums Leben kamen, findet er nicht problematisch - im Gegenteil:

    "Erstens wird dadurch immer im Kopf dran gedacht: Da ist was explodiert - Krieg - Krieg ist nicht gut. Zum andern eine originelle Sache, wo man abenteuermäßig sich verhalten, seine Freizeit verbringen kann."

    Nicht nur die Lage in den Baumwipfeln, auch die Innenausstattung soll die Folgen der Explosion simulieren. Birgitta Brunner aus Hornbek ist besonders von dem Badezimmer in ihrem Abteil beeindruckt:

    "Dass es mit kleinen Puzzlefliesen gefliest ist, aber durchaus gesprengt aussieht, als wäre es in die Luft gegangen, das fand ich ganz toll."

    Ihre Freundin Elke Thomasberger aus Berlin staunt über die optische Täuschung in der Nasszelle:

    "Dass das Wasser abfließt zu einer Seite, die eigentlich höher ist als die andere. Es ist mir unverständlich, wie das Wasser den Weg findet in dieses Abflussrohr."

    Und Ehemann Burkhard Peters ergänzt:

    "Ich bewundere die handwerkliche Präzision, weil ja nichts im Lot gebaut werden kann. Alles muss schief und schräg konzipiert sein und trotzdem nutzbar sein, und das ist hervorragend gelungen hier."

    Gebaut wurde die Anlage von der Spezialfirma "Künstlerinsel Einsiedel" aus der Nähe von Dresden. Sie hat schon in ganz Europa ausgefallene Holzkonstruktionen, Erlebnisspielplätze und Baumhäuser errichtet.

    Das Baumhotel in Hollenbek ist Teil der "Erlebnisbahn Ratzeburg" von Oliver Victor: Vor zehn Jahren hängte der 42-Jährige seinen Job als Softwareentwickler an den Nagel, pachtete einen Teil des Ratzeburger Bahnhofs und kaufte dazu noch die stillgelegten Stationen Schmilau und Hollenbek. Fünfzig Waggons stehen mittlerweile an den beiden Standorten und sind Woche für Woche Anziehungspunkt für Hunderte von Tagestouristen. Im Baumhotel übernachten vorwiegend Teilnehmer des sogenannten "Lauenburgischen Fünfkampfs": eine zweitägige Zeitreise durch die Geschichte der Fortbewegung - mit Null Emissionen:

    "Man fährt am besten mit der Bahn nach Ratzeburg und lässt sich da aus dem Zug abholen, und dann geht das auf ganz vielen verschiedenen Verkehrsmitteln bis hier nach Hollenbek: von altertümlichen englischen Hochräder, bis hin zu Draisinen, aber auch Kanu, Inlinern ist dabei. Also eine bunte Mixtur aus muskelkraftbetriebenen Verkehrsmitteln."

    Nach der Nacht im schrägen Hotel gibt es dann ein Frühstück in vier Meter Höhe auf der Aussichtsplattform. Während in einiger Entfernung ein Anwohner Rasen mäht, zieht Birgitta Brunner bei Brötchen, Aufschnitt und gekochten Eiern Bilanz:

    "Erst war ich skeptisch, das Bett musste schief sein, war es aber nicht. Wir haben klasse geschlafen, ein paar Insekten schwirrten uns um die Nase, aber ich find das völlig okay. Und dann morgens rauszugucken in die freie Landschaft und hier jetzt im Freien zu frühstücken, das ist toll! Ein richtig kleiner Kurzurlaub, ein Abtauchen in eine andere Welt!"

    Weitere Infos im Internet:
    www.erlebnisbahn-ratzeburg.de