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Als Italien ein Staat wurde

Auch Italien feiert in diesem Jahr eine Art "Wiedervereinigung": Vor 150 Jahren erkämpfte der Nationalheld Giuseppe Garibaldi den italienischen Einheitsstaat. Diese nationale Wiedergeburt, das Risorgimento, inspirierte auch die Künstler, wie eine große Ausstellung im Scuderie del Quirinale zeigt.

Von Thomas Migge |
    Sie stürmen vorwärts: fünf Bersaglieri-Soldaten pro Reihe mit den für sie typischen schwarzen Federhüten. Mit Gewehrbajonetten in der Hand. Sie laufen über eine Straße aus festgetretener Erde. Sie laufen schnell, und der Staub wirbelt auf. Ein Bersagliero mit einem Säbel in der Hand ist der Hauptmann. Er feuert seine Männer an. Gleich in der ersten Reihe fällt ein Soldat. Der mit der Trompete in der Hand. Man spürt: Er konnte gerade noch die Fanfare zum Angriff blasen, bevor ihn die tödliche Kugel traf.

    Das 2,90 Meter mal 4,70 Meter große Ölgemälde "Bersaglieri bei der Eroberung der Porta Pia" von 1871, ein Werk von Michele Cammarano, scheint durch seine Bewegungsdynamik den Mythos der Schnelligkeit des rund 30 Jahre später entstehenden Futurismus vorwegzunehmen. Seine Bedeutung aber erhält es vor allem durch sein Motiv, denn es beschreibt nicht weniger als die Gründung des italienischen Nationalstaates.

    Die Eroberung der Porta Pia durch die Soldaten des italienischen Königs bedeutete das Ende des kirchlichen Territorialstaats und die Einnahme Roms. Rom wurde zur Hauptstadt des geeinten Italiens. Michele Cammarano gehört zu jenen Malern des Risorgimento, die die Dynamik dieses politischen Schaffungsprozesses künstlerisch umsetzten. Sie wollten den Kampf um die Staatseinigung, das politische Ziel der Italiener seit Anfang des 19. Jahrhunderts, auf neue Weise darstellen: nicht in Form der üblichen, eher "dekorativen" Schlachtenbilder.

    Die Werke dieser neuen Malergeneration - neben Cammarano waren das Gerolamo Induno, Eleuterio Pagliano und andere - unterschieden sich von ihren Zeitgenossen durch die Darstellung von Szenen mit einfachen Soldaten, mit ungemein realistisch wiedergegebenen Verletzten und Toten, mit der Wiedergabe von ärztlichen Helfern auf Schlachtfeldern. Generäle und der König kommen auf diesen Bildern eher am Rande vor. Das Risorgimento wird von diesen Künstlern als Volksbefreiungsbewegung gezeigt, bei der König, Generalität und das Volk an einem Strang ziehen, um die lang erträumte politische Einheit zu realisieren. "Soldaten-Maler" nennt man sie; fast alle haben auch persönlich an vorderster Front mit Waffen gekämpft. Eine künstlerische Bewegung, die der italienischen Kunstszene, dominiert vom statisch anmutenden akademischen Stil, einen entscheidenden Ruck versetzte.

    Der aus diesen Erfahrungen entstandene Malstil gab der italienischen Malerei - die, anders als in Frankreich, bis auf einige wenige Ausnahmen nicht dem Trend zu Impressionismus und Expressionismus folgte -, eine neue Richtung: Der Realismus war geboren. Die Menschen auf den Bildern der "Soldaten-Maler" wirken echt, wie aus Fleisch und Blut. Wie zum Beispiel auf einem berühmten Gemälde von Silvestro Lega aus dem Jahr 1861: Giuseppe Garibaldi, der Held der Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft, wird nachdenklich und gar nicht heldisch gezeigt. Garibaldi ist auf diesem Porträt keine entrückt wirkende Ikone des politischen Nationalismus.
    Die Ausstellung in den römischen Scuderien wurde im Rahmen des 150. Jubiläums des italienischen Einheitsstaats organisiert. Ein von der separatistischen Regierungspartei Lega Nord heftig kritisiertes Jubiläum, fordert sie doch weitreichende Autonomierechte für den von ihr regierenden Norden.

    Besonders radikale Anhänger dieser Partei drohen mit Anschlägen auf die Ausstellung. Die Folge: Die Bilder müssen rund um die Uhr bewacht werden. Man fürchtet sich vor Attentätern aus Norditalien. Besucher werden, wie bei interkontinentalen Flügen, gründlich abgetastet.