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Als wir Waisen waren

Welchen Sinn hat es, sich allzusehr darüber zu grämen, was man hätte tun oder nicht tun können, damit das Leben nicht außer Kontrolle gerät? Diesen Gedanken, diese Frage formuliert der englische Butler Stevens am Ende eines Romans, der seine Lebensgeschichte, seine berufliche Karriere und von der Epoche, in der diese stattfanden, erzählt. "The Remains of the day" - Was vom Tage übrigblieb, heißt das Buch, es machte seinen Autor weltberühmt. Im Wortlaut fast identisch, dieses Mal hieß es "what indeed is the point in worrying so much" - konnte man die Reflexion in Kazuo Ishiguros nächstem, 1997 auf deutsch veröffentlichten Roman "Die Ungetrösteten" finden. Jetzt war es der Pianist Ryder, dem der Satz in den Mund gelegt wurde, und wie bei seinem Vorgänger, dem Butler Stevens, hat die Frage nach der Sinnlosigkeit der Selbstbetrachtung eine bestimmte Funktion. Sie soll der Beruhigung dienen, mit ihr soll die Erkenntnis bekämpft werden, daß das eigene Leben ein Fehlschlag gewesen ist, daß genau jene Entscheidungen das Schicksal bestimmten, die eben NICHT hätten getroffen werden sollen. Es ist der Versuch, sich selbst eine Art Absolution zu erteilen, eine fast heroische Aktion, die eigene Würde zu bewahren, das Scheitern des selbstgesetzten Lebensplans in eine Philosophie zu bringen, die der offenkundigen Niederlage noch Format abringt. Im nun neuesten Werk des Briten Kazuo Ishiguro wird die Frage "Was war richtig, was falsch?" nicht explizit gestellt, sie kreist um den ganzen Text, sie steht - man stellt es erschrocken am Schluß fest - zwischen allen Zeilen. Denn es gibt noch Schrecklicheres, als zu erkennen, daß das Leben aufgrund von Fehlentscheidungen irgendwie schiefgegangen ist, daß man es selbst verbockt hat. Furchtbarer ist die Gewißheit, daß dies auf Kosten anderer geschehen ist, daß man achtlos dahingelebt hat und gar nicht wußte, wie groß die Opfer waren, die man dritten auferlegt hat. Und wie schlimm muß das ausgerechnet für einen Detektiv sein, einen Menschen mit kriminalistischem Feingefühl und großem Spürsinn für menschliche Schwächen, wenn er feststellt, daß sein Leben auf einem immensen Irrtum basiert, einer grandiosen Fehleinschätzung, ja sogar einem grausamen Verbrechen, das niemand sühnen kann außer er selbst. Und irgendwann ist es dafür zu spät. So heißt es im Text:

Joachim Scholl |
    "Es war im Sommer 1923, kurz nach meinem Abschluß in Cambridge, als ich entschied, meine Zukunft liege in der Hauptstadt, auch wenn meine Tante wünschte, daß ich nach Shropshire zurückkehrte. Und so mietete ich eine kleine Wohnung in den Bedford Gardens 14b in Kensington. Heute habe ich diese Zeit als meinen schönsten Sommer in Erinnerung. Nach Jahren, die ich umgeben von Kameraden verbracht hatte, in der Schule und in Cambridge, genoß ich es sehr, allein zu leben. Ich erfreute mich an den Londoner Parks, an der Stille des Leseraums im British Museum; ich gönnte mir das Vergnügen, ganze Nachmittage lang durch die Straßen von Kensington zu streifen und Zukunftspläne zu schmieden, wobei ich gelegentlich stehen blieb, voll Bewunderung, daß man hier in England, mitten in dieser großen Stadt, Kletterpflanzen und Efeu an den Fassaden eleganter Häuser emporranken sah."

    So beschaulich beginnt Kazuo lshiguros neuer Roman, und wer den Autor nicht kennt, wird kaum vermuten, daß sich hinter dieser außerordentlich gepflegt-britischen Diktion ein Abgrund auftut, in dem in diesem Fall mehr verschwindet als der Lebensweg eines Butlers oder die Karriere eines Star-Pianisten. Christopher Banks heißt der aktuelle Held und Erzähler. Er ist im Großbritannien der dreißiger Jahre ein Meisterdetektiv, ein gesuchter und umschwärmter Mann, auch weil er den englischen gesellschaftlichen Konventionen überaus entspricht: er ist höflich, zurückhaltend, sicher auf dem glatten Parkett der feinen Gesellschaft, ein ehrenwerter junger Mann, den dazu noch ein vornehmer Hauch von Einsamkeit und Genie umweht. Christopher Banks ist ein Waisenkind. Mit elf Jahren kehrte er aus Shanghai nach England zurück. In China hatte er mit seinen Eltern glücklich gelebt, der Vater war bei einer britischen Handelsfirma angestellt. Auf mysteriöse Weise waren er und bald darauf auch Christophers Mutter verschwunden, scheinbar eine Entführung, wie sie oftmals üblich war in jener Zeit. Doch nie verlangte jemand Lösegeld, es gab kein Lebenszeichen von beiden. Bei Verwandten wurde Christopher untergebracht, ging zubar Schule, zur Universität. Schon als kleiner Junge wollte Christopher Detektiv werden - um später die Eltern wiederzufinden. Ein kindischer Wunsch, den der heranwachsende Junge auch wieder zu vergessen scheint, doch an sein Trauma wird er als Waisenkind nur zu oft erinnert. Im Text heißt es:

    "Selbst heute kann ich mich, wenn ich einen Moment die Augen schließe, mit Leichtigkeit in die Situation an diesem strahlenden Morgen in Shanghai und in das Büro von Mr.Harold Anderson zurückversetzen, dem Vorgesetzten meines Vaters in dem großen Handelsunternehmen Morganbrook and Byatt. Ich entsinne mich auch, daß ich auf einem Stuhl mitten im Raum saß, während rings um mich ernste, sorgenvolle Gespräche geführt wurden. Die meisten dieser Erwachsenen berieten sich im Stehen; einige gingen zu den Fenstern hinüber und senkten die Stimme, wenn sie einen bestimmten Punkt besprachen. Mr.Anderson stand vor mir und sagte: "Also Christopher, es ist alles entschieden. Dies ist Colonel Chamberlain. Er hat sich liebenswürdigerweise einverstanden erklärt, dich sicher nach England zu bringen. In diesem Augenblick legte sich eine Stille über den Raum. Zum ersten Mal fiel mein Blick auf Colonel Chamberlain. Er kam langsam auf mich zu, beugte sich herab, um mir ins Gesicht sehen zu können und streckte mir seine Hand entgegen. "Armer Kerl. Erst dein Vater. Nun deine Mutter. Du mußt dich ja fühlen, als bräche die ganze Welt um dich herum zusammen. Aber morgen fahren wir beide nach England. Deine Tante erwartet dich dort. Also sei tapfer. Bald wird es dir besser gehen." Eine Weile war ich unfähig, etwas zu sagen. Schließlich sagte ich: "Das ist sehr nett von Ihnen, Sir. Ich bin Ihnen für Ihr Angebot sehr dankbar, und ich hoffe, Sie finden mich nicht unhöflich. Doch wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, denke ich, ich sollte gerade jetzt nicht nach England abreisen." Als der Colonel nicht sofort antwortete, fuhr ich fort: "Denn sehen Sie, 'Sir, die Detektive bemühen sich sehr, meine Mutter und meinen Vater zu finden. Und es sind die allerbesten Detektive von Shanghai. Ich glaube, sie werden meine Eltern bestimmt sehr bald finden."

    Natürlich nützt dieser rührende Protest des Kindes nichts, Christopher wird nach England verfrachtet. Über 20 Jahre wird es dauern, bis er nach Shanghai zurückkehrt. Nicht nur sein beruflicher und sozialer Aufstieg, sein Renommee machen schließlich diese Reise zu einem vielbeachteten Ereignis, auch ist die Zeitgeschichte in ein so kritisches Stadium getreten, daß man den Einsatz solch mutiger wie ehrenwerter Männer wie Christopher als allgemeine, überindividuelle Rettungsaktion auffaßt. Denn es ist das Jahr 1937, die Japaner haben China überfallen, gräßliche Massaker und Greueltaten wie in Nanking haben stattgefunden. Auch in Shanghai wird gekämpft, und die stattliche internationale Gemeinde, die dort lebt, macht sich größte und berechtigte Sorgen um ihre Zukunft. Christopher gerät in diese Wirren und muß erleben, wie all sein akkurates Können, sein Engagement und die strenge Rationalität, für die er berühmt ist, im KriegsChaos von Grausamkeit und sich auflösenden Werten keine Rolle mehr spielen, er selbst zum Spielball von Kräften wird, die er nicht mehr kontrollieren kann. Das Geheimnis vom Verschwinden seiner Eltern, diesen größten "Fall", der ein Höhepunkt seines Lebens sein soll, wird Christopher selbst nicht aufklären. Aber er wird von den zynischen Protagonisten des Verbrechens mit der Wahrheit konfrontiert, und diese Wahrheit läßt ihm sein ganzes bisheriges Leben wie eine Farce erscheinen. Ein früherer Freund der Familie, den Christopher schon zuvor verdächtigt, der geheime Drahtzieher zu sein, enthüllt dem entsetzen Detektiv Dinge, die dieser kaum verkraften kann:

    "Ich hatte mir bereits die Ohren zugehalten, doch nun schrie ich: "Genug! Warum quälst du mich so?" "Warum?" Seine Stimme klang zornig. "Warum? Weil ich will, daß du die Wahrheit erfährst! All diese Jahre hast du mich für eine verachtenswerte Kreatur gehalten. Vielleicht bin ich das, aber diese Welt macht mich dazu. Ich habe nie vorgehabt, so zu leben. Ich hatte vor, Gutes auf dieser Welt zu tun. Auf meine Art habe ich früher mutige Entscheidungen getroffen. Und sieh mich heute an. Du verachtest mich. Du hast mich die ganzen Jahre verachtet, du, der mir nahe standst wie ein Sohn, und du verachtest mich noch immer. Aber siehst du jetzt, wie die Welt wirklich ist? Siehst du, was dir dein angenehmes Leben in England ermöglicht hat? Wie konntest du ein berühmter Detektiv werden? Ein Detektiv! Wem soll das helfen? Gestohlene Juwelen, Adlige, die wegen ihrer Erbschaft umgebracht werden. Glaubst du, das ist alles, worum man kämpfen kann? Deine Mutter wollte, daß du für immer in deiner verzauberten Welt lebst. Doch das ist unmöglich. Am Ende muß sie zusammenstürzen. Es ist ein Wunder, daß sie für dich so lange bestehen konnte."

    "Am Ende muß sie zusammenstürzen" - der Zusammenbruch, die Erkenntnis der Niederlage, der Blick in die Brüchigkeit des Lebens- das sind die zentralen Erfahrungen, die alle Roman-Figuren Ishiguros durchleiden, und der Schock, den diese Einsicht verursacht, ist umso größer, als dieser Zerfall in einer Welt passiert, die von ihrem äußeren Gepräge vollständig auf etablierten Regeln, auf Ordnung, Selbstbeherrschung und Kontrolle der Emotionen gründet. Wir sind im alten England. Oder in Japan.- Es ist an dieser Stelle wichtig, über Kazuo Ishiguros eigene Biographie zu sprechen. Denn die Resonanz auf seine ersten Romane ist weitgehend von seiner Herkunft dominiert, was wiederum den Autor in der Wahl seiner weiteren literarischen Themen stark beeinflußt hat. Kazuo Ishiguro wurde 1954 in Nagasaki geboren, mit fünf Jahren kam er nach England. Ishiguro wurde zum Engländer, sogar ein englischer Rock-Musiker mit Profi-Ambitionen, es vergingen mehr als 35 Jahre, bis er Japan wiedersah. Nach seinen ersten beiden Romanen, die jeweils in seinem Heimatland spielten, hatte Ishiguro den Ruf des sogenannten "ethnischen" Schriftstellers bereits weg: was Salman Rushdie für Indien, war Kazuo Ishiguor für Japan. Fortan war der Autor als Experte für japanische Lebensweise und Geschichte gefragt: "Each year in August they asked me about the atomic bomb" - jedes Jahr - so seine Klage - habe man ihn in schöner Regelmäßigkeit im August zum Atombombenabwurf 1945 befragt. Mit Absicht und als Reaktion auf diese ethnische Festlegung suchte sich Ishiguro für seine nächste Arbeit ein urbritisches Setting. Mit Darlington Hall und dem Butler Stevens aus "Was vom Tage übrigblieb" fand er es und mußte verblüfft feststellen, daß die Kritik den literarischen Erfolg des Buches wiederum eng mit dem Japaner Ishiguro verknüpfte. Denn, so lautete die Überlegung, ist nicht gerade ein Japaner, vor dem kulturellen Hintergrund der Samutai-Tradition mit ihrer Hingabe und Bereitschaft zu Disziplin und Selbstaufopferung, am ehesten und idealerweise in der Lage, ein so komplexes Klassen-Stands-Phänomen wie das englische Butler-Wesen adäquat zu durchleuchten und darzustellen? Kontrolle, Zucht, das soziale Korsett, in dem diese Mechanismen entstehen und die daraus resultierenden Beschädigungen und Konflikte - das sind in der Tat Ishiguros wesentliche Themen, aber es ist ein Mißverständnis, diese im Sinne nationaler Eigenheiten zu interpretieren, es sind übergeordnete literarisch universale Konstanten in Ishiguros Werk. Vor allem nach seinem letzten Roman, dem monumentalen 700-Epos "Die Ungetrösteten" hat sich diese Einschätzung auch durchgesetzt - das überaus anspruchsvolle Werk wurde mit seiner ästhetisch verblüffenden Struktur zu Recht mit Kafkas realistischer Phantastik verglichen, es gilt heute schon als Meilenstein der modernen englischen Roman-Literatur. Der Weltruhm hatte jedoch mit "Was vom Tage übrigblieb" eingesetzt. Das mit dem Booker-Preis gekrönte Buch hat mittlerweile eine Auflage von weit über 1,5 Millionen Exemplaren allein in der anglophonen Weit, es folgten Übersetzung in 28 Sprachen und die gelungene, kongeniale Verfilmung durch James Ivory, mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in der Hauptrolle. Der Roman ist heute Schulstoff an den Graduate Schools - Kazuo lshiguro ist ein Klassiker geworden.

    Aber zurück zum Stichwort "Kontrolle". Auch in "Als wir Waisen waren" läßt sich Ishiguros fulminante Technik bewundern, mit der er eine Atmosphäre äußerster Selbstbeherrschung erzeugt und sie dann an einen kritischen Umschlagpunkt führt. Es sind im Text vor allem gesellschaftliche Anlässe, die Ishiguro dafür nutzt. Schon zu Beginn des Romans wird etwa ein Empfang zu Ehren eines hochangesehenen Politikers geschildert. Dieses "event", dem die Londoner High Society entgegenfiebert, ist der Gradmesser sozialer Akzeptanz: wer hier eingeladen ist, gehört dazu. Christopher hat es durch seine detektivischen Glanzleistungen auf die Gästeliste geschafft. Wer nicht daraufsteht, ist die Gesellschaftsdame Sarah Hemmings, ein stadtbekanntes - heute würde man sagen "party girl", das sich immer nur mit berühmten Menschen umgibt. Früher hatte sie Christopher keines Blickes gewürdigt, doch nun schmeißt sie sich schamlos an ihn heran, um ebenfalls bei dieser Feier dabei zu sein. Im Foyer des Luxus-Hotel, wo der Empfang stattfindet, fängt Sarah Christopher ab, sie hofft darauf, daß er sie quasi "reinschmuggelt" und es nicht wagt, sie abzuweisen. Christopher ist höflich, aber er läßt sie stehen undenkbar, dieses Ansinnen. Doch dann kommt es zu einer für alle furchtbar peinlichen Situation:

    "Ich war etwa eine Viertelstunde in dem Saal, als ich eine leichte Veränderung der Atmosphäre spürte. Ich schaute mich um und entnahm den Blicken und dem Gemurmel um mich herum, daß sich so etwas wie ein Aufruhr nahe der Tür, durch die wir gekommen waren, abspielte. Mein erster Impuls war, in den hinteren Teil des Saales zu flüchten. Doch es war, als zöge mich eine geheimnisvolle Kraft zurück zur Tür. Miß Hemmings hatte die Prozession der Gäste zum Stehen, die sich an dem Tisch ins Gästebuch eintrugen, zum Stehen gebracht. Sie schrie zwar nicht direkt, aber es schien ihr gleichgültig zu sein, wer sie hörte. Ich beobachtete, wie sie einen älteren Hotelangestellten abschüttelte, der sie zurückhalten wollte; sie lehnte sich dann über den Tisch, als wolle sie nur umso eindringlicher in die eisige Miene des Mannes starren, der noch wie zuvor dort saß, und sagte mit beinahe schluchzender Stimme: "Aber Sie machen sich keine Vorstellung! Ich MUSS ganz einfach da hinein, verstehen Sie das nicht? Viele meiner Freunde sind drin, ich GEHÖRE da hinein, wirklich! Oh, seien Sie doch vernünftig!" "Es tut mir wirklich leid, Miß...", setzte der Mann mit der eisigen Miene an. Doch Sarah Hemmings, der die Haare ins Gesicht gefallen waren, ließ ihn nicht ausreden. "Aber sehen Sie denn nicht, daß es ohnehin nur eine dumme Verwechslung ist? Mehr ist es nicht, nur eine dumme Verwechslung! Und deswegen sind Sie so garstig! Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!" Wir alle, die wir diese Szene miterlebten, schienen für einen Moment in frostiger Verlegenheit vereint. Doch dann gewann der Mann mit dem Bart seine Geistesgegenwart zurück. "Was ist geschehen?", fragte er beschwichtigend. "Sehr geehrte junge Lady, hat es einen Irrtum gegeben? Kommen Sie, wir werden sicherlich eine Lösung finden. Ich stehe zu ihrer Verfügung." Ich wäre noch geblieben, doch während dieses Wortwechsels hatte mich die Angst gepackt, Miß Hemmings könnte mich jeden Augenblick entdecken und anklägerisch in dieses unziemliche Spektakel hineinziehen. Die nächsten zwanzig Minuten etwa blieb ich in den Ecken des Ballsaals, die am weitesten von der Tür entfernt waren."

    Die Peinlichkeit des Faux-pas kann Christopher nicht ertragen. Dem Leser geht es ähnlich. Es ist Ishiguros - man könnte sagen - teuflich diskreter Stil, der uns in eine Stimmung versetzt, in der man wie die Romanfiguren auf den Tabubruch, jede Verletzung der Konvention hochsensibel reagiert. Man ist ähnlich unangenehm berührt, spürt die Bedeutung äußerlicher Formen, weil man ahnt, daß ohne sie das Chaos ausbricht. Das Problem der Gatecrasherin Hemmings wird nobel gelöst, sie darf am Ende rein, die Gesellschaft übersieht den Skandal. Doch nach und nach häufen sich im Roman diese Situationen und annoncieren ganz unauffällig den Prozeß der Auflösung, der allmählich alle Protagonisten ergreift. Jenen honorigen Politiker etwa, der gerade seinen Empfang hatte, wird Christopher später in Shanghai wiedertreffen. Dort hat man den erfahrenen Diplomaten entsandt, um die politisch angespannte Lage zu meistern. Christopher findet Sir Cecil Medhurst - so heißt er - resigniert und betrunken in chinesischen Spielhöllen, wo er sich ruiniert. Sarah Hemmings wird es am Ende nach Macao an die Seite eines französischen Playboys verschlagen. Das sind für Ishiguros sonstige Roman-Verhältnisse geradezu spektakulär dramatische Entwicklungen, denn bislang - in den früheren Büchern - hat er Untergang und Zerfall in sehr viel leiseren, manchmal fast gespenstisch vornehmen Tönen orchestriert. Kaum, daß in Ishiguros Romanen einmal die Stimme gehoben oder sogar geschrien oder gebrüllt wird, es fällt nie ein obszönes Wort - was übrigens Ishiguro von seinen zeitgenössischen, englischen Kollegen meilenweit entfernt. Umso größer ist dann der Schock, wenn die Verzweiflung sich doch artikuliert. Vorhin haben wir jene Text-Passage gehört, in der Christopher vom Schicksal seiner Eltern erfährt. Hier kann er nicht in die hinterste Ecke eines Saales entfliehen, hier muß er sich stellen, hier - schreit er! Das ist, gemessen an Christophers so sehr auf Ausgleich, Maß und Takt ausgerichtes Wesen, eine Ungeheuerlichkeit und der beklemmende Höhepunkt in diesem Roman, der so höflich-einfühlsam, so melancholisch und dann doch unvermittelt direkt und grausam vom menschlichen Drama erzählt, das - soweit entfernt auch das London und Shanghai von 1937 scheinen - unser eigenes ist. Jenes"unziemliche Spektakel" um Sarah Hemmings ist das Leben selbst. Am Ende - es sind viele Jahre vergangen - sitzt der alternde Detektiv wieder in London, er hat sich damit abfinden müssen, daß er im wichtigsten Fall seines Lebens versagte. Daß er es versucht hat, ist ihm zumindest ein kleiner Trost:

    "Vielleicht gibt es Menschen, die ungehindert von solchen Belangen durch ihr Leben gehen können. Aber von mir und meinesgleichen fordert das Schicksal, der Welt als Waisen gegenüberzutreten und viele Jahre dem Schatten der verschwundenen Eltern nachzujagen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als es zu versuchen und dem Ende unserer Mission entgegenzusehen, so gut wie wir es können, denn ehe wir sie nicht erfüllt haben, wird uns keine Ruhe vergönnt sein."

    In einem Interview mit der "International Herald Tribune" hat Kazuo Ishiguro vor einigen Jahren einem widerborstigen Journalisten zu erklären versucht, was es denn mit seinem Roman "Die Ungetrösteten" auf sich habe. Das sei doch alles sehr seltsam. Ishiguros Antwort enthielt sein ganzes literarisches Programm. Und man könnte es auch auf dem Klappentext zu "Als wir Waisen waren" abdrucken:

    "Viele von uns sind gezwungen, ihr Leben auf etwas zu gründen, was in seinem Wesen brüchig oder schon zerstört ist, etwas, das eigentlich repariert werden müßte, aber dazu ist es bereits zu spät. Und in gewissem Sinn ist alles, was man dann in seinem Leben auch tut, nur der Versuch, sich über diese Zerstörung irgendwie hinwegzutrösten."