Montag, 13. Mai 2024

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Alternative Theatermodelle
Doppelspitze statt Diktator

Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe oder ein Klima der Angst - so lauten nicht selten Vorwürfe, wenn es um die Leitung an Theaterhäusern geht. Führungsteams, in denen die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt wird, können dem entgegenwirken. In der Schweiz setzen viele Häuser schon länger auf das Modell.

Von Barbara Behrendt | 30.03.2021
Die Leitung des Schauspielhaus Zürich mit Sebastian von Blomberg (3.v.l.) und Nicolas Stemann (4.v.l.)
Gemeinsam stark und erfolgreich - die Leiter des Schauspielhauses in Zürich mit ihrem Team (Gina Folly / Schauspielhaus Zürich)
Wenn man mit den Leitenden der Schauspielsparte am Theater Basel verabredet ist, erscheinen gleich vier Menschen zum digitalen Gespräch: der Regisseur Antú Romero Nunes, der Schauspieler Jörg Pohl und die Dramaturginnen Anja Dirks und Inga Schonlau. Sie fallen sich ins Wort, aber ergänzen sich auch, bringen verschiedene Sichtweisen ein. So soll es sein. Was nicht heißt, dass alle alles gemeinsam entscheiden:
Nunes: "Wir haben zum Beispiel das Prinzip: Es werden alle gefragt, die Ahnung davon haben, und alle, die es betrifft."
Die vier sind im vergangenen Sommer in Basel angetreten, um anders Theater zu machen. Ihr Ensemble bezahlen sie paritätisch und nach Alter gestaffelt. Und wer sich in Entscheidungsprozesse einbringen will, kann das jederzeit tun.
Pohl: "Wir sind das angetreten nicht mit einem Sendungsbewusstsein, mit einem gesellschaftlichen oder institutionellen Veränderungswillen. Sondern um unsere eigenen Bedingungen zu verbessern, unter denen wir gearbeitet haben lange Zeit. Weil wir glauben, dass aus solchen veränderten Strukturen eine andere, womöglich bessere Kunst entsteht."

Demokratisch und erfolgreich

Niemand glaubt zu wissen, wie es funktioniert. Doch alle sind froh, dass die Verantwortung auf mehreren Schultern ruht – denn die Aufgaben der Intendanz sind zuletzt immer mehr geworden: Repräsentation, Kunstauftrag, Mitarbeiterführung, Zuschauerbindung, Administration, Spielplangestaltung. Demokratischer ist das Basler Modell allemal. Und künstlerisch erfolgreich, den Pressestimmen nach zu urteilen. Wieso auch nicht, fragt Anja Dirks:
Dirks: "Umgekehrt kann man ja auch sagen: Muss gute Kunst überhaupt für den Preis der Verknechtung gemacht werden? Ich glaube, da hat sich viel gewandelt, dass weniger Leute bereit sind, das mit sich machen zu lassen."

Weniger Angst und mehr Sicherheit

Auch das zweite große Schweizer Theater, das Schauspiel Zürich, wird nicht mehr von einer Person geleitet – sondern von einer männlichen Doppelspitze. Der Dramaturg Benjamin von Blomberg und der Regisseur Nicolas Stemann haben zudem acht Regisseurinnen für drei Jahre ans Haus gebunden, die ihren Lebensmittelpunkt nach Zürich verlegen mussten. Also: keine jetsettenden Künstler, die mal eben eine Inszenierung abwerfen, sondern acht, die Verantwortung fürs Programm übernehmen und ihre Schauspielteams mitgebracht haben. Für die bedeutet das: mehr Sicherheit und weniger Angst, dass der Vertrag nach einem Jahr nicht verlängert wird. Benjamin von Blomberg:
Blomberg: "Wir haben versucht, dass potentiell eine Kultur entsteht, von mehr Menschen, die man ansprechen kann. Ich glaube, ich mache meinen Job manchmal ganz gut, aber ich bin nicht für jeden der richtige Ansprechpartner. Und ich mache auch Fehler. Und da ist es total gut, dass es die Möglichkeit gibt, jemand anderen anzusprechen."
Auch die beiden Männer sind froh, nicht allein an der Spitze zu stehen:
Stemann: "Ich weiß gar nicht, ob wir schon viele Dinge bereut haben, seitdem wir dieses Amt angetreten sind. Dass wir zu zweit sind, gehört für mich jedenfalls auf gar keinen Fall dazu. Ich weiß gar nicht, wie man das alleine schaffen soll und trotzdem Künstler bleiben kann."
Letztlich, so Blomberg, gehe es aber um strukturelle Fragen, die eng mit der Politik verzahnt sind:
Blomberg: "Ich glaube, wir brauchen unbedingt auch die Politik, die das anerkennt, dass eine Institution versucht, sich auf den Weg zu machen und nicht nur darüber nachdenkt, dass die Auslastungszahlen stimmen."

Mitsprache und Fürsprache

In Deutschland muss man noch mit der Lupe nach Leitungsteams suchen. In Marburg gibt es eine Doppelspitze. Ungewöhnlich ist das Theaterhaus Jena. Hier hat die kollektive Leitung Tradition: Seit dreißig Jahren wählen die "Gesellschafter", zu denen 50 Prozent Mitarbeitende gehören, die Chefs – die Kulturpolitik braucht die Entscheidung nur noch abzunicken. Seit 2018 wird das Haus vom niederländischen Schauspielkollektiv "Wunderbaum" geführt:
Walter Bart: "Ich finde sehr oft, dass die Schauspieler zu wenig involviert sind. Wir haben zum Beispiel die Idee, dass niemand etwas spielen muss, was er nicht will. Denn wenn jemand etwas spielen muss, das er nicht will – ich glaube nicht daran, das kann nur scheitern..."
In Jena sind Experimente im Theater zudem kulturpolitisch erwünscht:
Heike Faude: "Das Theaterhaus hat ganz klar den Auftrag: Das ist der Haufen, der ausprobieren darf."

Bewegung und Erkenntnis

Frage an Marc Grandmontagne, den Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins: Warum gibt es nicht mehr Kollektive und Teams an der Theaterspitze?
Grandmontagne: "Es gibt natürlich eine Sehnsucht, dass einer oder eine verantwortlich ist, die man dann in die politische Haftung nehmen kann oder finanziell oder persönlich."
Es sei aber, so Grandmontagne, ein Erkenntnisprozess in Gang. In Zukunft werde es mehr geteilte Intendanzen geben. Das sei gut, aber es reiche nicht, die Spitzen auszutauschen – das ganze Theater müsse sich bewegen, Coachings, Weiterbildungen ermöglicht werden, wie das auch in der freien Wirtschaft der Fall ist.
Grandmontagne: "Da muss die Politik sich vielleicht einfach auch mehr trauen, von den bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten mehr Gebrauch zu machen. Weil das Theater eben auch ein Arbeitsort ist, nicht nur ein heiliger Ort der Kunst."
Ein Arbeitsort, der Kontrollmechanismen braucht, um Machtmissbrauch zu erschweren. Das Leitungsteam kann einer davon sein.