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Am Rande des Atomkriegs

Heute vor 25 Jahren wäre beinahe der Dritte Weltkrieg ausgebrochen: 1983 meldeten sowjetischen Satelliten den Abschuss von US-amerikanischen Atomraketen mit Ziel Russland. Nur weil der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow den Alarm als Fehlalarm einstufte und den Kreml nicht benachrichtigte, wurde eine fatale Kettenreaktion verhindert.

Von Ralf Geißler | 26.09.2008
    Es ist wenige Minuten nach Mitternacht am 26. September 1983, als die Warnlampen im Serpuchow-15-Bunker bei Moskau den Dritten Weltkrieg ankündigen. Oberstleutnant Stanislaw Petrow hat sich gerade einen Tee aufgebrüht und blickt ungläubig auf die Computeranzeige. Sie meldet den Abschuss einer Atomrakete an der amerikanischen Ostküste. Ziel: Sowjetunion.

    "Wir standen da wie im Schock", "

    erzählte Petrow 1998 der Zeitschrift Stern.

    " "Wir konnten es nicht glauben. Ich wusste, die Dinger fliegen 40 Minuten. Der Sowjetunion blieb eine halbe Stunde Zeit für den Gegenschlag. Und ich hatte fünf, höchstens zehn Minuten, um zu entscheiden, ob der Alarm echt ist."

    Petrow blickt wie gelähmt auf den Computer. Dann stuft er das Ereignis als Fehlalarm ein. Doch es dauert keine fünf Minuten, da meldet das System den Start von vier weiteren amerikanischen Raketen. Auch diesmal meldet Petrow den Alarm nicht an den Kreml weiter - entgegen aller Vorschriften. Doch er weiß, welche Kettenreaktion seine Meldung in Gang setzen könnte. Und er hält einen amerikanischen Angriff mit nur fünf Raketen für unwahrscheinlich. So verhindert Petrow womöglich den Dritten Weltkrieg. Denn die Stimmung zwischen Ost und West ist angespannt in jenen Tagen.

    Nur wenige Wochen zuvor hatte die Sowjetunion ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen. 269 Menschen kamen ums Leben. Auszug aus einem Rundfunkbericht:

    "Präsident Reagan brach heute Mittag seinen Urlaub ab, um wegen des Abschusses der koreanischen Zivilmaschine nach Washington zurückzukehren. Vor seinem Abflug fragte er: Was soll man von einer Regierung halten, die Frieden und weltweite Abrüstung propagiert und dann so gefühllos eine terroristische Tat begeht, in der Unschuldige ums Leben kommen?"

    Die Sowjetunion gab dagegen Reagan die Schuld. Das koreanische Flugzeug sei illegal in sowjetischen Luftraum eingedrungen und habe im Auftrag der US-Regierung Militärgelände ausspionieren sollen. Diese Sichtweise übernimmt auch der DDR-Rundfunk.

    "Es lag in der Absicht des Weißen Hauses, das politische Klima zu verschärfen. Denn man wollte ja unbedingt im gleichen Herbst die neuen Pershing-2-Rakten und die Cruise Missiles in Westeuropa stationieren. Die vorsätzliche Luftraumverletzung zielte auf eine Zuspitzung der internationalen Situation."

    Tatsächlich diskutiert die Nato 1983 die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westdeutschland. Ein Nato-Manöver unter dem Namen Able Archer steigert die Nervosität in Osteuropa zusätzlich. Die Militärs in Moskau halten einen amerikanischen Erstschlag durchaus für möglich. Und so ist auch Petrow angespannt, als er sich entschließt, den Alarm zu ignorieren.

    "Du kannst Dinge nicht innerhalb weniger Minuten überprüfen. Alles, was man tun kann, ist, sich auf seine Intuition zu verlassen. Ich hatte zwei Argumente. Erstens beginnen Angriffe in einem Krieg nicht nur von einer einzigen Raketenbasis aus. Zweitens hat ein Computer kein Gehirn. Es gibt vieles, was er irrtümlich für einen Raketenangriff halten könnte."

    Am Ende behält Petrow Recht. Der Alarm wurde von Sonnenreflexionen über der amerikanischen Küste ausgelöst. Wegen seiner Besonnenheit wird Petrow von Kollegen für eine Ehrung vorgeschlagen. Doch dann stoppen hohe Militärs diese Pläne. Erst 1998 erfährt der Rest der Welt durch die Autobiographie eines Generals von Petrows Nacht im Bunker. Daraufhin komponiert eine Hardrock-Band ein Lied zu seinen Ehren.

    2006 verleiht die Association of World Citizens Petrow einen Menschenrechtspreis im UNO-Hauptgebäude. Die russische Botschaft allerdings kritisiert die Ehrung und verteilt eine Stellungnahme.

    "Unter keinen Umständen hätte sich die Sowjetunion für einen nuklearen Gegenschlag entschieden auf der Basis von nur einer Quelle oder der Information von nur einem System. Selbst wenn ein einzelner Offizier einen nuklearen Angriff gemeldet hätte, wäre der Krieg nicht automatisch ausgebrochen."

    Doch am Jubel um Petrow ändert die Stellungnahme nichts. Im Herbst wird ein US-amerikanischer Dokumentarfilm über ihn erscheinen. Dem pensionierten Oberstleutnant ist der Trubel ganz Recht. Bis zu seiner Auszeichnung lebte er von einer kleinen Rente am Rand von Moskau und konnte sich noch nicht einmal einen Telefonanschluss leisten.