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"Am Strand der weiten Welt"

Emotionen tief hängen und persönlichen Fragen ausweichen: Das sind in England gültigen Gemütsgesetze. Auch in der Schweiz trifft das zu. Deswegen ist Zürich möglicherweise ein günstiger Aufführungsort für Simon Stephens "Am Strand der weiten Welt", dessen eigentlicher Mittelpunkt in der Trauer um ein verlorenes Kind liegt. Was jedoch in englischen Theatern für Publikum und Kritiker völlig überzeugend ist, muss es nicht unter Karin Beiers Regie in Zürich sein.

Von Cornelie Ueding |
    Eine gute Nachricht für alle, denen Fernseh-Familienserien zu zeitaufwendig sind: In Zürich gibt’s ab jetzt die Möglichkeit, den Stoff von, grob geschätzt, 100 Durchschnittsfolgen über durchschnittliche Gefühle durchschnittlicher Menschen in durchschnittlicher Art, auf zweieinhalb Stunden sozusagen "verdichtet", im theatralischen Schnellauf zu sehen. Da ist diese wunderbar lebensnahe "eh, Scheiß du, ich weiß auch nich"-Sprache, da sind die selten lebensnah flachen Figuren, die gleichen Problemkonserven und die gleichen halbherzigen Sehnsüchte.

    Alles "voll total", wie im richtigen Leben, täuschend ähnlich im Verhältnis 1:1 von der kongenialen Regisseurin Karin Beier auf die - Achtung: Kunst - karge Bühne von Florian Etti gesetzt: ein leerer Raum, ’ne Art Baustelle mit herunterhängenden Plastikbahnen vor einer Reihe dicker, offener Röhren, die als Flucht- und Gucklöcher den Spiel-Raum begrenzen. Und der ist mit wackeligen und bei Bedarf schwingenden, an Bausprieße erinnernden Stangen gegliedert. Ein veritabler Querschnitt aus "Lindenstraße", "Ich heirate eine Familie" oder Dutzenden anderer family Sitcoms , aber ohne Ambiente, ohne Mutter Beimer, ohne Gemütlichkeit – und, fast möchte man sagen leider, auch ohne den geringsten Schuss schriller "Klimbim"-Phantomscherze.

    Drei Generationen "ich-möchte-schon-hab-aber-nichts-gemacht"- Gewese unter einem Dach, in einem Stück: Peter und Alice, die sich nach 20 Jahren Ehe nicht mehr so recht aber irgendwie doch schon noch was, äh, lieben, und so. Sohn Alex, 18, der raus möchte, mit nassforsch-froher Freundin Sarah halt nach London, in die große Stadt, und dann, im falschen Augenblick, ’eh Mann, ich geh’-stammelnd und von Muttern bemuttert – geht.

    Opi, ziemlich versoffen, aber doch auch gutmütig, Omi noch ganz schick, aber frustriert und überhaupt. Denn es passiert ein Unglück, die Bühne ist dunkel, es dröhnt und quietscht – Sohn Christopher, 15, der rund um die Bühne ungeschickte Runden geradelt war, wird überfahren. Opi kommt mit Krebsverdacht in die Klinik, Mutter geht wieder arbeiten und verliebt sich fast in einen andern. In wen wohl? Richtig, es ist der Gentleman, der Christoph überfahren hatte, mit dem sie tanzt und - die Baustellen-Stangen sind längst weg - fröhlich tobend Fußball spielt, derweil der Häuser restaurierende Vati bei einer leider schwangeren Kundin, einer poetisch-schönen Seele, Trost sucht. Aber es passiert – gottlob - nichts, obwohl man schon möcht. Und am Ende bricht es ein wenig aus allen heraus und man schreit sich ein wenig an, heult sich eins und versöhnt sich ein wenig.

    Drei Generationen Wehleidigkeit und Halbherzigkeit treffen sich dann am Ende auch noch, halbwegs versöhnt, zum gemeinsamen Sonntags– nein, nicht -braten, sondern, leicht ironisiert: vor der Glotze. Regisseurin Karin Beier zeigt sich dem flachbrüstig pseudorealistischen Stoff auf schönem Niveau gewachsen und setzt das öde Potenzial mit langen Gängen, viel Gehopse im Wechsel mit Erstarrung um, so dass Öde durch Öde, Leid durch Leid übersichtlich, politisch korrekt und auf Anhieb für jeden begreifbar zur Darstellung kommt. Eine "Alles-wird-gut-Therapie": magst’n Bier – ach du, nee – muss weiter – ach was – also gut – danke – Prost – besser? – ja.

    Ob das die Vorboten einer angesagten neuen westlichen Harmlosigkeit sind, Werte, Familie und so weiter, die da trendsettend über den Kanal zu uns rüberschwappen? Fast wehmütig denkt man an Kroetz, Horvath, Bond, Turrini zurück, als solche Themen auch auf dem Theater noch eine politisch-soziale Dimension hatten. Und an Regisseure, die auch bei Unterhaltungsstücken, bei oberflächlich faselnden, für ihre Gefühle sprach-losen Figuren den Sub-Text ihrer inneren Not, ihrer Traumatisierungen entdeckten und mitspielen ließen, die sogar mit Humor eine Spannweite fühlbar machten zwischen lächerlichem, von außen gesehen komischem Verhalten – und innerer Bedrängnis.