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Am Tag, als der Kapitalismus zum Stillstand kam

Die Finanzkrise hat das wichtigste britische Theater erreicht: Am Royal National Theatre ist "The Power of Yes" zu sehen, ein Stück des Hausautors David Hare, dessen Werke gerne politisch werden. Nach dramatischen Aufarbeitungen des Irakkriegs und von New Labour nun also eine über den 15. September 2008, den Tag der Lehman-Pleite.

Von Matthias Thibaut | 07.10.2009
    Die Warnung kommt gleich im ersten Satz: Der Autor David Hare - gespielt von dem Schauspieler Anthony Calf und in einem Ensemble von Männern in dunklen Anzügen durch eine beige Jacke als Außenseiter markiert - steht vorne an der Bühne und sagt: "Dies ist kein Theaterstück, sondern eine Geschichte: die Geschichte, wie der Kapitalismus am 15. September 2008 - der Tag der Lehmann Pleite - kreischend zum Stillstand kam."

    Hare scheint sich nicht einmal sicher zu sein, ob es eine Geschichte ist. Wie soll man diese abstrakten Ereignisse greifbar machen, wie soll man strukturierte Schuldpapiere auf die Bühne bringen, fragt der Banker und Finanzjournalist David Marsh, auch eine Figur in dem Stück. In dieser ersten, fast lebhaftesten Szene debattiert der Autor kurz mit den Akteuren, in welche Gattung die Krise eigentlich gehört. Ein Historienspiel von Shakespeare, wo am Schluss lauter Leichen auf der Bühne liegen? Ein Drama - aber wer wären die Schurken und Helden? Eher wohl eine Komödie, schlägt ein Fernsehjournalist vor. Es war eine griechische Tragödie, meint der Bankmanager, der die altmodische Bankervernunft repräsentiert: Alles geht wie im Traum, dann kommen die Furien und rütteln alle aus dem Schlaf.

    Die Form des Stückes ist dann eigentlich eine Montage aus den Nachfragen, Interviews, Diskursen, die Autor David Hare mit Dutzenden von Akteuren geführt hat, die nun auf der Bühne stehen: Theater also als Journalismus.

    Die erste Hälfte rekonstruiert die Finanzkrise und beantwortet, mehr oder weniger, die Frage der britischen Königin: warum niemand die Krise voraussah. Weil in einer Blase niemand das gesamte Bild im Auge hat, sondern jeder nur dem Nachbarn folgt. Jeder analysierte nur sein eigenes Risiko, keiner das Risiko des ganzen Systems. Und sagt ein Banker, alle müssen tanzen, solange die Musik spielt. So erreicht das Stück, es wird ohne Pause gespielt, den Crash und der David Hare Schauspieler zeigt, etwas melodramatisch in die leere Luft auf das Opfer der Tragödie. Die Leiche im Stück, der Glaube an die mechanische und unwiderlegbare Vernunft der Märkte ist natürlich nirgendwo zu sehen.

    Erst im zweiten Teil wird der wie ein naiver Candide forschende Autor-Journalist David Hare durch den Theaterpropagandisten Hare ausgewechselt. Das Stück wechselt in den kritische Modus und in die Aktualität der Krisenbewältigung. Hare, nicht der Schauspieler, sondern der richtige Autor, spricht von Erpressung:

    "Vor einem Jahr wurden wir von den Finanzinstitutionen erpresst, sie sagten, wir brauchen sozialistische Intervention, damit wir das kapitalistische System retten können, sonst gehen wir unter und werden alles mit in den Abgrund ziehen. Jetzt sagen sie, ihr müsst uns in Ruhe lassen, damit wir wieder zum alten Hokuspokus zurückkehren und die Sache wieder in Schwung bringen können. Und es gibt derzeit keinen Politiker, der wirklich etwas gegen diese Erpressung tut.

    Die Finanzindustrie ist wie eine Gewerkschaft, mächtiger als die Bergarbeiter in den Achtziger Jahren. Wie eine Gewerkschaft hat sie das Land als Geisel genommen haben und droht: Wenn ihr uns reguliert, werdet ihr die Kreativität abwürgen, die Wohlstand im Land schafft."

    Hares Wut, sein Unverständnis der Uneinsichtigkeit der Banker ist das Thema des zweiten, packenderen Teils. Aber lernen wir wirklich etwas Neues? Der letzte große Deal des Bankers Sir Fred Goodwin wird analysiert, der die Royal Bank of Scotland durch die Übernahme der holländischen Amro Bank größer als das ganze britische Inlandsprodukt machte. So wie Sex nur die Nostalgie nach Sex ist - Hare zitiert hier Andy Warhol - so ist der Deal nur Nostalgie nach dem Deal, abgehoben von der Wirklichkeit. Es gibt eine kleine Vignette: ein 24-jährige Börsenjobber, der durch den Crash um seine Karriere geprellt wurde und bitter über das Missmanagement der Banker klagt: Die Baby-Boomer-Generation, die 50-jährigen haben alles genommen und der nachfolgenden Generation nur Schulden und noch mehr Schulden hinterlassen. Es gibt ein Plädoyer des Chefs der Bankenaufsicht, Lord Turner, gegen die Unmoral der Bankergehälter. Es sei viel schwieriger ein Krankenhaus zu leiten oder einer Schulklasse was beizubringen, als am Finanzmarkt Geld zu verdienen.

    George Soros, der philosophierende Spekulant, hat das letzte Wort. Er denkt über das Diktum von Alan Greenspan, dem ehemaligen amerikanischen Notenbankpräsiden nach, wonach die Vorteile der freien Märkte so großartig seinen, dass man eben damit leben müsse, wenn sie ab und zu zusammenbrechen. Ja, sagt Soros im letzten Satz, aber die Leute, die für den Zusammenbruch bezahlen, sind niemals diejenigen, die die Vorzüge einstreichen

    Aber auch das wussten wir eigentlich schon. Statt sich dramatisch zu bündeln, ist die Wut des Autors David Hare über die Bankenkrise am Schluss irgendwie verpufft.