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Ambitionierter Popdiskurs

Der Popdiskurs mag eine deutsche Eigenart sein - auf jeden Fall wird hierzulande sehr lebhaft über die Popkultur in allen ihren Facetten theoretisiert. Seit Herbst 2012 gibt es die Zeitschrift " Pop. Kultur und Kritik"auf dem Buchmarkt, die von einem Kollektiv bekannter Literatur- und Kulturwissenschaftler herausgegeben wird.

Von Enno Stahl | 09.09.2013
    Seit Anfang der 80er-Jahre, im Umfeld von Autoren wie Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen, wird in Deutschland, und eigentlich nur hier, viel über Popkultur, und was das eigentlich sei, räsoniert. Ein maßgebliches Organ dieser Auseinandersetzung war, zumindest bis zum Umzug von Köln nach Berlin, die Zeitschrift "Spex", der Diederichsen jahrelang als Chefredakteur vorstand. Mitte der 90er-Jahre kam es zum spektakulären Hype um die Popliteratur – ebenfalls eine deutsche Spezialität.

    So schnell es damit auch vorbei war, das Thema fand nun verstärkt Eingang in den wissenschaftlichen Bereich, wurde weltweit von Germanisten, Komparatisten, Sozio- und Anthropologen diskutiert. Pop – das ist per se ein interdisziplinäres Phänomen. Mit "Pop. Kultur und Kritik" tritt nun eine Zeitschrift auf den Plan, an der maßgebliche wissenschaftliche Protagonisten der deutschen Popdebatte teilhaben.

    Frage an Mitherausgeber Moritz Baßler, was war die Motivation für die Begründung?

    Moritz Baßler: "Ja, das Hauptmotiv ist, dass Pop inzwischen auch im akademischen Raum entdeckt wurde und behandelt wird und wir gedacht haben, wir brauchen ein Publikationsorgan, was da die Diskurse bündelt. Das heißt, wir wollen einerseits über peer-reviewed Artikel und Essays die akademischen Arbeiten über Pop fördern und repräsentieren. Andererseits aber auch der Tatsache gerecht werden, dass wesentliche Diskurse bisher im Qualitätsjournalismus geführt wurden und der da auch mit rein soll."

    Was ist die angepeilte Leserschaft?

    Moritz Baßler: "Ja, die angepeilte Leserschaft wären alle, die sich intellektuell mit Pop beschäftigen wollen. Also das sind die Leute, die sonst auch 'Spex' und 'Testcard' lesen und das sind andererseits Leute aus dem akademischen Umfeld."

    In weiten Teilen keine Fußnoten
    Leider verzichtet die Zeitschrift in weiten Teilen auf Fußnoten, was angesichts der Zielgruppe seltsam erscheint – diese Leserschaft ist an Texte mit Quellennachweisen durchaus gewöhnt. Nach Aussage Baßlers ist dies eine Bedingung des Transcript Verlags, in dem die Zeitschrift erscheint. Verwunderlich, steht doch dieser Bielefelder Wissenschaftsverlag für ein Programm mit ambitionierten Monographien und Dissertationen aus Soziologie und Kulturwissenschaft. Wenn die Zeitschrift den Begriff "Pop" so sehr ins Zentrum ihrer Wahrnehmung rückt, stellt sich natürlich die Frage, was das eigentlich ist? Was ist Pop?

    Moritz Baßler: "In der Tat, die Zeitschrift hat unter anderem durch die Artikel von Thomas Hecken, der ja unser Hauptherausgeber ist, eine Debatte ausgelöst über die Definition von Pop. Ich glaube, Thomas Hecken weiß, was Pop ist, er gibt genaue Kriterien an, aber er sagt selber, dass das nur eine stipulative Definition ist. Und ich denke, ich halte es mit Eckart Schumacher, der glaube ich gut gezeigt hat, dass Pop in bestimmten Kontexten immer etwas anderes bedeutet. Also Pop ist immer das, was seine Opposition nicht ist. Das kann mal Rock sein, das kann mal E-Kunst sein. Das kann abstrakter Expressionismus sein. Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, eine - sozusagen - Wesensdefinition von Pop zu machen. Das sollte man situativ bestimmen, was man darunter jetzt versteht, und das dann verwenden."

    Tatsächlich wirkt Heckens Vorschlag zu starr, das Pop-Phänomen zu dynamisch und wandelbar, als dass man es zu systematisieren vermöchte. So muss Hecken manche kumulative Verrenkung vornehmen, um alles unter den Hut seiner Kriterien zu bringen. Ist ein solches Vorgehen, den oszillierenden Zeichenkomplex der Populärkultur ins Korsett akademischer Begrifflichkeit zu pressen, nicht auch typisch deutsch? Ist nicht überhaupt die theoretische Beschäftigung mit der Popkultur, also darüber nachzudenken, anstatt sie einfach nur zu genießen, auszuleben, eine deutsche Besonderheit? Wenn man einmal absieht von den englischen Cultural Studies, die allerdings deutlich pragmatischer orientiert sind - täuscht dieser Eindruck?

    Moritz Baßler: "Es gibt so Zeitschriften, also im angelsächsischen Raum, es gibt ne französische Zeitschrift, die so was macht. Es fängt ja auch erst an, merkwürdiger Weise. Das Phänomen ist jetzt 50, 60 Jahre alt, und die akademische Beschäftigung fängt erst an. Ich glaub, in diesem Jahr gab es eine Tagung von jungen Zeithistorikern in Berlin, also die Geschichtswissenschaften haben offenbar gemerkt, es gibt da in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so'n Phänomen, das sollten wir uns auch mal angucken. Wunderlich genug, aber eigentlich fängt das erst an."

    Die Mitherausgeberin Nadja Geer kritisiert in ihrem Beitrag, dass Poptheorie seit ihren Anfängen eine Art maskuliner Geheimwissenschaft gewesen sei, In-Codes nach dem Motto: Man ist sich einig, weiß aber nicht worüber. Mittels Sophistication, einer ironischen Gewitzheit und Gelehrtheit, seien männliche Popintellektuelle gegen die Hegemonie der bildungsbürgerlichen Kultur angetreten, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen. Weibliche Pop-Intellektuelle seien bis heute weitgehend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Herrschaftsfreie Diskurse, so ihr Testat, sähen anders aus. Was sagt Baßler, würde er dieser These zustimmen – ist die Auseinandersetzung mit Popkultur vornehmlich ein "Jungensprojekt"?

    Moritz Baßler: "Ja, das war sicher überwiegend ein Jungensprojekt, schon Carl Einstein in expressionistischer Zeit hat gesagt, es geht um Literatur für fortgeschrittene Junggesellen. Das ist halt so ne gewisse Literatur, die Spaß hat am Sammeln von Phänomenen und ner Theoriebildung und Reflexion und damit natürlich auch Profilierung. So hat das sicherlich angefangen, aber inzwischen würde ich sagen, ist der Diskurs halb-halb."

    Genug Stoff für Jahre vorhanden?
    Wenn man eine neue Zeitschrift gründet, hat man den Anspruch, dass diese möglichst über Jahre hinaus erscheint. Wird es, da dieses neue Projekt sich einzig auf den Aspekt Popkultur beschränkt, genügend Stoff geben, um dieses Magazin ausreichend mit Inhalten zu füllen? Gibt es genügend unterschiedliche Facetten, an denen man sich abarbeiten kann?

    Moritz Baßler: "Ja, da bin ich ganz sicher, denn Pop ist ja nicht vorbei, sondern Pop ist ja, ich würde sagen, unsere dominante Kultur geworden. Unsere hegemoniale Kultur und der Gegenstandsbereich ist so groß und es ist noch so wenig dazu gearbeitet, auf ganz verschiedenen Ebenen. Man kann ja von der Einzelwerkanalyse und stellen Sie sich vor, Sie wollen nur mal die Werke von Genesis P. Orridge einmal durchanalysieren, da brauchen Sie schon Jahrzehnte für sozusagen, bis hin zu globalen Übersichten, da ist einfach eine unglaubliche Masse. Und wir haben ja auch diesen Kolumnenteil, der dann immer auf aktuelle Entwicklungen eingehen soll, also wenn ich mit Herrn Drügh zusammen jedes Jahr einmal diese Popkolumne schreibe, über die Literatur, dann soll da für den Leser ja auch in zehn, zwanzig Jahren so ne Art Informationsdienst da sein, dass er sagt, was war denn wichtig zu der Zeit, was wurde diskutiert, also welche Titel, was war herausgenommen. Das ist ja auch so ne Art Serviceleistung, die da erbracht werden soll, da Popkultur lebt, hört das ja nicht auf."

    Die Spannweite der Beiträge, welche in den ersten beiden Nummern veröffentlicht sind, ist in der Tat beträchtlich: Wolfgang Ulrich berichtet über die Energiemetaphern im zeitgenössischen Marketing. Georg Seeßlen über den neuen Trend der "Feelgood"-Movies. Marcus S. Kleiner thematisiert die Unfähigkeit zu altern im Popbusiness, Ramón Reichert virtuelle Friedhofsportale.

    Chefredakteur Thomas Hecken hat sowohl zur ersten als auch zur zweiten Ausgabe umfangreiche Texte beigesteuert. Neben dem erwähnten Versuch, "Pop-Konzepte der Gegenwart" zu definieren, äußert er sich auch zur Bankenkrise, zur aktuellen Fernsehkriegsberichterstattung und zur Pop-Ökonomie. Hier unterzieht er kommerzkritische Modelle von links und von rechts einer Analyse, doch geht er auch hier, trotz mancher gelungener Beobachtung, ein wenig zu schematisch vor. So wird nicht recht klar, auf welche Ansätze er sich überhaupt bezieht. Diese Frage stellt sich umso mehr, als dass er etwa der linken Popkritik Positionen zuschreibt, die diese kaum interessieren dürfte.

    Theo Röhle referiert in der aktuellen Nummer zwei Wissenswertes über die Mechanismen des Pagerankings bei Google. Und Jens Gerrit Papenburg stellt interessante Überlegungen über den Wandel der musikalischen und sozialen Ästhetik an, der sich durch die durchgreifende Digitalisierung der Musikformate eingestellt hat. Das Herunterladen und Hören von Soundfiles, das Erstellen von Playlists und die Interaktion zwischen Publikum und Interpreten durch das Einschalten von Gadgets und Apps.

    Insgesamt erscheint "Pop. Kultur und Kritik" als ein ambitioniertes Projekt, auf dessen weitere Entwicklung man gespannt sein darf.


    Pop. Kultur und Kritik
    Transcript Verlag, Bielefeld
    erscheint zweimal jährlich, Frühjahr / Herbst,
    ca. 170 Seiten, 16,80 Euro