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Amerikas Balzac

William Faulkner zählt zu den großen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und gilt als Wegbereiter des modernen Romans. In seiner US-amerikanischen Heimat brachte ihm jedoch erst 1950 der Literaturnobelpreis die verdiente Anerkennung.

Von Sasha Verna | 06.07.2012
    "Nur Gemüse ist glücklich", sagte William Faulkner einmal. William Faulkner sagte manches und schrieb noch mehr, jedoch höchst selten über Broccoli. Glückliche Menschen sind langweilig. Deshalb stehen solche auch nicht im Zentrum der neunzehn Romane, hundertfünfundzwanzig Kurzgeschichten und zwanzig Drehbücher, der sechs Gedicht- und zahlreichen Essaybände oder des einen Theaterstücks, die William Faulkner in den vierzig Jahren seiner Karriere verfasst hat. Das Werk dieses amerikanischen Schriftstellers handelt von einer Landschaft und von den Schicksalen, die diese Landschaft bestimmt.

    Mit Mark Twain ist der Süden der Vereinigten Staaten im literarischen Universum erschienen. William Faulkner hat daraus eine Galaxie gemacht – sichtbar nicht nur für die Welt überhaupt, sondern auch und vor allem für Amerika selber. Da war man sich an Schauplätze gewöhnt, die von den Autoren in den europäisch orientierten Städten der Ostküste entworfen worden waren. An Boudoirs und bloßgestellte Bigotterie à la Edith Wharton, an Silberbesteck und Sensibilitäten à la Henry James. Wenig bereitete die Leser auf die staubigen Stiefel und die verschwitzten Gesichter, auf die Gottes- und anderen Äcker vor, die ihnen Faulkner in Yoknapatawpha County präsentierte.

    Yoknapatawpha County: Dieser Zungenbrecher ist heute jedem amerikanischen Schulkind ein Begriff. Nachempfunden hat William Faulkner diesen fiktiven Bezirk in Mississippi Lafayette County, wo er 1897 geboren worden war. Jefferson heißt die Kreisstadt. Hier soll Addie Bundren unter die Erde gebracht werden, was sich für die Hinterbliebenen als Ding der Beinahe-Unmöglichkeit erweist. Der groteske Trauerzug in "Als ich im Sterben lag" ist vom Pech verfolgt und intoniert zugleich einen Abgesang auf eine Lebensweise und eine Weise zu Sterben – nämlich die in Yoknapatawpha County.

    In Yoknapatwpha County werden wir Zeugen von Aufstieg und Fall des Thomas Sutpen im Roman "Absalom, Absalom!" und damit des Niedergangs der Plantagen-Kultur. Zwischen dem Tallahatchie River im Norden und dem Yoknapatawpha River im Süden richten sich die Compsons in "Schall und Wahn" gegenseitig zugrunde. Irgendwo auf diesen sechstausend Quadratkilometern sucht Lena Grove in "Licht im August" nach Lucas Burch, dem Vater ihres ungeborenen Kindes und stößt auf Joe Brown und Lynchjustiz und existentielle Vereinzelung im Plural.

    William Faulkner widmet sich den Sippen und Sitten von Farmern, Dienstmädchen und Dorfadvokaten wie es Sherwood Anderson in der Novellensammlung "Winesburg, Ohio" getan hat, in dieser ursprünglichsten aller Typo- und Topographien des amerikanischen Wesens. Tatsächlich war es Sherwood Anderson, der Faulkner zum Schreiben ermunterte und 1926 die Veröffentlichung seines ersten Romans "Soldier’s Pay", "Soldatenlohn" ermöglichte.

    Die bedeutendsten Werke William Faulkners sind zwischen 1929 und 1942 entstanden. In den Romanen aus dieser fruchtbaren Schaffensperiode und in Erzählbänden wie "Die Unbesiegten" und "Go Down, Moses" hält Faulkner der Gesellschaft nicht einfach einen Spiegel vor. Vielmehr drückt er ihr ein Kaleidoskop vors Auge. Bei ihm wachsen Bilder aus wechselnden Perspektiven. Er fügt dem Lokalkolorit Vokalkolorit hinzu, indem er mit Sprechweisen und Sprachebenen spielt. Er staut den Strom des Bewusstseins ebenso wie den der Zeit, um beides plötzlich über die Ufer schießen zu lassen.

    Die Lektüre der Werke von Faulkners Zeitgenossen wie Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald gleicht einer Reise von Trauminsel zu Trauminsel. William Faulkner lockt mit Land in Sicht. In ihm hat Amerika seinen Balzac des 20. Jahrhunderts gefunden. Balzac, den Faulkners Mutter ihm schon als Kind zu lesen gab. In Faulkners menschlicher Komödie werden Nebenfiguren aus einem Roman zu den Protagonisten im nächsten. Wie bei Balzac sind sie nie nur sich selber. John Sartoris und Ab Snopes mögen in verschliffenen Südstaatendialekten daherreden. Was sie ausdrücken, wird überall verstanden.

    Oder doch nicht? Kritiker haben Faulkner vorgeworfen, aus seinen Büchern werde man auch nach dem dritten Lesen nicht schlau. Faulkners Antwort darauf lautete: Lest das Buch ein viertes Mal. Dabei formulierte Faulkner keineswegs nur Sätze mit über tausend Wörtern, wie er das in "Absalom, Absalom!" gelegentlich tut. Als Lohnschreiber in Hollywood leistete er sogar entscheidende Beiträge zur amerikanischen Populärkultur. Von ihm stammen die Drehbücher zu "Haben und Nichthaben" nach dem Roman von Ernest Hemingway sowie "Der grosse Schlaf" nach Raymond Chandler. Humphrey Bogart fasst sich darin als Harry Morgan so kurz wie als Philip Marlowe.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die Vereinigten Staaten mehr denn je um die intellektuelle Emanzipation von Europa. Als Faulkner 1950 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur entgegennahm, empfand man die Ehre in seiner Heimat freilich paradoxerweise als Bestätigung für das neugefundene Selbstverständnis. Zumal noch im Jahr zuvor eine Sperrminorität der Juroren gegen Faulkner gestimmt und diesen damit so verstimmt hatte, dass er den Preis zunächst ablehnte. In seiner Preisrede beschränkte sich Faulkner dann darauf, es abzulehnen, ans Ende der Menschheit zu glauben: "I decline to accept the end of man", so sein vielzitiertes Bekenntnis. Natürlich. Denn bis jemand unglücklichen Broccoli züchtet, sind Schriftsteller auf Menschen angewiesen.