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Amilcare Ponchielli: ''La Gioconda''

* Musikbeispiel: A. Ponchielli - 2. Akt - Finale (Ausschnitt) aus: "La Gioconda" Eine Massenszene mit Kanonenschüssen, ein brennendes Schiff, das schließlich untergeht, inmitten dieses Chaos eine Szene wütender Eifersucht, Protagonisten in höchster Verzweiflung – es ist schon Einiges, was dem Publikum im Finale des 2. Aktes von Amilcare Ponchiellis Oper "La Gioconda" geboten und zugemutet wird. Wir möchten Ihnen eine Neuaufnahme dieses heute nur noch selten gespielten Werks vorstellen, die bei EMI Classics erschienen ist. Hexenwahn und Lynchjustiz, Giftmord und Scheintod, Erpressung, Entführung, Verrat, Selbstmord, Liebesraserei, Eifersucht und Entsagung: eine so aberwitzige Häufung außerordentlicher Seelenzustände, unerhörter Zufälle und grässlicher Katastrophen ist selbst in der Welt der Oper selten anzutreffen. Schuld daran ist der Librettist: kein anderer als Arrigo Boito, der später auch die Libretti zu Verdis "Othello" und "Falstaff" verfasste. Im Jahr 1875, als "La Gioconda" entstand, war Boito, der Dichter-Komponist, mit der Neufassung seiner eigenen Oper "Mefistofele" befasst – man hat darum häufig unterstellt, er habe die Auftragsarbeit für Ponchielli nur halbherzig ausgeführt. Doch so, wie er die Personenkonstellation, noch über die Vorgaben des zugrundeliegenden Dramas von Victor Hugo hinausgehend, gestaltet hat, erkennt man unschwer etliche Motive, die sich durch Boitos gesamtes Schaffen ziehen – man darf also ästhetische Absicht unterstellen.

Ingo Dorfmüller |
    Der Handlungskern ist ein Liebeskarussell, wie es auch als Grundmodell für eine Komödie getaugt hätte: Barnaba liebt La Gioconda, diese wiederum liebt Enzo, Enzos ganze Leidenschaft jedoch gehört Laura. Wenn man aber hinzufügt, dass Barnaba ein Spitzel der Geheimpolizei ist, Gioconda eine rechtlose Straßensängerin, Enzo steckbrieflich gesucht wird und seine angebetete Laura ausgerechnet mit Alvise, dem Chef der Geheimpolizei, verheiratet ist, lässt sich das tragische Potential der Verhältnisse leicht ermessen. Wie in so vielen anderen Werken Boitos begegnen wir dem absolut Guten – hier verkörpert in "La Cieca", der blinden, hilflosen Mutter der Gioconda –, das sich absolut passiv verhält, und dem rastlos aktiven absolut Bösen, hier verkörpert in Barnaba. Die übrigen Personen richten sich zwischen diesen beiden Polen aus, mal der einen, mal der anderen Seite zuneigend. Es ist also der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, den Mächten des Lichtes und der Finsternis, der sich in dieser privaten Tragödie vollzieht. Die Mixtur des Librettos stellte den Komponisten vor eine schwierige Aufgabe: einerseits war realistische Milieuschilderung verlangt – darin ist "La Gioconda" eine Vorwegnahme des späteren "Verismo" – andererseits verlangte die symbolische Konstellation der Handlung nach großen Tableaux und den geschlossenen Nummern der Operntradition. Das führt zu einem manchmal geradezu schockierenden Nebeneinander fast operettenhafter Chor- und Ballettsätze und dramatischer Zuspitzungen – wie hier im Finale des 3. Aktes mit der berühmten allegorischen Balletteinlage, dem "Tanz der Stunden". * Musikbeispiel: A. Ponchielli - 3. Akt – 'Tanz der Stunden’ (Schluss); Finale (Ausschnitt) aus: "La Gioconda" Wer sich heute an dieses Werk wagt, muss sich den Vergleich gefallen lassen mit jener Aufnahme, die 1960 auf dem selben Label herauskam und Maria Callas in der Titelrolle aufbietet. Callas hat die Rolle der Gioconda nur dreizehnmal auf der Bühne verkörpert, und doch hat sie – und das nicht zuletzt durch die besagte Aufnahme – wie so vielen anderen Partien, auch dieser ihren Stempel so nachdrücklich aufgeprägt, dass es jede Nachfolgerin schwer hat. Violeta Urmana ist die Gioconda der Neuaufnahme: Ihre Gioconda hat einen edlen, schönen, eher lyrischen Ton, sie betont die positiven Eigenschaften des Charakters, die Liebende und Entsagende: Gioconda gehört bei ihr eindeutig auf die Seite der Guten. Aber wird nicht Gioconda auch von rasender Eifersucht geschüttelt, ist sie nicht mehrfach in Versuchung, ihre Rivalin umzubringen, wird sie nicht mehrfach – und nicht zu unrecht – als Hyäne, als Furie bezeichnet? Bei Maria Callas ist mehr von der inneren Kraft der Figur zu spüren, die den Kampf zwischen Gut und Böse in ihrer Seele austragen muss – und die am Ende Giocondas Selbstopfer nicht als passives Erdulden, sondern als bewusste, befreiende Tat erscheinen lässt. Barnaba, der sie begehrt, den sie verabscheut, dem sie sich aber um den Preis der Rettung Enzos und Lauras versprochen hat, macht sie in einem Moment verzweifelter, irrlichternder Komik vor, sie wolle sich für das Liebeslager noch ein wenig hübsch machen – in Wahrheit greift sie sich einen Dolch und ersticht sich mit den Worten: "Meinen Körper hast du begehrt und meinen Körper sollst du bekommen." Hören Sie die Schlußszene der Oper nun zuerst in der neuen Aufnahme mit Violeta Urmana und Lado Ataneli, dann in der alten Version mit Maria Callas und Piero Cappuccilli. * Musikbeispiele: A. Ponchielli - 4. Akt – Finale (Ausschnitt) aus: "La Gioconda" Ein weiterer Unterschied der beiden Aufnahmen wird an diesem Ausschnitt hörbar: Antonino Vottos Dirigat in der alten Aufnahme ist dramatischer, kompakter, drängender und damit letztendlich wirkungsvoller. Andererseits muss auch festgestellt werden, dass Marcello Viotti in der Neuaufnahme etliche Feinheiten, insbesondere der Instrumentation entdeckt, die Votto seinerzeit entgingen, und die natürlich mit der heutigen Tontechnik auch sehr viel besser erfasst werden können. Dem differenzierteren Orchester und dem ebenfalls sehr viel feineren und genaueren Chor stehen in der Neuaufnahme aber auch vergleichsweise eindimensionale gesangliche Darbietungen gegenüber, die zudem tontechnisch stark und dominant in den Vordergrund gerückt werden.

    Ein großer Vorzug der Neuaufnahme ist Placido Domingo in der Rolle des Enzo. Es ist erstaunlich, wie der zum Zeitpunkt der Aufnahme 61jährige Sänger die jugendliche Frische des Charakters glaubhaft machen kann, wie unversehrt nach einer vierzigjährigen Karriere er sein persönliches Timbre erhalten hat und mit welcher Selbstverständlichkeit er nach den diversen Ausflügen ins schwere Heldenfach sich in diese typische "lirico spinto"-Partie zu finden weiß. * Musikbeispiel: A. Ponchielli - 2. Akt – Arie des Enzo 'Cielo e mar’ (Schluss) aus: "La Gioconda" Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich die Neuaufnahme von Amilcare Ponchiellis "La Gioconda" neben der alten Produktion unter Antonino Votto mit Maria Callas durchaus behaupten, diese aber keineswegs ersetzen kann. Die Neuaufnahme ist auf dem Label EMI Classics erschienen; Marcello Viotti dirigiert den Chor des Bayrischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester; es singen: Violeta Urmana, Placido Domingo, Lado Ataneli, Roberto Scandiuzzi, Luciana d’Intino und Elisabetta Fiorillo.