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An den Quellen des Nils

Man ist gedemütigt angesichts der Unmöglichkeit, ein Land zu ersehnen, das sich unendlich erstreckt..." – Ein Zitat aus Thomas Pynchons Mason & Dixon stellt Thomas Stangl seinem Roman voran. Pynchon begleitete seine beiden Helden in den amerikanischen Süden des 18. Jahrhunderts, doch ungleich verlorener als die skurrilen amerikanischen Landvermesser kommen sich Thomas Stangls Protagonisten in einem glühenden Afrika vor, das wenig anderes für sie parat hält als Entbehrungen und Leiden.

Von Joachim Scholl | 05.05.2004
    Anfangs wissen sie das allerdings noch nicht. Fanatisch träumen sie von jenem "einzigen Ort", Timbuktu, dem visionären Ziel und mythischen Zentrum der Geschichte. Der englische Major Laing bricht von Tripolis auf, mit einer Karawane zieht er quer durch die Sahara, im offiziellen Auftrag der Royal Society. Ganz allein, auf eigene Faust, verkleidet als Araber und Moslem nähert sich René Caillié der Stadt, vom Senegal aus zum Niger. Beide haben sie keine richtige Vorstellung, was sie erwartet. Eine prächtige Metropole mit Zinnen aus Gold, ein edles afrikanisches Volk von sagenhaftem Reichtum – davon erzählt man sich in Europa, man liest es in uralten Dokumente, aber ist es die Wahrheit?

    Die Quelle dieser Legende ist hauptsächlich die Reise des Königs von Melli im 14. Jahrhundert nach Mekka, der in Ägypten soviel Geld ausgegeben hat, weil er eben auch aus den Herkunftsländern der Goldminen stammt, dass er damit fast eine Wirtschaftskrise ausgelöst hat. Von daher hat sich die Legende des Namens "Timbuktu" und des unerreichbaren Westafrikas in den europäischen Köpfen festgesetzt.

    Jahrelang hat sich Thomas Stangl in die zahlreichen überlieferten Schriften, Mythen und Sagen über das alte, unbekannte Afrika versenkt. Von der Antike bis zur Neuzeit, von Herodot bis zum Abenteurer Leo Frobenius Africanus spannt sich ein weiter Bogen von 3000 Jahren Zeitgeschichte. Sie bildet den spannenden, oft fürchterlich gewalttätigen kultur- und sozialhistorischen Hintergrund für Stangls Erzählung, die das große Abenteuer seiner zwei Helden wie eine nur kleine, flüchtige Episode in einem monströsen Kontext aussehen lässt. Relativ kurz hintereinander, 1826 und 1828, erreichen Laing und Caillié die Traumstadt Timbuktu. Der eine kehrt nie wieder, bleibt auf der Rückkehr verschollen, der andere erreicht die Heimat nur unter größten Mühen, halbverrückt und so gut wie tot. Von beiden Entdeckern sind Aufzeichnungen und Berichte erhalten, doch schnell wurden sie vergessen.

    Ich bin zufällig beim Blättern in einem Lexikon über Entdecker und Eroberer auf diese Geschichte gestoßen. Und es hat mich daran gerade das angezogen, was vermutlich der Grund dafür ist, dass diese beiden Protagonisten, diese beiden Entdecker, Laing und Caille, weitgehend unbekannt sind, sogar zum Teil eher missachtet. Nämlich, dass es keine militärischen Eroberungen, keine großen Heldentaten sind, sondern eher Geschichten von Demütigungen und Krankheiten. In denen auch die Gewalt nie von den Protagonisten ausgeübt wird, sondern höchstens erlitten, und bei denen die Entdeckung sich noch dazu am Ende als eigentlich wertlos herausstellt.

    Denn das legendäre Timbuktu ist weder reich noch schön, sondern entpuppt sich als elendes, sandverwehtes Drecksnest. Doch die beiden Entdecker sind schon so erschöpft und gezeichnet von den Anstrengungen ihrer Fahrt, dass sie für ihre Enttäuschung im Grunde keinerlei Kraft mehr haben. Es sind vor allem diese Strapazen, die Thomas Stangl meisterhaft schildert. Die unerträgliche Sonne, der ewige Sand, der Schmutz, Durst und Hunger – all das raubt den Reisenden nach und nach den Verstand, versetzt sie in einen vagen Zustand zwischen Realität und Traum. Mit großer Raffinesse, in einer Art von hypnotischem Realismus, beschreibt der Autor die zunehmende Bewusstseinsveränderung seiner Helden. In einer unerträglichen Umgebung, die ständig mit dem Tode droht, verschwimmen die Konturen von Raum und Zeit, wird jedes Vorkommnis zum Gefühl, zur Halluzination.

    Dennoch bleibt Stangls Stil in jeder Zeile genau, hält er die Schwebe stets am Boden der Tatsachen, indem er zahllose präzise Details elegant im Text verwebt. Ob es um das schauderhafte Geräusch geht, das ein halbverdurstetes Kamel von sich gibt, oder das mitreißend beschriebene Ereignis eines Sandsturms – man mag es kaum glauben, dass der Autor selbst noch nie afrikanischen Wüstenboden betreten hat und das Buch hauptsächlich im Augustinersaal der Wiener Nationalbibliothek entstand. Thomas Stangl erklärt das charmant literarisch:

    Die Fakten sind einerseits angelesen, aus den Büchern dieser beiden Helden selbst. Andererseits, bei Handke steht irgendwo von einem Bergsteiger, der versucht hat, eine Beschreibung seines Gipfelerlebnisses zu finden und der sich dazu eines Zitats von jemandem bedient hat, der nur in der Ebene herumgegangen ist. Insofern kann ich auch am Donaukanal stehen und mir den Niger vorstellen.

    Den eigentlichen Anlass zum Schreiben lieferte eine Novelle von Jorge Luis Borges, die Thomas Stangl buchstäblich aus einer Mülltonne zog. In jenem Text ging es um eine ähnliche Reise-Erfahrung, die zugleich, in typischer Borges-Manier, das poetologische Problem der Beschreibung thematisiert. Beim Argentinier fand der Wiener Autor den entscheidenden Impuls für den eigenen Anspruch: Nicht nur eine historische Entdeckung realistisch zu erzählen, sondern das Erzählte auch als Gegenstand literarischer Vorstellungen und Bedingtheiten kenntlich zu machen. Während Borges und auch Thomas Pynchon hier vor allem mit den Mitteln des Fantastischen arbeiten, senkt Stangl dieses ästhetische Motiv ganz in die Psyche seiner Figuren. Ihre traumverlorenen Empfindungen, die Imagination und Sehnsucht nach dem kollektiven Mythos von Timbuktu bilden den Kontext für die ewige literarische Frage: Was ist Wirklichkeit? Die Fata Morgana wird dabei wortwörtlich zum Prinzip des Buches, das den Autor sicher durch seine weit gespannte Erzählung trug.

    Es ist zu meinem eigenen Erstaunen eigentlich ziemlich leicht gefallen, dieses Buch zu schreiben. Jacques Rivette schreibt an einer Stelle, dass man beim Drehen eines Films von einem gewissen Zeitpunkt an den Eindruck hat, der fertige Film sei schon da und er müsse ihn nur ausgraben und dabei möglichst wenig beschädigen. Und dieses Gefühl habe ich zumindest von der Mitte des Buches an auch gehabt. Dass ich nur dem folgen muss und möglichst wenig Fehler hineinbringen.

    Über 400 Seiten hat das Buch, erschreckend eng bedruckt, was den Einstieg zunächst behindert. Man muss sich Zeit nehmen für die Lektüre dieses literarisch hoch anspruchsvollen Debüts. Dann aber wird man gepackt, von Stangls glänzender Sprache, dem kraftvollen Sog dieser afrikanischen Odyssee. Und im Gegensatz zu den beklagenswerten Helden Laing und Caillié erwartet den Leser ein wirkliches El Dorado: Wer sich auf diese Entdeckungsreise begibt, wird reich belohnt.

    Thomas Stangl
    Der einzige Ort
    Verlag Droschl, 408 S., EUR 25,-