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Analphabetismus ist weiblich

Knapp 30 Prozent aller Türkinnen über 44 Jahre können weder lesen noch schreiben. Trotz allgemeiner Schulpflicht nehmen in manchen Gegenden Ost-Anatoliens nur 20 Prozent der Mädchen im Schulalter am Unterricht teil. Die Gründe dafür liegen in Armut und tief verwurzeltem patriarchalischem Familiendenken. Gunnar Köhne berichtet.

    In der Ziya-Gökalp-Grundschule von Diyarbakir beginnt eine neue Schulwoche. Die Kinder stehen in Reih und Glied auf dem grauen Schulhof, jedes von ihnen angezogen in einem blauen Kittel mit Rüschenkragen. Der Schulleiter begrüßt seine Schüler über eine Lautsprecheranlage. In der ersten Reihe steht Cigdem und lächelt schüchtern. Cigdem überragt die Jungen ihrer Klasse um einen Kopf. Das Mädchen ist schon zwölf Jahre alt.

    "Seit Jahren träume ich davon, in eine Schule gehen zu dürfen. Ich bin oft zu diesem Schultor gekommen und wäre so gern hineingegangen. Irgendwann hat mich jemand von der Stadtverwaltung dort gesehen und mich gefragt, warum ich weine. Da habe ich ihm gesagt, dass ich so gerne in die Schule gehen würde. Heute kann ich es endlich. Ich kann es noch gar nicht glauben."

    Cigdem hat eine tragische Geschichte hinter sich. Das Mädchen war schon einmal eingeschult worden, musste aber vor drei Jahren die Schule wieder verlassen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ihr Vater zwang sie, auf ihre vier jüngeren Geschwister aufzupassen. Nachdem auch noch ihr Vater gestorben war, kamen die Kinder zu ihrer Großmutter. Und die konnte es sich nicht leisten, die Kinder zur Schule zu schicken:

    "Ich habe fünf Kinder zu versorgen und bin zu alt und zu krank zum Arbeiten. Wir leben von dem, was uns die Nachbarn abgeben. Für uns geht es nur ums Überleben, darum, etwas zum Essen zu finden. Wir leben von weniger als 35 Euro im Monat, wie soll ich da die Kinder zur Schule schicken? Dabei möchte ich so sehr, dass sie etwas lernen, vor allem die Mädchen. Ich bin nie zur Schule gegangen und kann weder lesen noch schreiben. Ich wünsche mir, dass die Kinder ein besseres Leben haben werden."

    Für ihre Enkelin Cigdem könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen, denn das Mädchen wurde in ein landesweite Programm mit dem Namen "Auf, Mädchen! In die Schule!" aufgenommen. Die Initiative bezahlte die Schuluniform und überweist der Familie außerdem umgerechnet 30 Euro monatlich an Unterstützung, vorausgesetzt, Cidgem geht weiterhin regelmäßig zum Unterricht. Die landesweite Kampagne wird vom Kinderhilfswerk UNICEF, der türkischen Regierung und der Wirtschaft gleichermaßen unterstützt. Durch finanzielle Hilfen und Überzeugungsarbeit konnte nach Angaben der Organisation bislang fast 225.000 Mädchen ein Schulbesuch ermöglicht werden.

    Doch zugleich offenbart die Aktion, dass der EU-Beitrittskandidat Türkei im Bildungssystem vor seiner größten gesellschaftlichen Herausforderung steht. Das Bildungsniveau des Landes liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt In der berühmten PISA-Studie belegte die Türkei den letzten Platz. Die Analphabetenrate beträgt nach Angaben der Weltbank noch immer 8 Prozent, knapp 30 Prozent aller Türkinnen über 44 Jahre können weder lesen noch schreiben.

    Armut ist nicht die einzige Ursache dafür, dass Väter ihre Mädchen nicht aus dem Haus lassen. Immer wieder kommt es vor, dass Imame in Predigten davor warnen, Mädchen dem angeblich lasterhaften Schulleben auszusetzen. Auch dieses Problem scheinen die Behörden erkannt zu haben. Der Leiter der Schulbehörde von Diyarbakir, Sahin Demirkoyu:

    "Als wir diese Kampagne starteten, beriefen wir eine Kommission, und eines der ersten Mitglieder dieses Gremiums war der örtliche Leiter des Amtes für Religion. Über ihn konnten wir alle Imame der Region ansprechen, was wichtig ist, denn die Imame üben großen Einfluss aus. Einen ganzen Monat lang haben die Imame in ihren Predigten dazu aufgefordert, die Mädchen in die Schulen zu schicken. Dadurch konnten wir erreichen, dass viele ältere Mädchen wieder zurück zur Schule kamen. Wir planen nun sogar, drei Mittelschulen zusätzlich bauen zu lassen, weil der Platz knapp wird."

    Für die zwölfjährige Cigdem geht mit dem Schulbesuch ein Herzenswunsch in Erfüllung. Sie ist entschlossen, diese Chance, der Armut zu entfliehen, zu nutzen:

    "Das ist ja für unsere Zukunft, darum ist die Schule so wichtig. Ich habe jahrelang davon geträumt, eine Schülerin sein zu dürfen. Wenn ich mich jetzt anstrenge, kann aus mir etwas werden und ich werde mir und meinen Geschwistern helfen können, aus unserer Lage herauszukommen."