Temperament, das sind für Psychologen angeborene biologische Reaktionsmuster. Charakter ist, was ein Mensch daraus macht. Das Zusammenspiel von Temperament und Charakter läßt sich nur in langjährigen Studien entwirren. Vor 20 Jahren hat deshalb Prof. Jerome Kagan von der Harvard Universität Kleinkinder beobachtet und verschiedene Aspekte ihres Temperaments genau beschrieben. Zum Beispiel mit diesem Experiment, das Professor Carl Schwartz erläutert.
Sie hatten einen kleinen Roboter, der plötzlich aus einer Ecke rollte. Einige Kinder liefen gleich hin und waren sehr neugierig und untersuchten ihn. Das waren die offenen Kinder. Die gehemmten Kinder dagegen erstarrten. Es ist Entscheidend, dass es sich dabei um Extreme handelt. Nur zehn Prozent der Kinder sind so offen, nur zehn Prozent so gehemmt. 80 Prozent von uns liegen irgendwo dazwischen und passen nicht in diese Kategorien.
Der Psychologe von der Harvard Medical School hat 22 dieser damals extrem offenen oder extrem gehemmten Menschen aufgespürt. Die heute jungen Erwachsenen mussten Bilder von bekannten und unbekannten Gesichtern betrachteten, während sie in einem Hirnscanner lagen. Carl Schwartz interessiert sich besonders für die Reaktion des Mandelkerns oder Amygdala. In diesem Nervenknoten werden Informationen mit Emotionen verknüpft, außerdem reagiert die Amygdala auf überraschende oder neuartige Ereignisse. Tatsächlich zeigten sich bei den beiden Temperamentsgruppen deutliche Unterschiede in der Antwort der Amygdala auf unbekannte Gesichter. Schwartz:
Die Erwachsenen, die als Zweijährige extrem gehemmt waren, zeigten in der Amygdala eine viel größere Reaktion auf neue Gesichter, als die Teilnehmer, mit dem damals offenen Temperament. Dagegen machte das Temperament bei den bekannten Gesichter keinen Unterschied.
Hier reagierte die Amygdala kaum. Die unterschiedlichen Antwortmuster können nach Ansicht von Carl Schwarz durchaus das Verhalten eines Menschen prägen:
Die Amygdala von sehr schüchternen Menschen reagiert rascher als die von offenen Personen. Das führt zu einer ganze Reihe unangenehmer körperlicher Reaktionen. Wahrscheinlich lernen Menschen mit einer überaktiven Amygdala neuartige Situationen zu vermeiden, weil dann ihr Herz rast und sie schwitzen, das ist so unangenehm, das sie sich dem lieber nicht aussetzen.
Über den Umweg der körperlichen Reaktionen beeinflusst die Amygdala letztlich das Verhalten. Die Antwortmuster des Mandelkerns sind wahrscheinlich sehr stabil, sind beim jungen Erwachsenen noch fast genauso wie einst beim zweijährigen Kind. Doch die Amygdala steuert nur das Temperament, die direkte biologische Reaktion. Der Charakter wird dadurch beeinflusst, aber nicht festgelegt. Zehn Jahre nach der ersten Studie waren von den extrem gehemmten Kindern nur noch ein Drittel übermäßig scheu, zwei Drittel hatten sich zu normal offenen Teenagern entwickelt. Eine reaktionsfreudige Amygdala ist also ein leichter Risikofaktor, extrem schüchtern zu werden, vielleicht sogar eine Depression zu entwickeln, sie ist aber kein unausweichliches Schicksal. Schwartz:
Das sind keine biologisch vorherbestimmten Kategorien. Es handelt sich eher um Neigungen, mit denen wir auf die Welt kommen und dann werden sie durch die Umwelt, die Familie verschoben, geformt und verändert. Aber es ist spannend, dass wir trotz all diese Einflüsse der Umwelt noch nach zwanzig Jahren die Spuren des frühen Temperaments mit dem Hirnscanner nachweisen können.
Die Experimente von Carl Schwartz und Jerome Kagan belegen, dass es so etwas wie ein angeborenes Temperament gibt, das einen Menschen das ganze Leben lang begleitet. Doch was er daraus macht, welchen Charakter er entwickelt, dass liegt in seiner eigenen Verantwortung und der seiner Familie und Umwelt.