Donnerstag, 18. April 2024

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Angehörige russischer Soldaten
"Das Schweigen ist schrecklich"

Viele Frauen und Mütter russischer Soldaten haben keinen Kontakt zu ihren Männern und Söhnen in den ost-ukrainischen Kampfgebieten. Die meisten Frauen trauen sich nicht, um einen Kontakt zu kämpfen. "Sie haben Angst, dass ihr Sohn Nachteile hat, wenn sie reden", sagte Ella Poljakóva, Vorsitzende des Komitees der Soldatenmütter St. Petersburgs, im Deutschlandfunk.

Ella Poljakowa im Gespräch mit Gesine Dornblüth | 03.09.2014
    Ella Poljakóva arbeitet zudem als Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Sie setzt sich seit rund 20 Jahren für die Rechte von Soldaten und Wehrpflichtigen ein.

    Das Interview in voller Länge:
    Gesine Dornblüth: Was wissen die Mütter und Frauen von Soldaten über deren Verbleib?
    Ella Poljakóva: Sie können nur raten. Offiziell sagt ihnen niemand etwas. Sie sind deshalb in großer Sorge. Die meisten Frauen melden sich bei uns, weil sie seit Mitte August keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn oder zu ihrem Ehemann haben. Sie bekommen keine Auskunft vom Militär, deshalb wenden sich an uns. Wir versuchen dann auch, etwas über den Aufenthaltsort der Soldaten herauszubekommen.
    "Was wir tun zeigt Wirkung"
    Dornblüth: Bei Ihnen hat sich eine Frau gemeldet, der ihr toter Sohn nach Hause geschickt wurde ...
    Poljakóva: Wir in Petersburg erhalten nur wenige solche Anrufe. Bei der Hotline unserer Partnerorganisation in Moskau hat eine Mutter angerufen, der ihr toter Sohn im Sarg geschickt wurde. Das ist eine sehr aktive Frau. Sie hatte keinen Kontakt zu ihrem Sohn, und dann hat sie Dokumente erhalten, die sie entsetzt haben: Der Todesort ist durchgestrichen. Es ist aber offensichtlich, dass der Tod von einer Kampfverletzung herrührt. Sie hat sich mit den Kameraden ihres Sohnes in Verbindung gesetzt. Laut deren Aussagen sind dort hundert Mann umgekommen, 300 wurden verwundet. Das sind ihre Zahlen. Das ist alles auf ukrainischem Gebiet passiert, bei dem Ort Sneschnoje, in der Nähe von Lugansk.
    Dornblüth: Wann war das?
    Poljakóva: Das war am 13. August. Das Erstaunlichste, was in letzter Zeit passiert ist, war, das ein Junge seinen Vater aus der Ostukraine angerufen hat und gesagt hat: Ihr habt einen solchen Wirbel gemacht, dass wir Wehrpflichtigen jetzt am Sonntag telefonieren durften oder zurückgeschickt wurden. Was wir tun, zeigt also Wirkung. Andere Eltern versucht man zu beruhigen. Sie bekommen Anrufe und hören alle ein und dieselbe Erklärung: Mama, oder Frau, reg dicht nicht auf, ich war nirgendwo, ich bin im Feldlager, ruf bloß nirgendwo an. Diese Anrufe sind ganz offensichtlich organisiert. Wieder andere Mütter haben bis jetzt noch keinen Kontakt zu ihren Söhnen.
    Dornblüth: Trotzdem schweigen viele Mütter. Wovor haben sie Angst?
    Poljakóva: Sie fürchten vieles. Vor allem haben sie Angst, dass ihr Sohn Nachteile hat, wenn sie reden. Das Schweigen der Mütter ist schrecklich.
    "Natürlich führt Russland Krieg"
    Dornblüth: Führt Russland Krieg?
    Poljakóva: Natürlich. Diese Versionen, die Soldaten würden dort ihre Freizeit verbringen oder ihren Urlaub - das ist gar nicht möglich. Nehmen wir den Wehrpflichtigen Andrej Balabanow. Aus Omsk. Presseberichten zufolge war er in der Ukraine und hat dort Asyl beantragt. Wehrpflichtige haben aber überhaupt keinen Urlaub. Und Berufssoldaten können, selbst wenn sie sich in einer großen Gruppe in einem Feldlager nahe der Grenze befinden, ohne einen Befehl nichts machen. Übrigens haben die Kameraden des Soldaten, dessen Leichnam seiner Mutter überstellt wurde, erzählt, wie der Befehl erteilt wurde: Mündlich! Die Mutter hat nachgefragt: War denn jemand nicht einverstanden, in die Ukraine zu gehen? Hat sich jemand geweigert? Ja, es haben sich welche geweigert. Und was ist mit ihnen passiert? Nichts. Diese Männer begreifen doch, was im Nachbarland passiert, aber sie gehen trotzdem. Dieses Schweigen der Lämmer, diese Unterwürfigkeit erschüttert mich.
    Dornblüth: Was muss passierten, damit sich das ändert?
    Poljakóva: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich weiß nicht, welches Übel dieses Land erst erfahren muss, damit die Leute aufwachen. Die meisten sind komplett verunsichert. Vor lauter Verunsicherung werden sie bösartig. Und dazu wirkt die Propaganda. Es gibt sehr viel Aggression in der Gesellschaft. Sie kanalisiert sich. Es entsteht das Bild einer Fünften Kolonne in der Gesellschaft. Der Zorn wird jetzt auf uns, auf die Menschenrechtsorganisationen, umgeleitet. Wir sehen das sehr deutlich. Unsere Organisation erhält Drohungen, andere auch, auch Gewaltandrohungen.
    "Man muss der Gewalt ein Hindernis entgegensetzen"
    Dornblüth: Der Westen, die EU berät zurzeit über neue Sanktionen gegen Russland. Kann der Westen Putin beeinflussen?
    Poljakóva: Er kann. Mir scheint, im Westen begreift man, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu besiegen ist. Ich habe das während der Ereignisse 1991 in Litauen begriffen. Dieses System, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, diese Gruppe von Menschen, die mit Gewalt Krieg erreichen will und eine Kultur des Todes sät - ihr kann man nur mit Gewaltlosigkeit entgegentreten. Als ich 1991 mit einem der Offiziere geredet habe, die damals dem illegalen Befehl gefolgt sind und in Vilnius gegen friedliche Demonstranten vorgegangen sind, als es dort Tote gab - als ich mit einem Offizier geredet habe, hat er gesagt: "Wissen Sie, wir haben keine Angst, wenn wir schießen und wenn auf uns geschossen wird. Die Situation kennen wir, wir sind dafür ausgebildet. Aber wenn dir ein friedlicher Mensch entgegentritt, betet oder dir Blumen schenkt, dann habe ich Angst." Man muss der Gewalt ein Hindernis entgegensetzen. Darum muss es in den Sanktionen gehen. Die Methoden müssen so sein, dass sie die Aggression im Land nicht verstärken. Bisher benutzt der Kreml die Sanktionen gegen sein eigenes Volk, provoziert noch mehr Unzufriedenheit und kanalisiert sie so, dass die Menschen nicht denken, der Kreml hat falsch entschieden, sondern: Die EU ist an allem Schuld. Deswegen muss man sehr sorgfältig überlegen. Und man muss dem Kreml helfen, aus der Sackgasse herauszukommen, in der er sich selbst gebracht hat. Man muss ihm helfen. Wie? Darüber muss man nachdenken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.