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Anklage ohne Reflexion

Es ist ein denkbar schlechtes Zeugnis, das die Journalisten Jürgen Roth, Rainer Nübel und Rainer Fromm dem deutschen Justizwesen ausstellen: Faulheit, Karriererismus und Machtspiele dominieren ihrer Ansicht nach die Gerichte. Hinter den Vorwürfen verbirgt sich jedoch ebenso eine Menge heißer Luft.

Von Christian Bommarius |
    Demokratie und Rechtsstaat sind – da beißt die Maus keinen Faden ab – wie schon im vergangenen Jahr, so auch in diesem in Gefahr. Und wie schon im vergangenen Jahr und in den Jahren zuvor, ist auch in diesem Jahr ein Buch dazu erschienen, das die vermeintlichen Hüter des Rechtsstaats ebenso kompromiss- wie schonungslos demaskiert und unerschrocken Licht ins Dunkel wirft, in dem die Vertreter der Dritten Gewalt ihre sinistren Geschäfte betreiben.

    Was die Bild-Zeitung seit Jahr und Tag behauptet, hier wird es bewiesen, was der Bürger nur ahnt, hier wird es auf 300 Seiten ausgebreitet: Die deutsche Justiz ist ein Saustall. Dass deutsche Staatsanwälte und Richter sich mit Fragen der Gerechtigkeit nicht das Gehirn zermartern, durfte schon bisher vermutet werden, aber dass sie selbst Strafverfolgung und Rechtsprechung energisch vermeiden und sich bevorzugt mit Wegschauen und Vertuschen beschäftigen, ist neu und unerhört, also ein Skandal.

    Wer Urteile sucht, die seine Vorurteile über die deutsche Justiz unwiderleglich bestätigen, wird hier zuvorkommend bedient. Wer aber eine seriöse Behandlung der unbestreitbar vorhandenen und selbst von der Justiz nicht bestrittenen Krise der Justiz erwartet, wird das Buch verärgert aus der Hand legen. Der Dauerton des Alarmismus, die Pose des Entlarvens, die Attitüde des letzten Gefechts – das sind Erkennungsmerkmale einer Literatur, die nicht auf den Kopf der Leser zielt, sondern auf seine Nerven, ein Produkt der Abteilung "Weltende und Artverwandtes", die das Publikum je nach Mode der Saison mit Schreckensmeldungen über die gelbe und die rote Gefahr, das Waldsterben und die Organisierte Kriminalität, die Vogelgrippe und den islamistischen Terror unter Spannung setzt. Nun also droht der Zusammenbruch von Demokratie und Rechtsstaat infolge jener beispiellosen Krise, in der die deutsche Justiz sich unübersehbar befindet:

    ""Eine willfährige Justiz ist auf dem besten Wege, das Gewaltmonopol des Staates aufzuweichen und aufzulösen. Bürger und Wirtschaft verlieren zunehmend das Vertrauen in eine funktionierende Rechtspflege beziehungsweise halten sie für überflüssig. Viele setzen deshalb auf andere Strategien zur Durchsetzung ihrer Interessen wie Korruption, Nötigung, Erpressung, Selbstjustiz.""

    Hier läge eventuell die Frage nahe, ob es nicht gerade die Bereitschaft zu solchen Strategien ist, die die Arbeitsfähigkeit der Justiz und das Gewaltmonopol gefährdet. Aber die Autoren greifen keine Fragen auf, sie liefern Antworten.

    Ein Beispiel: Zwischen 1990 und 1993 hat ein der Spielsucht verfallener Bankdirektor Millionen veruntreut und im Kasino Baden-Baden am Roulette-Tisch verloren. 1994 wurde er verurteilt. Der Verdacht scheint begründet, die Leitung der Spielbank habe – wie auch in einigen anderen vergleichbaren Fällen – nicht nur von der Spielsucht des Bankers, sondern auch von der Herkunft der Millionen gewusst und dennoch nicht eingriffen.

    Der Staat profitierte doppelt: Vom Kasino kassierte er die üblichen 90 Prozent als Spielbankabgabe, vom Bankdirektor verlangte der Fiskus Steuern auf das veruntreute Geld. Statt nun gegen die unlautere Spielbank-Leitung einzuschreiten, ermittelt die Baden-Badener Staatsanwaltschaft gegen einen Kollegen des Bankdirektors, der sich über die Habgier des Kasinos empört und auf eigene Faust gegen die Leitung zu ermitteln begonnen hatte.

    Gewiss kein Ruhmesblatt der Justiz, nicht der Baden-Badener Staatsanwaltschaft, die sich – wohl doch bewusst – den falschen Gegner suchte, und nicht der Gerichte, die jahrelang an der Ausbeutung spielsüchtiger Zocker nichts auszusetzen fanden. Wie aber ist der Fall ausgegangen? Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Und im Dezember 2005 entschied der Bundesgerichtshof – spät, aber immerhin – , dass ein Spielsüchtiger, der trotz einer Spielsperre im Kasino weiterhin zocken könne, Anspruch auf Erstattung der verspielten Beträge habe. Was lautet die Bilanz der Autoren?

    ""Der Spielbanken-Fall belegt beispielhaft, dass die Justiz, auch wenn sie um skandalöse Realitäten weiß, willfährige Ignoranz demonstriert und nicht handelt. Und wo mächtige Interessen bis hin zum finanziellen Nutzen des Staates durch Anklagen empfindlich gestört werden könnten, wird bewusst weggeschaut – auch wenn ein zentrales Stück Rechtsstaatlichkeit dabei auf der Strecke bleibt.""

    Das ist entschieden zu hoch gegriffen, entspricht aber der Tonlage, für die sich die Autoren mit dem ersten Satz entschieden hatten. Und es entspricht auch der Methode, jedes Fehlurteil eines Gerichts und jede Untätigkeit eines Staatsanwalts zum Skandal zu erklären und jeden Skandal zum sinnfälligen Ausdruck der allgegenwärtigen Krise der Justiz.

    Das nimmt dem Buch die Wirkung, die es erreichen will. Denn wenn das eine wie das andere ist, wenn es im Prinzip keinen Unterschied macht, ob eine mutmaßlich sexuell missbrauchte junge Frau bei der Justiz kein Gehör findet oder ein Sexualverbrecher, der eventuell zu Unrecht in den Maßregelvollzug gesteckt wurde, weil beide Fälle nur Symptome derselben Krankheit sind, als die die Autoren die Justiz betrachten, dann kann man sich die Lektüre nach den ersten Seiten sparen.

    Im Kapitel unter dem Schlagwort "Büttel für die Wirtschaft" wird beschrieben, wie Steuerfahnder in Hessen vom Finanzministerium auf der Jagd nach hochkarätigen Steuersündern offensichtlich aus so genannten standortpolitischen Gründen zurückgepfiffen wurden, wie Staatsanwälte in Stuttgart immer wieder an einer seltsamen Beißhemmung leiden, wenn sie auf die Spur von Schmiergeld- und Geldwäsche-Geschäften des Autokonzerns Daimler gesetzt werden, und wie selbst der manifeste Verdacht, Daimler und Siemens hätten sich mittels Bestechung Aufträge des Öl-für-Lebensmittel-Programms der UNO im Irak gesichert, ebenfalls zunächst keinen deutschen Staatsanwalt in Bewegung setzte.

    Würden die Autoren sich ernsthaft für ihren Gegenstand interessieren, müssten sie ihn spätestens hier ein wenig genauer betrachten. Dann würden sie erkennen, dass das Problem weniger in den Beißhemmungen besteht, die von Karriereplänen zerfressene Staatsanwälte befallen. Vielmehr liegt es darin, dass über die Erfüllung der Karrierepläne von Staatsanwälten und Richtern in den Justizministerien entschieden wird.

    Die Abhängigkeit der Judikative von der Exekutive bei Einstellungen und Beförderungen ist ein Anschlag auf die Gewaltenteilung. Er wird seit einem halben Jahrhundert von niemandem lauter beklagt als von der Justiz. Die Autoren sind derart in die Entlarvung und Verurteilung der Justiz verbissen, dass sie entlastende Umstände selbst dort nicht in Betracht ziehen, wo sie sich aufdrängen.

    Sie beklagen die zögerliche Verfolgung der Korruption. Schon wahr, aber sollte ihnen wirklich entgangen sein, dass Korruption über Jahrzehnte so gut wie gar nicht in Deutschland verfolgt wurde, nicht weil die Justiz nicht wollte, sondern weil sie hierzulande schlicht für unmöglich gehalten wurde? Und ist ihnen auch entgangen, dass Schmiergeldzahlungen deutscher Firmen im Ausland bis vor wenigen Jahren nicht nur nicht strafbar, sondern steuerlich abzugsfähig waren?

    Das Buch kommt – von ein paar Bemerkungen im Nachwort abgesehen – ohne Reflexionen aus. Es begnügt sich mit Anklage und Urteil. Schon vor seinem Erscheinen war es annonciert worden als Buch zur Korruptionsaffäre in Sachsen. Tatsächlich befasst es sich in einem Kapitel mit Sex-, Schmiergeld- und Waffengeschäften in Plauen und möglichen Verwicklungen von Polizeibeamten. Natürlich, nach allem, was man bisher weiß, handelt es sich in Sachsen nicht mehr nur um eine
    Korruptions-, sondern um eine handfeste Staatsaffäre, und die Autoren liefern am Beispiel Plauens ein paar hässliche Details. Die Sprache allerdings, in der sie darüber berichten, verrät mindestens so viel über sie wie über die beklagten Verhältnisse:

    ""Sonjas Kundenkreis bestand vornehmlich aus Türken, die in Deutschland leben. Das sexuelle Mekka der Muslime – das ist das Egerland, ein Landstrich, den ihr Mohammed wohl vergessen hat. Auf jeden Fall sind sich die koranfesten Kunden recht sicher, dass sie hier unentdeckt bleiben. Frauen sind für sie nur Dreck. Und so behandeln sie auch die willenlos gemachten Prostituierten, während sie zu Hause wieder den frömmelnden Muslim spielen.""

    Solche Sätze im Urteil eines Richters – und Deutschland hätte, ganz zu Recht, seinen nächsten Justizskandal.

    Jürgen Roth, Rainer Nübel und Rainer Fromm: Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz
    Eichborn Verlag Frankfurt am Main, 302 Seiten, 19,95 Euro.