Mittwoch, 08. Mai 2024

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Anna Calvi über ihr Album "Hunter"
"Eine Frau, die spielerisch ihre Sexualität ergründet"

Dass ihre Musik queer sei, sei nicht neu. Aber für ihr neues Album "Hunter" habe sie sich trotzdem noch einmal selbst entdeckt, sagte die Britin Anna Calvi im Dlf. Mit ihrer Musik möchte sie ausdrücken, dass es wichtiger sei, miteinander glücklich zu sein statt Geschlechterstereotype zu erfüllen.

Anna Calvi im Corsogespräch mit Christoph Reimann | 05.09.2018
    Anna Calvi bei einem Konzert im Berghain in Berlin
    Konzertauftritt von Anna Calvi im Berliner Berghain (imago / Votos-Roland Owsnitzki)
    Christoph Reimann: Anna Calvi auf der Bühne und im Interview – ein Unterschied wie Tag und Nacht. Im Konzert wälzt sich die Britin beim Gitarrensolo schon mal auf dem Boden, im Gespräch spricht sie flüsterleise, wirkt introvertiert. Tatsächlich war Anna Calvi bisher eher zurückhaltend, was Privates angeht. Ganz anders ist es jetzt beim dritten Album "Hunter". Zum Valentinstag postete sie auf Instagram ein Foto von sich und ihrer Freundin, die neue Platte wird von einem queeren Manifest begleitet. Warum die neue Direktheit?Persönliche Gründe oder haben gesellschaftliche Entwicklungen zu diesem Schritt geführt?

    Anna Calvi:
    Dieses Album sollte sich anfühlen wie die Befreiung aus einer Vielzahl von Zwängen. Ich wollte spielerisch mit meiner weiblichen Identität umgehen. Meine Musik war schon vor dieser Platte queer. Aber jetzt fühlte es sich nach dem richtigen Zeitpunkt an, das in den Vordergrund zu stellen, ohne irgendwelche Hemmungen.
    Reimann: Was für Zwänge meinen Sie?
    Calvi: Ich glaube, Frauen haben viel mit Zuschreibungen zu kämpfen, die sie einschränken. Dass zum Beispiel Frauen immer lächeln sollen und hübsch auszusehen haben. Sie sollen sexy, aber nicht zu sexy sein. Körperhaare sind verboten. Im Grunde sollen sie also das Gegenteil von dem sein, was wir Menschen eben auch manchmal sind oder darstellen. Ähnliches gilt für Männer. Die dürfen nie zeigen, dass sie verletzlich sind. Mit meinem Album möchte ich einen Raum schaffen, der nicht gegendert ist. Die Leitfrage war: Wenn wir uns frei machen von der Gender-Performanz, was würde das für das pochende Herz darunter bedeuten? Was möchte der Körper, wenn er nicht irgendeine Gender-Rolle zu spielen hat?
    Reimann: Es heißt, Ihre Freundin hat Sie eingeladen, mit ihr in Straßburg zu leben. Dort hat sie Sie ermutigt, Ihre queere Seite zu ergründen. Stimmt das?
    "Ich war eher Junge als Mädchen"
    Calvi: Ich glaube, sie hat mich mehr dazu ermutigt, meine sexuelle Identität zu ergründen. Ich bin nicht trans, aber ich sehe mich auch nicht komplett als Frau. Schon als Kind habe ich immer Dinge getan, die eigentlich Jungs vorbehalten waren: Ich habe mit Spielzeugautos gespielt und mit Schwertern gekämpft, ich habe Fußball gespielt. Ich war eher ein kleiner Junge als ein Mädchen. Dieses Gefühl, mich mehr mit männlich konnotierten Charakterzügen zu identifizieren als mit weiblichen, ist immer geblieben.
    Reimann: Wie sind Sie in Straßburg vorgegangen, bei Ihrer Entdeckungsreise?
    Calvi: Zuallererst einmal kannte ich außer meiner Freundin niemanden in Straßburg. Ich hatte gerade eine achtjährige Beziehung hinter mir und musste ganz von vorne anfangen. Es lag also nicht unbedingt an der Stadt, die mehr neue Möglichkeiten geschenkt hat – es war die Isolation. Wenn man irgendwo noch mal neu anfängt, gerade nach so einer langen Beziehung, dann muss man auch sich selbst noch einmal neu betrachten und neu aufstellen. Man stellt sich die Frage, wer man sein möchte. Das hat automatisch zu diesen Genderfragen geführt. Die waren auf einmal drängend, so drängend wie seit meiner Kindheit nicht mehr.
    "Die Frau entdeckt das Tier in sich"
    Reimann: Im Song "Hunter" singen Sie: "Ich kleide mich in Leder, eine Blume in meinem Haar". Ist das eine wortwörtliche Beschreibung oder eine Metapher?
    Calvi: Eher eine Metapher. Mir gefällt die Vorstellung der menschlichen Sexualität als wildes, hässliches, unzähmbares Wesen. Diese Momente der Freiheit haben etwas Transzendentales, Schönes, nahezu Göttliches. Wenn man mit jemandem zusammen ist und einen intimen Moment miteinander teilt.
    Reimann: Im Song selbst geht es um einen Sexclub oder Safe Space, heißt es im Presseanschreiben.
    Calvi: Es geht um eine Frau, die spielerisch ihre Sexualität ergründet. Das Ganze passiert in einem Safe Space, ja, zum Beispiel in einem Club voller Gleichgesinnter. Die Frau entdeckt das Tier in sich, vergisst sich selbst – das finde ich wunderschön.
    Reimann: Wir erleben gerade einen konservativen Backlash – in Europa, in den USA. LGBTI*-Menschen gehören mitunter zu den Leidtragenden dieser Entwicklung. Auf der anderen Seite gab es wohl zu keinem Zeitpunkt der Popgeschichte so viele queere Künstler und Künstlerinnen wie heute. Ist es eine gute Zeit, Musik zu machen, oder eine schlechte?
    Calvi: Ich glaube, es ist eine gute Zeit. Im Mainstream hat es, glaube ich, nie mehr queere Menschen gegeben als heute. Endlich sind es nicht mehr nur die Stimmen von heterosexuellen Männern, die Gehör finden. Dass es heute sozusagen ein Kollektiv gibt, das queere Inhalte verhandelt, das hat mein Album stark beeinflusst. Das hat mir Kraft gegeben.
    "Das Album hätte ich als Teenager hören wollen"
    Reimann: Haben Sie Beispiele?
    Calvi: Perfume Genius zum Beispiel, Mykki Blanco, Christine And The Queens. Es gibt gerade so viel spannende Musik, die von queeren Künstlerinnen und Künstlern gemacht wird. Als ich noch Teenager war, fühlte ich mich total allein, da gab es das nicht. Und ich glaube, daher rührt auch ein Teil der Inspiration für dieses Album: Ich wollte ein Album machen, das ich damals als Teenager hätte hören wollen, das nicht aus einer heteronormativen Perspektive geschrieben wurde, das von einer Frau erzählt, die Spaß hat.
    Reimann: Die Songs von Perfume Genius waren am Anfang noch sehr traurig und erzählten oft von der Einsamkeit. Mittlerweile hat er seine Schüchternheit abgelegt und ist sehr stolz und direkt, was seine Sexualität angeht. Was ich daran spannend finde – genauso an Ihrer Musik oder der von Janelle Monae oder St. Vincent: Das Narrativ verändert sich – weg von queeren Menschen, die immerzu zu leiden scheinen. Stattdessen erzählen Sie von einer Community, die füreinander einsteht, vom Miteinander, zum Beispiel im Song "Don’t Beat The Girl Out Of My Boy".
    Calvi: Ja. Es geht ums Glücklich-Sein - nicht darum, sich als Opfer zu betrachten. Es geht darum, den Spaß, den man haben kann, voll auszukosten.
    Reimann: War das eine bewusste Entscheidung?
    Calvi: Ja, ich glaube schon. Von dem genannten Song hatte ich tatsächlich zuerst die titelgebende Zeile im Kopf: "Don’t Beat The Girl Out Of My Boy". Mir war wichtig, dass es im Rest des Songs um Spaß geht, nicht darum, wie schwer es manchmal ist. Es sollte darum gehen, wie schön mein Gegenüber ist und wie verliebt ich in diese Person bin.
    Reimann: Ihr Gitarrenspiel ist sehr expressiv auf diesem Album, Ihre Stimme kraftvoll, aber immer kontrolliert. Hat sich da etwas geändert?
    Calvi: Ich glaube, ich habe versucht, mein Songwriting etwas zu pushen. Die Songs sollten auch musikalisch eher aus meinem Herzen kommen, weniger aus meinem Kopf. Die Lyrics sind direkter als zuvor, das sollte sich auch im Gesang und in der Gitarre spiegeln. Also wild und frei sein, wie die Songs.
    "Wild und frei sein – wie die Songs"
    Reimann: Wenn Sie Konzerte geben, wälzen Sie sich auf dem Fußboden, Sie spielen heftige Gitarrensoli, so wie man das von männlichen Rockmusikern eigentlich gar nicht mehr sehen will. Haben Sie jemals mit Ihrer Performance gehadert – eben weil das, was Sie machen, so männlich besetzt ist?
    Calvi: Aber es ist doch nur männlich, weil Männer bisher diesen Platz in der Geschichte des Rock’n’Roll für sich reklamiert haben und sie den Frauen so gut wie keinen Raum gelassen haben. Aber ein wildes Tier auf der Bühne zu sein – das ist doch nicht unbedingt den Männern vorbehalten. Die Gitarrenspieler, die ich zurzeit für die interessantesten halte, sind alle weiblich. Ich denke da an St. Vincent oder Courtney Barnett. Und ich glaube, die sind so interessant, weil es nicht diesen Kanon Gitarre spielender Frauen gibt. Wenn heute ein weißer Typ auf der Bühne niederkniet und ein Gitarrensolo spielt, ist das ein alter Hut. Aber wenn eine Frau das macht, diesen Platz für sich erobert, dann ist das etwas Neues.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.