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Antisemitische Vorurteile auf dem Vormarsch

Jeder fünfte in Deutschland lässt latent antisemitische Einstellungen erkennen. Zugleich verändern sich Formen und Ausprägungen, in Deutschland und anderswo. Was eigentlich ist Antisemitismus? Und wie verbreitet ist er in Europa? Dazu hat der Historiker Julius Schoeps vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam jetzt einen Sammelband herausgegeben - mit differenzierten Antworten, wie Margarete Limberg findet.

    Nach einer Phase des Abflauens gibt es seit 2000 europaweit eine Zunahme antisemitischer Vorurteile, und dies auch bei jungen Menschen. Ein Fünftel der europäischen Bürger hegt antijüdische Überzeugungen, rechtsextreme Parteien zogen in den letzten Jahren in Parlamente ein, wurden sogar an Regierungen beteiligt. Der Mitherausgeber dieser vergleichenden Studie über Antisemitismus in Europa, Professor Julius Schoeps:

    "Der Antisemitismus ist ein kollektives europäisches Phänomen, das in dem kollektiven Unterbewusstsein der europäischen Völker verankert ist und hat zu tun mit den christlichen Traditionen, die heute keine Rolle in dieser Art mehr spielen, aber die Vorurteilsbilder sind nach wie vor präsent."
    Da der offen rassistische Antisemitismus seit 1945 als Folge der NS-Verbrechen in Europa diskreditiert ist, stellt sich die Frage, ob es einen neuen Antisemitismus gibt. Tatsache ist: auch wenn der Antisemitismus diskreditiert ist - verschwunden ist er deshalb längst noch nicht. Verschwörungstheorien, die nach altem Muster Juden für jedes mögliche Ungemach verantwortlich machen, sind weiterhin in Umlauf.

    Antisemitismus beginnt nicht erst dort, wo sich Antisemiten als solche bezeichnen oder rechtsextrem sind. Es ist heute weitgehend Konsens in der Forschung, dass Antisemitismus also nicht mit antisemitischen Straf- und Gewalttaten oder manifesten Hasstiraden beginnt. Es gibt darüber hinaus unterschiedlich codierte Formen und wandelbare Chiffren der Judenfeindschaft.
    Die Autoren des Buches gehen der Frage nach, ob und wie sich die Formen und Funktionen antisemitischer Stereotype in den europäischen Demokratien verändert haben. Unbestritten ist ein Zusammenhang zwischen dem Verlauf des Nahostkonflikts und der Zahl antisemitischer Attacken in Europa. Professor Julius Schoeps:

    "Hier gehen verschiedene Motivbündel ineinander über. Antisemit kann man in Europa eigentlich guten Gewissens nicht mehr sein. Aber Antizionist kann man sein, darf man sein. Insofern ist das für viele eine Möglichkeit, ihre judenfeindlichen Vorbehalte zu artikulieren."
    Die Studie wirft Antizionismus oder scharfe Israelkritik keineswegs mit Antisemitismus in einen Topf und weist die oft gehörte Behauptung, wer Israel kritisiere, riskiere als Antisemit diffamiert zu werden, energisch zurück. Wo die Grenze zwischen Israelkritik und Antisemitismus liegt, ist allerdings nicht ganz einfach zu beantworten, weil die Grenzen fließend sind.

    Dabei ist in der Forschung weitgehend Konsens, dass Bilder und Auffassungen, die den Staat Israel in toto dämonisieren und perhorreszieren, als " Apartheidsystem" oder "Staatsterrorismus", sein Existenzrecht in Abrede stellen, ihn mit dem nationalsozialistischen Verbrechensregime gleichstellen oder aber die Praxis des israelischen Staates beziehungsweise seiner jüdischen Bürger direkt mit antisemitischen Klischees beschreiben, im Mindesten ein Ventil für antisemitische Codes darstellen.
    Zunehmend ins Blickfeld geraten sind bei der Diskussion über einen mutmaßlichen "neuen Antisemitismus" die muslimischen Immigranten:

    Eine französische Studie zeigt, dass negative Einstellungen gegenüber Juden bei französischen Immigranten im Durchschnitt 11,6 Prozent verbreiteter sind als bei Franzosen ohne Einwanderungshintergrund, und dass hierbei Antisemitismus mit der Intensität der Beziehung zum Islam korreliert.
    Noch nicht beantwortet ist damit die Frage, ob es sich um einen im Islam wurzelnden Antisemitismus handelt. Der Mitherausgeber der Studie, Julius Schoeps, sieht eher Anzeichen für eine in den Islam importierte Judenfeindlichkeit:

    "Ich neige dazu, dass wir es zu tun haben mit der Übernahme europäischer Stereotypen. Wenn zum Beispiel die "Protokolle der Weisen von Zion" ins Arabische übersetzt werden und Filme gedreht werden über Ritualmorde - das sind ganz typische europäische Traditionen des Antisemitismus, die hier aufgenommen werden."
    Überall in Europa führt die gemeinsame Israelfeindschaft gelegentlich zu seltsamen Bündnissen. Sie verbindet Rechtsextremisten und radikale Islamisten, obwohl muslimische Einwanderer fast in ganz Europa für Rechtsextremisten Feindbild Nummer Eins sind. Sie benutzen antiimperialistische und antizionistische Parolen, die dem Arsenal der Linken entnommen sind, und auch Teile der extremen Linken sind keineswegs vor antijüdischen Vorurteilen gefeit. Bei dem, was manche einen "neuen Antisemitismus" nennen, geht es um ein ganzes Konglomerat von Ressentiments, die, zum Teil in Codes oder Chiffren wie "Israel - Lobby" verpackt, Juden für das Unheil in der Welt verantwortlich machen. Für den Nahostkonflikt ebenso wie für die negativen Folgen der Globalisierung. Israel wird mit dem Dritten Reich gleichgesetzt und so eine Täter/Opfer - Umkehr vorgenommen.
    Eine europaweite Umfrage im Spätherbst 2003 kam zu diesem Ergebnis: 59 Prozent der EU -Bürger, und sogar 65 Prozent der Deutschen betrachteten Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden.

    Der Anstieg antisemitischer Vorfälle in den vergangenen Jahren und eine gleichzeitige Zunahme antiisraelischer Gefühle verweist ebenfalls auf eine Verbindung zwischen Antisemitismus und Israelkritik auch in Deutschland.
    Die Entwicklung in Deutschland unterscheidet sich der Untersuchung zufolge in mancherlei Hinsicht von der in den anderen EU-Ländern. Schlussstrichdebatte, Schuldabwehr, der Vorwurf an Juden, den Holocaust für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, die Darstellung Deutscher als Opfer, prägen mehr als anderswo das Bild. Aber auch hierzulande gibt es eine Anpassung an den Zeitgeist, operieren auch Rechtsextreme mit dem Vokabular der Antizionisten und Globalisierungsgegner. Und längst ist diese Weltsicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Trotz aller Anpassungen bleibt aber, so die Studie, der Antisemitismus Kernbestand sowohl der altfaschistischen wie der modernisierten rechtsextremen Ideologien, die in dem Hass auf Israel und der Globalisierungsfeindschaft neue Themenfelder gefunden haben. Professor Julius Schöps formuliert es so:

    "Es gibt keinen neuen und keinen alten Antisemitismus. Es gibt Antisemitismus, Judenfeindschaft. Es gibt neue Varianten, sagen wir es mal so."
    Noch steckt die vergleichende Antisemitismusforschung vor allem im Blick auf Migranten in den Anfängen. Mit dem vorliegenden Band "Feindbild Judentum" haben die Herausgeber einen wichtigen Beitrag dazu vorgelegt. Die Studie bietet eine Fülle von Daten und Informationen und legt den Schluss nahe, dass nicht die Frage entscheidend ist, ob es einen neuen Antisemitismus gibt, sondern dass sich hinter anscheinend modernen Erscheinungsformen in vielen Fällen die alte Judenfeindschaft verbirgt.

    Margarete Limberg über Lars Rensmann/ Julius H. Schoeps: Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa. Verlag für Berlin-Brandenburg, 516 Seiten, Euro 24,95.