Sonntag, 28. April 2024

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Antje Vollmer erwartet einen harten Wahlkampf

Lange: Seit dem vergangenen Freitag sind die Fronten für den Bundestagswahlkampf 2002 klar: Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber - so lautet das Duell, Amtsinhaber gegen Herausforderer. Damit müssen sich nun auch die kleineren Parteien auseinandersetzen, ob sie in der Opposition sind wie FDP und PDS, oder an der Regierung beteiligt - wie die Bündnisgrünen. Wie stellt sich der kleinere Koalitionspartner zu der neuen Klarheit, die da seit Freitag herrscht? Im Studio begrüße ich nun Antje Vollmer, Mitglied der Grünen und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Guten Morgen Frau Vollmer.

16.01.2002
    Vollmer: Einen schönen guten Tag.

    Lange: Frau Vollmer, was erwarten Sie vom Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber?

    Vollmer: Na, ich sehe erst einmal, dass es wieder nicht gelungen ist, in Deutschland eine Kanzlerkandidatin zu haben. Das heißt, ich weiß, dass Herr Stoiber in einem innenpolitischen Machtkampf gegen eine Frau gewonnen hat. Das zeigt, dass er eine gewisse Härte hat - nicht nur in diesem Fall, sondern sowieso. Ich erwarte, dass es von daher auch ein ziemlich harter Wahlkampf wird. Ich glaube auch, dass Bundeskanzler Schröder das so sieht. Als er noch Ministerpräsident war, gab es gelegentlich Treffen mit Stoiber und Schröder. Die kennen sich also sehr gut, und ich glaube, die werden sich nichts schuldig bleiben.

    Lange: Abgesehen von der Frauenfrage: War Stoiber trotzdem der Wunschkandidat der Grünen?

    Vollmer: Nein, das kann man nicht sagen, denn es ist doch sehr zu befürchten, dass in diesem Wahlkampf Härten auftauchen werden, von denen ich finde, dass sie den Menschen nicht gut tun - zum Beispiel die Auseinandersetzung über die Integration der Einwanderer, zum Beispiel auch bei innenpolitischen Fragen, dass Stoiber innerhalb des konservativen Lagers eine rechte Position darstellt, weiß jeder und dass er versuchen wird, die populistisch in die Debatte zu werfen, auch. Und dabei gibt es immer Verluste, gerade wenn es aggressive Stimmen sind. Wir haben eine böse Erfahrung mit der Hessenwahl gemacht - wenn auf Ängste der Bevölkerung abgezielt wird, wenn auf Verunsicherung abgezielt wird, wenn Law and Order ein Hauptthema ist, dann verliert auch das politische Klima. Deswegen befürchte ich einiges. Aber dem kann man nur begegnen, indem man um Vernunft wirbt, um die Mitte wirbt, auch um Toleranz - und Kultur übrigens, politische Kultur.

    Lange: Heißt das, dass dieses Selbstbewusstsein, was da jetzt seit Freitag von Politikern der SPD, aber auch Ihrer Partei vorneweg getragen wird, dass das Selbstbewusstsein gar nicht so echt ist?

    Vollmer: Nein, ich finde, das ist echt - weil etwas zu verteidigen ist. Das ist auch ein bisschen Substanz der alten Republik, die zu verteidigen ist - diese Toleranz, diese Offenheit, diese Weltläufigkeit, diese kulturelle Vielfalt. Und in Polarisierung muss man immer aufpassen, dass man die Mitte nicht freilässt. Das werden wir ganz sicher nicht machen.

    Lange: Haben Sie ein bisschen Sorge, dass die Koalitionsparteien Stoiber dann doch nicht so ernst nehmen, wie er ernst genommen werden sollte, dass man ein bisschen auf dieser alten Reflex-Stoppt-Strauß-Kampagne von vor 20 Jahren abzielt?

    Vollmer: Wir nehmen ihn ernst, aber ich weiß, dass er kein Strauß ist. Übrigens fehlt ihm auch was, was Strauß hatte: Stoiber ist überhaupt nicht barock, Stoiber ist bei weitem nicht so interessant, Stoiber fehlt jeder Humor, was ziemlich schon ein Nachteil ist, und auf eine merkwürdige Art und Weise ist er protestantisch. Das heißt also, er hat etwas überzogen - Musterschülerhaftes. Wenn man Kanzlerkandidat werden will, dann müssen sich die Leute einen ja in dieser Rolle sehr gut vorstellen können. Ich glaube nicht - und insbesondere nördlich der Mainlinie -, dass die Leute sich jemand von dieser Spitzentonlage von Stoiber, auch von der oft rechthaberischen Tonlage von Stoiber so schnell vertreten fühlen. Da wird also auch kulturell einiges - in wem wollen wir uns eigentlich personifizieren, wer soll das innere Gefühl dieser Republik ausdrücken - auch das wird im Hintergrund eine Rolle spielen. Ich bin ziemlich gespannt darauf, wie das läuft. Stoiber selbst wird versuchen, über andere Themen die Debatte zu führen - sicher über die Arbeitsmarktpolitik, über die Wirtschaftspolitik, das ist klar. Da hat er auch einiges zu bieten. Aber letztendlich wählt man, weil man Vertrauen haben will, dass man Ruhe hat in diesem Land und dass die notwendigen Entscheidungen ohne Polarisierung in die richtige Richtung laufen, dass sie abgewogen sind und dass man nicht gejagt wird - auch nicht von den Leuten an der Spitze der Regierung.

    Lange: Ein erheblicher Teil Ihrer Partei hat ja bisher die Regierungsbeteiligung als - ja, sagen wir ruhig - eine Kette von Niederlagen empfunden im Verhältnis zur SPD. Das spricht ja nicht so für sehr großes Selbstbewusstsein der Grünen. Wird sich daran etwas ändern müssen?

    Vollmer: Also, wenn ich mal zurückgucke, was wir mit unseren 6,7 Prozent geschafft haben - das ist sehr viel mehr als 6,7 Prozent der Handschrift dieser Regierung. Da ist vieles: Da ist natürlich der Ausstieg aus der Atomenergie, da ist der Einstieg in eine Ökologisierung der Wirtschaft mit der Ökosteuer, das ist die Orientierung auf die nächste Generation, das ist das Wachrufen der Bürgergesellschaft mit Stiftungsrecht - das ist in meinem persönlichen Fall ein Einstieg in eine Kulturpolitik, wie wir sie noch nie gehabt haben. Das ist Regionalisierung des Nahverkehrs - und überhaupt, wieder Gewicht auf die Bahn zu legen, usw. Das alles sind grüne Handschriften - insbesondere seit einem Jahr, dass wir in dem Bereich, wo wir das anfangs gar nicht hoffen konnten, nämlich in der Verbraucherpolitik und in der Landwirtschaftspolitik, eine wirkliche Wende eingeleitet haben. Und wenn man das alles geschafft hat, dann finde ich, muss man nicht so geduckt gehen. Dafür besteht kein Anlass, und ich glaube, dass die Leute auch fair und gerecht sein werden.

    Lange: Das heißt, Stoibers Kandidatur könnte unter Umständen ihrer eigenen Partei auch helfen, die bisherige Regierungsarbeit dann auch als Erfolg zu begreifen?

    Vollmer: Auf jeden Fall, wobei unser Hauptsparringspartner nicht Stoiber ist, sondern der berühmte Herr Westerwelle - das heißt, dass mit ihm jemand angetreten ist ohne Konzeptvorstellung, sondern er sagt: 'Ich greife alles das auf, was die Leute an rot-grün nervt und was den Rot-Grünen wichtig ist, also: Achtung auf die Umwelt, die Position der Frauen, eine gewisse Moral in der Politik - das alles nervt die Leute allmählich. In mir habt Ihr einen, der ist flott, der ist schnell, der ist leistungsstark und der platzt vor Selbstbewusstsein.' Solche Entscheidungen fallen auch, das zielt auf die jüngere Generation. Aber ich glaube, dass das eine sehr kurzfristige Geschichte ist. Trotzdem nehme ich diese besonders ernst, weil natürlich der Kampf um die Überzeugung der Leute ein sehr wichtiger Punkt ist, gerade für die kleinen Parteien, weil man weiß, dass sie ein Stückchen mehr als Beobachter, Kontrolleure des großen Mainstreams gewählt werden. Und diese Auseinandersetzung, die wir sowohl mit der FDP als auch mit der PDS führen müssen, das ist die eigentliche Bewährungsprobe der Grünen. Wir kämpfen darum, diesen Platz zu verteidigen. Und in diesem Platz steckt ein Stückchen der Republik, die sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat und die - wenn ich das richtig sehe - für viele Länder in der Welt so eine Art von interessantem Vorbild geworden ist. Und dazu gehört sowohl die Weltoffenheit, aber eben auch die ökologische Sensibilität, die weltpolitische gewachsene Verantwortung, die nicht militärischen Komponenten der Außenpolitik, all dieses. Und das ist es, was wir zu verteidigen haben, also ein Stückchen German Way of Life, der interessant geworden ist, was eine der großen Chancen unserer Geschichte ist - dass wir überhaupt diese Chance noch mal gehabt haben.

    Lange: Jetzt könnte ja die Lage am Arbeitsmarkt zu der großen Hypothek der Koalition werden, wenn sie es nicht schon ist. Hat die Koalition da etwas zu zaghaft reagiert?

    Vollmer: Das war ja der Hintergrund, warum auch die Grünen jetzt mit diesem Programm noch mal nach vorne gegangen sind. Also, ich möchte mal gerade aus unserer Sicht sagen: Arbeitsmarktpolitik ist immer auch Sozialpolitik. Und was uns betrüben muss ist, dass durch die Entwicklung der letzten Zeit - und das hat lange angefangen vor der rot-grünen Regierung - ganz neue Armutsgruppen entstanden sind und ganz neue soziale Brennpunkte entstanden sind. Die Armut ist praktisch vom Alter gewandert zu den Jüngsten, insbesondere zu jungen Familien, zu Alleinerziehenden. Und für die eine Arbeitsmarktpolitik zu machen, dass die noch eine Chance haben, dass ihre besondere belastete Situation berücksichtigt wird, dass sie gefördert werden bei den Wiedereinstiegen, dass mehr Teilzeittätigkeit möglich ist - das alles betrachte ich als unsere Hauptaufgabe. Und da finde ich, dass die Grünen mit ihrem starken Engagement in dieser Frage und übrigens auch mit ihrer großen Resonanz, gerade bei jungen Frauen, dass wir da eine besondere Aufgabe haben, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken. Die SPD hat eine andere traditionelle Verankerung. Die ist mehr bei denen, die die Arbeitsplätze haben, bei den Gewerkschaften. Alles das berücksichtigen wir, aber da gibt es - finde ich - eine fruchtbare Spannung, in der die Debatte aufgeführt werden muss.

    Lange: Jetzt soll ja dieses Mainzer Kombilohnmodell bundesweit ausgedehnt werden. Von dem sagen die Optimisten, das bringt vielleicht 30.000 Arbeitslose weniger. Das ist ja nicht viel bei vier Millionen. War es das jetzt bis zur Wahl?

    Vollmer: Das ist nicht viel und das ist uns und mir persönlich auch nicht ausreichend. Wir wissen aber gerade beim Arbeitsmarkt - das hat man ja an der ganzen Debatte gemerkt, die wir mit Riester auch immer gehabt haben -, da muss man sehr langfristig diskutieren auch, dass sich Mentalitäten verändern, dass sich Programme verändern. Das ist eine mit der härtesten Sachen - eine kleine Maßnahme im Arbeitsmarktbereich ist immer eine große Auseinandersetzung mit der Wirtschaft, mit der Gewerkschaft, mit dem Finanzminister. Also, ich betrachte das so, dass da weiter diskutiert wird und dass da auch weiter gehandelt werden wird. Auf jeden Fall werden jetzt die Programme festgeschrieben, die dann auch in die Koalitionen eingehen, und deswegen ist es sehr wichtig, die Debatte zu führen .- gerade über die Frage: Was ist jetzt eigentlich unsere Zielgruppe? Und das sind die jungen Familien und diejenigen, die die nächste Generation erziehen und die ihren Platz im Arbeitsbereich haben müssen, und zwar auch dauerhaft und mit ihren besonderen Bedingungen. Nicht, indem man ihre Biografien umdefiniert, sondern indem man sie ernst nimmt und ihnen dafür Chancen gibt.

    Lange: In den Informationen am Morgen war das Antje Vollmer, Politikerin der Bündnisgrünen und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Wir haben dieses Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.

    Link: Interview als RealAudio