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Armenische Lektionen. Eine Reise aus Rußland

"Antipathie gegen fremde Rede in deiner Anwesenheit ist vor allem die Furcht, es werde über dich gesprochen - und schlecht gesprochen", notiert der russische Schriftsteller Andrej Bitow zu Beginn seiner ersten Armenienreise. Armenien, das Italien der Russen, verlockt aber den Reisenden gerade durch Fremdklänge, auch wenn sie zunächst gegen die eigene Person gerichtet zu sein scheinen.

Marica Bodrozic | 02.07.2002
    Ein Freund erzählt ihm, er habe als Kind für sich das russische Wort "Ataman" stets als "Zahn" übersetzt, weil es dem armenischen Wort "Atam" geglichen habe. "Atam" bedeutete jedoch nicht "Mann", sondern "Stoßzahn", und immer, wenn er als Junge russische Bücher las, dachte er beim Wort "Ataman" an einen Mann mit Stoßzähnen.

    Die ersten Begegnungen mit dem Land seiner Sehnsucht sind denn auch für Andrej Bitow ganz und gar sprachlicher Art. Wenn seine armenischen Freunde mit ihm Russisch reden, lachen sie nie. "Kaum wechseln sie ins Armenische", heißt es an einer Stelle, "schon wird gelacht. Als lachten sie über dich, der nichts versteckt. So könnte es einem vorkommen, bis man begreift, dass man nur in der Muttersprache lachen kann." Mit lebendiger Genauigkeit und Anteilnahme an Architektur, Natur und Landschaft Armeniens zeichnet Bitow das Bild eines Landes, in dem er nichts erwartet hatte und wo ihm, wie er schreibt, "alles ein Geschenk" war. Andrej Bitow, 1937 in Leningrad geboren, ist studierter Geologe. Seit 1959 veröffentlicht er Romane, Erzählungen, Essays und Reiseberichte. 1967 war er das erste Mal als Dreißigjähriger nach Armenien gereist; seit dem hat es ihn, den Sozialismus und die Sowjetunion überdauernd, immer wieder in das "Land des Lichtes" gerührt.

    Niemals habe er, ein "hartgesottener Städter", daran gedacht, dass das Verlangen nach der Erde so sehr der Begierde gleiche. Das Licht erfuhr er in Armenien stets als ein "zuviel":

    Das Licht war in Armenien (...) mein stärkstes körperliches Erlebnis. Zu sagen, dass es zu grell war und zuviel davon gab, hieße gar nichts sagen. Es ist Licht einer besonderen Qualität, dem ich vorher noch nie begegnet bin. Ich erinnerte mich an das Licht auf der Krim, in Mittelasien, im schneeigen Hochgebirge - dort war viel Licht, grelles Licht, blendendes, sogar gellendes Licht, aber nirgendwo habe ich es so erlebt wie in Armenien.

    Zum ersten Mal sei für ihn Licht etwas ebenso Tastbares wie Wasser und Gras gewesen. Diesem Licht habe er nicht entgehen können und auch nicht entfliehen wollen. Diese geheiligt wirkende Erfahrung ging sogar so weit, dass er die mitgebrachte Sonnenbrille gleich am ersten Tag tief unten im Koffer versteckte, nur weil er unter seinen Freunden, die keine trugen, nicht auffallen wollte, vor allem aber auch, weil er "diese unerklärlich süße Qual" auskosten wollte. Hier geschieht es ihm auch, dass er mit einem Mal beten möchte:

    Nein, nicht in der Kirche, hier hätte ich auf die Knie fallen mögen. Ich tat es nicht... Sowieso lag ich in diesem Augenblick auf den Knien, hochgemut geläutert und demütig dankbar. Wortlos. Als hätte es nie Worte gegeben. Hier mußte Sprache neu erlernt, neu geboren werden, mussten die Lippen mühsam sich auftun, unerschrocken und unter Kraftaufwand.

    Überzeugt davon, dass jedem tiefen Erleben ein entsprechendes Wort immanent ist, sucht Bitow entschlossen nach einem solchen für Armenien. Am Ende führt ihn seine Suche zur Erkenntnis, dass in jedem Menschen "eine ideale Welt" - und somit ein ideales Wort für diese Welt - existiert. Diese komme mit unterschiedlicher Vollständigkeit und Stärke in uns zum Vorschein, "damit wir etwas haben", notiert der Autor, "woran wir unser Leben messen und womit wir es vergleichen können."

    Andrej Bitow hat mit humorvoller Verschmitztheit und einem präzisen, unverbraucht liebevollen Blick die Üppigkeit des Südens der armenischen Märkte, die Weite des Landes und die mythische Überhöhung des Berges Ararat beschrieben, den er irgendwie nie richtig zu Gesicht bekam. Am beeindruckendsten sind jene Beschreibungen einfacher Dinge wie jenes faustgroßen Landkäses, dem sich das Netz des Mulltuchs eingeprägt hat; oder jene Schilderungen eines kleinen Dorfes, das nach der Überzeugung seiner Einwohner einmal "die alte Hauptstadt Armeniens" war und in dem ein dösender Schuhputzer bleibenden Eindruck auf den reisenden Bitow macht. Dieser versucht nun, den Glanz der Schuhe auf einer vor Gluthitze erstarrten Landstraße zu retten, die mit einer dick abgesetzten Staubschicht bedeckt ist.

    Nach seiner Rückkehr nach Rußland stellt Bitow fest, dass es nicht leicht ist, die natürliche Abfolge seiner Reise zu beschreiben, ohne dabei allzu sehr ins Spielerische abzudriften. Heimat erfährt er nun als "Stummheit".. In Armenien habe er zehn Tage fast ausschließlich in der Gegenwart gelebt, ohne sich an die Vergangenheit zu erinnern und ohne in die Zukunft zu blicken. Das sei sehr viel gewesen, denn zu Hause gelinge es uns selten, "den Augenblick zu leben". Vielleicht ist dies das Geheimnis seines Armenien-Buches, das nun nach dreißig Jahren nach seinem Erscheinen eine weitere, überaus gelungene Neuübersetzung erfahrt: das es den Augenblick ehrt und das es von Wortlosigkeit angesichts der Schönheit handelt.

    Die hier im Deutschen vorliegende Übertragung von Rosemarie Tietze entspricht der ursprünglichen Textgestalt, die erstmals - in zensierter Form -1972 erschienen ist. Andrej Bitow hat bis 2001 Ergänzungen vorgenommen, welche, zusammen mit dem Postskriptum der Übersetzerin, das Schicksal dieses Buches lakonisch beschreiben und dabei klarmachen, dass alles ein Fatum hat, auch ein Reisebuch wie dieses.