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Armut bekämpfen mit Waffen

Paul Collier plädiert für ein radikales Umdenken in der Entwicklungspolitik. Reine Finanzhilfen bewirken aus seiner Sicht wenig. Provokant empfiehlt er in seinem Buch "Die unterste Milliarde" massive Militärpräsenz. Sandra Pfister stellt das Buch vor.

    Fünf Milliarden Arme gibt es auf der Welt. Fünf Milliarden Menschen, die mit Geldern und Projekten der Entwicklungshilfe unterstützt werden oder unterstützt werden müssten. Paul Collier behauptet: Vier von fünf Milliarden Menschen brauchen diese Gelder überhaupt nicht. Sie leben in Schwellenländern, die wirtschaftlich sehr schnell aufholen. Deshalb sollten wir unsere Hilfe auf die eine Milliarde der Weltbevölkerung konzentrieren, die immer tiefer in die Armut rutscht.

    "Entwicklungsbehörden sollten sich in den schwierigsten Umgebungen konzentrieren. Das bedeutet, sie müssten größere Risiken eingehen und damit auch ein häufigeres Scheitern. (...) Gegenwärtig treibt die große Macht der öffentlichen Meinung die Hilfsorganisationen genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie dürfen sich kein Scheitern leisten und müssen schlank sein, das heißt, niedrige Verwaltungsausgaben haben. Schuld daran sind die Normalbürger, die lautstarke Lobbys unterstützen, ohne sich die Mühe zu machen, sich selbst zu informieren."

    Paul Collier will die "bottom billion" auf die Agenda setzen, die Milliarde Menschen, die sich keine Hoffnung machen darf, dass sich ihre Lage verbessert. Die Globalisierung werde den Ärmsten der Armen nicht nützen, behauptet der Oxford-Ökonom.

    "Handel wird sie eher in die Abhängigkeit von Ressourcen treiben als ihnen neue Möglichkeiten zu eröffnen. Und die internationale Mobilität von Kapital und Fachkräften wird ihnen vermutlich eher ihr geringes Kapital und ihre Talente entziehen, als einen Wachstumsmotor darzustellen."

    Wo leben die Ärmsten der Armen? In 58 kleinen Ländern, vorwiegend in Afrika. Auch von Haiti, Laos, Birma und einigen Krisengebieten Zentralasiens ist die Rede, aber südlich der Sahara ist die Not offensichtlich am größten.

    "Dieses Buch handelt von vier Fallen, die bisher weniger Beachtung fanden: die Konfliktfalle, die Ressourcenfalle, die Falle eines Landes ohne Zugang zum Meer und umgeben von schlechten Nachbarn und die Falle der schlechten Regierungsführung in einem kleinen Land."

    Es wirkt paradox, dass erdöl- oder diamantreiche Länder gegenüber Ländern ohne Bodenschätze im Nachteil sein sollen. Doch Collier weist mit vergleichenden Studien nach, warum rohstoffreiche Länder oft in eine Armutsfalle tappen:

    "Ressourcenrenten begünstigen die Autokratie. In den ethnisch heterogenen Gesellschaften der untersten Milliarde sind solche Autokratien der wirtschaftlichen Entwicklung zutiefst hinderlich, das hat Saddam Husseins Herrschaft im Irak deutlich gemacht."

    Driftet die unterste Milliarde also ab, und wir sind zum Zuschauen verurteilt? Wäre er bloßer Analytiker, wäre Colliers Buch nur halb so gut - und auch nur halb so provokant. Collier ist davon überzeugt, dass sich die Katastrophe vermeiden lässt. Allerdings nicht mit dem, was linke Globalisierungskritiker sich traditionell auf die Fahnen schreiben, also nicht mit regionaler Integration und Fair Trade.

    "Das Problem gegenüber anderen Formen der Hilfe ist, dass es die Empfänger bestärkt, weiterhin das zu tun, was sie tun - Kaffee zu produzieren. Ein wirtschaftliches Schlüsselproblem der untersten Milliarde ist, dass die Produzenten nicht über eine kleine Anzahl von Produkten hinausgekommen sind. (...) Sie bekommen Wohlfahrt, solange sie das anbauen, was sie in der Armut festhält."

    Eine Verdopplung der Entwicklungshilfe haben sich die G8-Staaten auf die Fahnen geschrieben. Das kann auch ein querdenkender Entwicklungsökonom wie Paul Collier nicht rundweg ablehnen. Aber er sagt: Wer nur auf die Höhe der Entwicklungshilfe abhebt, der springe zu kurz. Reine Finanzhilfen bewirkten wenig.

    Um den Ärmsten der armen Länder auf die Sprünge zu helfen, bedürfe es zusätzlicher Instrumente, schreibt Collier. Wer wissen will, wie die mustergültig angewendet werden, möge sich den Marshall-Plan anschauen. Die USA halfen nicht nur mit Geld und dem Aufbau internationaler Organisationen, sondern auch mit dem Abbau von Handelsbarrieren. Und nicht zuletzt, indem sie 40 Jahren lang mit ihren Truppen in Europa präsent waren.

    Eben dazu rät Collier: zu massiver Militärpräsenz. Armut bekämpfen mit Waffen - für viele eine blanke Provokation, für Collier eine gute Idee. Plausibel liest sich das, aber unpopulärer könnte ein Sicherheitskonzept nicht sein, gerade nach der Invasion im Irak.

    Für die Verfechter traditioneller Entwicklungshilfe legt Collier weitere Stolpersteine aus. Die unterste Milliarde der Weltbevölkerung müsse in den Welthandel integriert werden. Und zwar nicht nur, indem diese Länder Agrarprodukte verkauften, sondern durch den Handel mit Industriegütern. Wenn sich arme Länder durch hohe Importzölle schützen wollten, schadeten sie damit entgegen der landläufigen Meinung sich selbst.

    Einzig vor Billigimporten aus asiatischen Schwellenländern sollten die Ärmsten der Armen geschützt werden, so Collier. Eine weitere These mit Konfliktpotenzial. Schließlich ist die Masse der Chinesen und Inder immer noch weit entfernt von Wohlstand und guten Arbeitsbedingungen.

    Die Kernthese Colliers kann uns nicht kalt lassen, weil Collier uns kritisiert. Hilfe für die Ärmsten der Armen sei nicht nur Sache der Entwicklungshilfeorganisationen. Darüber entscheide jeder mündige Bürger mit.

    "Die Linke muss sich von der Selbstbestrafung des Westens und idealisierten Vorstellungen über die Entwicklungsländer verabschieden. Armut ist nicht romantisch. Die Länder der untersten Milliarde sind keine sozialistischen Pionierexperimente. Die Linke muss lernen, das Wachstum zu lieben. (...) Die Rechte muss sich von der Vorstellung verabschieden, Entwicklungshilfe sei Teil des Problems - eine Sozialhilfe an Schmarotzer und Gauner. Sie muss den Glauben ablegen, Wachstum sei immer möglich, wenn die Gesellschaften sich nur zusammenreißen würden."

    Der Afrikaexperte und Ökonom Paul Collier hat ein äußerst sachkundiges Buch vorgelegt, das die meisten Grundannahmen der Entwicklungspolitik gegen den Strich bürstet. Obwohl der Brite die Welt mit dem Rüstzeug der Statistik interpretiert, rieselt kein Staub zwischen den Buchdeckeln hervor. Dahinter steht das Selbstverständnis des angelsächsischen Wissenschaftsbetriebes, populär schreiben zu wollen statt nur für Eingeweihte. Collier bringt statt Fußnoten deshalb lieber zugespitzt formulierte Provokationen. Und Ironie anstelle des erhobenen Zeigefingers. Das macht die Lektüre zu einem kurzweiligen Lesevergnügen voller Impulse.

    Der Ernsthaftigkeit seines Unterfangens tut das keinen Abbruch. Und dass Collier ernst genommen werden muss, beweist nicht nur seine Vergangenheit als Berater Tony Blairs. Seine Vorschläge sind als pointierte Vorlage für die G8-Runden zu interpretieren. Collier erhielt vor einem Monat in Toronto die Lorbeeren, die er für seinen mutigen Ansatz verdient: den Lionel-Gelber-Preis für das beste Sachbuch des Jahres.


    Paul Collier: Die unterste Milliarde - Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann
    C.H. Beck
    256 Seiten, 19,90 Euro