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Asiens Aufstieg
Ursachen und Folgen der geopolitischen Machtverschiebung

Die asiatischen Staaten gewinnen wirtschaftlich wie politisch an Bedeutung - und treten damit in Konkurrenz zu mächtigen westlichen Staaten. "Easternization" nennt das der britische Journalist Gideon Rachman. Im gleichnamigen Buch analysiert er diese Machtverlagerung.

Von Martin Zähringer | 31.07.2017
    Die Skyline von Schanghai am Huangpu Fluss - gesehen vom Shanghai Tower.
    Wächst und wächst und wächst: Die Skyline von Schanghai, der bedeutendsten Industriestadt Chinas. (imago / ZUMA Press)
    Gideon Rachman beschreibt in seinem neuen Buch einen historischen Prozess der Wende und konstatiert eine globale Tendenz: Die Verschiebung der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung vom Westen in den Osten. Diese Globalprognose nennt er Easternization, im Folgenden als Veröstlichung wiedergegeben.
    In zwei Teilen zu je sieben Kapiteln diskutiert er zunächst, wie sich der historische Aufstieg des Westens erklärt und untersucht dann, warum und wie die asiatischen Wirtschaftsräume erstarkt sind. Das beginnt für Rachman mit Japans Nachkriegsökonomie und führt zum derzeitigen Triumph von China, das laut IWF seit 2014 die größte Wirtschaftsmacht der Erde ist. Rachman diskutiert die neu entstandene Großmachtkonkurrenz zwischen den USA und China und erläutert aktuelle Szenarien, die den Ausbruch eines Krieges im südchinesischen Meer bedeuten könnten. Strategisch bedeutsam findet Rachman die wachsenden Militärausgaben asiatischer Staaten im Vergleich mit dem sinkenden Budget der USA und Europas.
    Ökonomischer Aufstieg steigert politische Macht
    Ein weiteres Spannungsmoment in der Machtbalance ist das Dilemma, in dem sich die pazifischen Anrainerstaaten Japan und Südkorea befinden, sie schwanken zwischen westlichem Verteidigungsbündnis und der Anziehungskraft der chinesischen Marktmacht. Als weiteres Moment der Machtverschiebung erscheint der Aufstieg Indiens, in Rachmans Diktion Asiens zweite Supermacht, und schon die schiere Größe der noch wachsenden asiatischen Bevölkerung mache die Tendenz unumkehrbar:
    "In geopolitischer Hinsicht könnte sogar eine Wachstumshemmung in China oder ganz Asien nichts mehr daran ändern. Die wirtschaftliche Entwicklung, die es China und auch Indien erlaubt, einen Status als Großmächte anzustreben, ist bereits vollzogen. Die erfahrensten Analytiker in den westlichen Regierungen operieren mit der Annahme, dass sich der Wechsel der wirtschaftlichen Macht vom Westen in den Osten fortsetzen wird und dass der ökonomische Wandel in politische Macht übertragen wird."
    Teil II - mit wiederum sieben Kapiteln - heißt Veröstlichung jenseits von Asien. Der Diskurs beginnt mit dem Verlust amerikanischer Macht durch die Entwicklungen im Mittleren Osten - eine Region, die, wie Rachman anmerkt, in nichteurozentrischer Perspektive auch West-Asien heißt.
    Die Schwächen des Westens
    Es folgt ein kritischer Blick auf Europas militärische Zurückhaltung. Diese befördere Russlands Großmachtphantasien, das zugleich mit einer Hinwendung zu China die Tendenz der Veröstlichung verstärke. Im Kontext einer schwächer werdenden westlichen Demokratie diskutiert Rachman, wie der Aufstieg autoritärer Führer wie Orban oder Erdogan zu deuten ist, und am Ende erweist sich Chinas neue Rolle in Afrika und Lateinamerika als weiteres Argument für die Machtverschiebung. Rachman schreibt:
    "Ich wuchs in der G7-Welt auf, einer Gruppierung der führenden Ökonomien der Welt, die 1975 erstmals zusammenkam. Zu diesem Zeitpunkt kamen sechs der sieben Größten aus Europa und Nordamerika, mit Japan als der einsamen Ausnahme. Aber diese Welt ist Vergangenheit."
    Doch die Hegemonie Chinas sei keine abgemachte Sache - denn Indien, Japan, Südkorea sowie die Länder Südostasiens und Australien hätten keine Freude daran, dass China eine Vorherrschaft im pazifischen Raum anstrebt. Es käme auf den politischen Willen Amerikas an, seine globale Führungsrolle unter Wahrung eines verstärkten Pazifik-Engagements zu behaupten.
    Die unsichere Haltung der USA
    Soweit die Hoffnung im Jahr 2016, als das Buch in England erschien. Dann kam der neue Präsident der USA: Trump kündigte das transpazifische Handelsabkommen TPP, stellte die "Ein-China-Politik" in Bezug auf Taiwan in Frage, machte den Aufstieg der asiatischen Mittelschicht für den Abstieg der amerikanischen verantwortlich und hob Obamas pazifische Strategie auf. Rachman erschließt diese Vorgänge im Vorwort der im Januar 2017 erschienen US-Ausgabe seines Buches und sieht einen dramatischen geostrategischen Wandel:
    "Die Nixon-Kissinger-Öffnung gegenüber China hatte vor allem den Zweck, die Sowjetunion zu isolieren und China näher an die Vereinigten Staaten zu ziehen. Die Trump-Regierung scheint das Manöver in umgekehrter Richtung zu vollziehen: Näher an Moskau heran, um somit Peking zu isolieren."
    Das sei logisch für Trump, der die Welt unter schlichten ökonomischen Gesichtspunkten des Wettbewerbs betrachte - Russland sei eben ganz im Gegensatz zu China kein ernsthafter Konkurrent auf dem Weltmarkt.
    Die Perspektive Asiens mitdenken
    In der US-Presse wird Gideon Rachmans Easternization mit Anerkennung gelesen. Auch China Daily und die chinesische Global Times nehmen das Buch als nützliche Debattengrundlage an. Die New York Times erkennt die Hauptzüge der Analyse an, bezweifelt aber Rachmans Einschätzung der chinesischen Militärstrategie bei der Taiwan-Krise 1995/96, was sich bei näherem Hinsehen als akademische Haarspalterei erweist. Die New York Review of Books schränkt grundsätzlich ein, dass es zwar "den Westen" gäbe, also das transatlantische Bündnis von Europa und den USA mit dem Bindeglied NATO; einen vergleichbar aufgestellten Akteur "Osten" aber gäbe es nicht. Rachmans geopolitischen Überblick erkennt sie jedoch an und resümiert:
    "Angetrieben durch Chinas ökonomische Dynamik ist Asien mächtiger geworden denn je. Gleichzeitig kämpfen die USA und Europa mit den großen Herausforderungen ihrer Demokratie. Die EU kämpft mit den existentiellen Bedrohungen durch den Brexit, Populisten, rechtsradikale Parteien und Mitgliedsstaaten in Osteuropa, die sich von der Demokratie abgewendet haben."
    Erwähnt wird auch, dass bei Rachman die Bedeutung der westlichen Werte unterbelichtet bleibt. Dagegen ist zu sagen: Rachmans ökonomisch fokussierte und geopolitisch interpretierte Machtanalyse wirkt gerade ohne Wertedebatte, erzeugt sie doch so eine ansatzweise neutrale Orientierung. Die Quellenlage ist breitgefächert und aktuell, Rachmans persönlicher Zugang zu den wichtigsten Institutionen und Akteuren der internationalen Politik sorgt für strategische Einsichten. Ob man die globale Machtverschiebung Veröstlichung nennen muss, bleibt die große Frage. Wie erwähnt - der Mittlere Osten heißt in China West-Asien; eine sinozentrische Sichtweise ernsthafter mitzudenken wäre analytisch von Vorteil, wenn die globalen Machtverhältnisse sich wirklich verschieben.
    Gideon Rachman: "Easternization. Asia’s Rise and America’s Decline. From Obama to Trump and Beyond"
    Verlag: Other Press, 336 Seiten, 22,99 Euro.