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Atemberaubend

Die höchste und längste Seilbahn der Welt: Diesen Nimbus lassen sie sich in Merida - der selbst ernannten Abenteuer-Hauptstadt Venezuelas hier in den Anden - nicht nehmen. Iris Araque nickt energisch. Die Marketingfrau rattert die Eckdaten des "Teleferico" nur so runter. Länge: 12,5 Kilometer. Fahrtdauer: Knapp eine Stunde. Höhe der Endstation: 4.765 Meter.

Von Michael Frantzen |
    "Merida kann sich glücklich schätzen, solch eine Touristen-Attraktion zu haben. Dieses Jahr jährt sich zum fünfzigsten Mal der Baubeginn der Seilbahn. Es war ein internationales Projekt damals: Der Bauleiter kam aus Frankreich, sein Stellvertreter aus Italien, die Techniker aus Venezuela, Argentinien und Deutschland. Drei Jahre später, 1960, konnten die ersten Touristen hoch fahren. Das Interesse war von Anfang an groß - besonders bei Wanderern und Bergsteigern."

    Was für ein Ausblick! Auf knapp viertausend Meter hat sich die Seilbahn hoch gearbeitet: Vorbei an sattgrünen Urwald-Riesen und einem Meer von lila Blumen. Und dann taucht er plötzlich am Horizont auf: Der schneebedeckte Pico Bolivar, Venezuelas höchster Berg.

    Wenn man so will, ist der knapp 5000 Meter hohe Gipfel ein guter Bekannter von Gerado Gepera. Mindestens alle zwei Wochen fährt der Mittvierziger rauf zur "Loma Redonda", der dritten von vier Seilbahnstationen, um im umliegenden Nationalpark "Sierra Nevada" nach dem Rechten zu schauen.

    " Der Nationalpark Sierra Nevada ist einer der wichtigsten in ganz Venezuela. Sein Artenreichtum ist unglaublich hoch. Er bietet gleich einer Reihe von Ökosystemen Schutz - angefangen von den Laubmischwäldern am Fuße des Gebirges, den Berg- und Nebelwäldern in den höheren Regionen bis hin zu den Gletschern ganz oben. Insgesamt weist der Nationalpark einen Höhenunterschied von fast 4500 Metern auf. "

    Über mangelnde Arbeit kann er wirklich nicht klagen: Martin Bergara, einer der Mechaniker der Seilbahn. Der 25-Jährige überprüft die Elektronik, repariert defekte Waggons - und: Ganz wichtig: Sorgt dafür, dass die mehrere Zentimeter dicken Seile richtig eingeschmiert sind. In der Hochsaison macht er das bei laufendem Geschäft, jetzt, in der Nebensaison, kann er sich den Montag und Dienstag für Wartungsarbeiten frei halten, die Seilbahn ist dann geschlossen.

    Seit vier Jahren ist der Mann aus Merida jetzt schon dabei, doch an die Anfangszeit kann er sich immer noch gut erinnern.

    "Die Kälte hat mir schon ziemlich zu schaffen gemacht - besonders oben am Pico Espejo. Es hat ein, zwei Monate gedauert, bis sich mein Körper an diese Temperaturen gewöhnt hat. In Merida wird es ja nie kälter als zehn, zwölf Grad. Und es ist ja nicht nur die Kälte: In der extremen Höhe hast du auch viel weniger Sauerstoff zum atmen, du wirst also viel schneller müde. Und fühlst dich schlapp. Am härtesten ist es von Juli bis September, wenn bei uns Winter ist."

    Bis zu tausend Touristen täglich - so viele Leute zahlen in der Hochsaison die rund dreißig Euro, um die Seilbahn nutzen zu können. Um sieben Uhr morgens verlässt die erste Merida, spätestens um drei kehrt die letzte zurück.

    Die meisten Touristen verbringen gut einen halben Tag in der Bergwelt, die "Hartgesottenen" aber - wie Haige Urera, der Leiter des Nationalparks Sierra Nevada halb ironisch meint - bleiben gleich mehrere Tage oben.

    "Wir haben in der letzten Zeit einige Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. Alle Wanderer und Bergsteiger müssen sich unten an unserer Basisstation anmelden. Damit wir wissen, wohin sie wollen. Und wir ihnen sagen können, welche Gebiete sie auf jeden Fall meiden sollten. Das erleichtert uns im Notfall die Suche nach ihnen. Es kommt aber immer wieder vor, dass einige das einfach in den Wind schreiben. Vor zwei Jahren beispielsweise - da sind zwei belgische Wanderer auf Gut Glück los gelaufen - ohne uns Bescheid zu geben. Irgendwann müssen sie sich verlaufen haben. Es hat ein Jahr gedauert, bis wir ihre Leichen in einem schwer zugänglichen Teil der Berge gefunden haben. Sie waren erfroren."

    Endstation Pico Espejo: Rechts ein etwas in die Jahre gekommenes Ausflugslokal samt 70er-Jahre-Blümchentischdecken aus Plastik und Seilbahnen in Miniaturformat; links die "Virgen de las Nieves" - die Statue der "Schneejungfrau" - und im Hintergrund der zweithöchste Berg Venezuelas - der Pico Humboldt.

    "Die ausländischen Touristen wollen vor der Abfahrt immer wissen: Und?! Ist es wolkenlos? Kann man ja auch verstehen: Die wollen halt möglichst viel von der Landschaft sehen. Bei den Einheimischen ist das anders: Die kommen am liebsten an einem wolkenverhangenen Tag. Wenn es richtig kalt ist. Also zwischen Juli und September. Weil: Dann sind die Chancen am größten, dass es am Pico Espejo schneit. Schnee ist bei uns ja etwas ganz besonders."

    Soweit Marketingleiterin Iris Araque.

    Etwas ganz besonderes ist auch der Lieblingsplatz von Haime Urera im Nationalpark Sierra Nevada. Zwei, drei Mal im Jahr fährt der Anfang Vierzigjährige rauf bis zur dritten Station - der Loma Redonda; folgt er dem schmalen Pfad, auf dem schon zu Kolonialzeiten die Indianer von "Los Nevados" - einem einsamen Nest in der Bergen - ihre Waren runter ins Tal transportierten.

    "Mein Lieblingsplatz liegt im Hochgebirge. Wo genau: Bleibt mein Geheimnis. Es herrscht dort auf jeden Fall eine unglaubliche Ruhe. Spätestens nach einer viertel Stunde vergisst du den Alltag. Und die Zeit. Es ist, als ob du eine andere Welt betrittst: Nur noch du und die Natur: Die Bergseen, dieses besondere Licht, die wunderbare Vielfalt von Flora und Fauna."

    Letztens erst hat Haime Urera wieder einen Condor gesehen - den sagenumwobenen "König der Anden." Hoch in den Lüften. Das sind die Momente, die der Leiter des Nationalparks besonders mag.

    Auf die Idee, auch noch seine Freizeit in der Sierra Nevada zu verbringen - darauf würde Martin Bergara nicht kommen. Sicher: Die Natur ist majestätisch, doch in seinem Urlaub hat der Mechaniker des "Teleferico" nur ein Ziel vor Augen.

    "Strand. Nur Strand. Bloß keine Kälte! Im Urlaub will ich irgendwo hin, wo es warm ist. Und ich wieder auftanken kann."