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Atmosphäre des Misstrauens

Seit den Terroranschlägen islamistischer Fanatiker ist alles anders in London: Das Klima hat sich dramatisch verschärft, das multikulturelle Miteinander steht auf dem Prüfstand. Londons Muslime haben sich deutlich und unmissverständlich von Gewalt und Terror distanziert. Doch im Klima des Misstrauens wächst nun auch der Unmut über die allgegenwärtigen pauschalen Verdächtigungen.

Von Ruth Rach | 02.09.2005
    Vor kurzem wurden Taheera und ihre Freundin von einer Filmcrew auf einer Straße in Ostlondon angesprochen und gefragt, was sie als junge Musliminnen über die Londoner Attentäter dächten.

    "Meine Freundin scheute zurück. Sie wollte sich nicht äußern. Eine typische Reaktion, wenn man ständig zum Sündenbock gemacht und von den Medien kollektiv an den Pranger gestellt wird. Aber ich sagte, nein. Gerade deswegen ist es umso wichtiger, dass wir den Mund aufmachen."

    Taheera und ihre Freundinnen sind sauer. Muslime stehen mittlerweile unter Generalverdacht und die immer weiter verschärften Gesetze und geplanten Neuregelungen tragen zu dieser Stimmung bei. Ihre Nachbarn schauten sie schräg an, auf der Straße würden sie angefeindet und müssten so für die Schandtaten einer Handvoll Extremisten büßen.

    "Sobald so etwas passiert, sind wir plötzlich nicht mehr britisch. Die Leute sagen: Integriert euch oder haut ab. Aber: die Attentate haben uns doch genauso getroffen."
    "Wohin sollen wir denn gehen? Wir sind doch hier zuhause."

    Die zweite Generation ist ganz anders als die erste, sagt der Student Hamza Krisi. Sie lässt sich nicht mehr alles gefallen. Hamza trägt Jeans und T-Shirt.

    "Junge Muslime haben von den besten Aspekten der westlichen Erziehung profitiert. Wir sind neugierig und kritisch. Wir wollen die Wahrheit herausfinden. Wir können nicht wegschauen, wenn andere Länder ausgebeutet und Menschen getötet werden. Wir sind nicht nur für lokale sondern auch für internationale Geschehnisse verantwortlich."

    Hamza bezeichnet sich als radikalen Sozialrevolutionär. Er kämpfe für soziale und politische Gerechtigkeit. Hamza beruft sich dabei auf den Islam. Das heiße noch lange nicht, dass er ein Extremist sei, der Selbstmordattentate gutheiße.

    Warum konzentrieren sich junge Muslime auf globale Belange, wenn es so viel in ihrer lokalen Community zu tun gäbe, fragt Fareena Alam. Fareena, 24, Kopftuchträgerin, ist Herausgeberin der muslimischen Monatszeitschrift "Q News".

    "Die muslimischen Communities in GB haben zwei Probleme. Sie fühlen sich zunehmend als Opfer. So eine Haltung ist fatal, weil sie zu dem Gefühl führen kann, alle Aktionen sind Notwehr und deshalb erlaubt."

    Zweitens lernen viele den Islam übers Internet kennen. Über Websites, die den Koran grob vereinfachen. Das führt dazu, dass sie ihre eigenen Traditionen missverstehen.

    Fareena scheut sich nicht vor Kontroversen. Wenn "Q News" über Aids, Drogen und ungewollte Schwangerschaft unter britischen Muslimen berichtet, wird sie als Nestbeschmutzerin beschimpft.

    Aber genau diese Diskussionen sind wichtig, unterstreicht Shareefa von der Muslimyouth Helpline, eine Telefonseelsorge von und für junge Muslime.

    "Die meisten Probleme sind auf eine Identitätskrise zurückzuführen, die krassen Unterschiede in den Wertsystem der verschiedenen Generationen. Die Teenager werden von ihren Eltern missverstanden, von der Gesellschaft ausgegrenzt, fallen praktisch zwischen alle Stühle."
    Auf die Zahl oder Inhalte der Anrufe haben sich die jüngsten Bombenanschläge nicht ausgewirkt. Die Hauptthemen sind weiterhin Depressionen, Beziehungsprobleme, sexueller Missbrauch. Vielleicht ist das ja ermutigend, sagt Shareefa. Seit den Anschlägen spekuliert die Öffentlichkeit pausenlos über die Radikalisierung junger Muslime. Die meisten leben in sozialen Brennpunkten. Wenn man versuchen würde, ihre soziale Situation zu verbessern, wäre ihnen schon sehr geholfen.