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Atommüll unter freiem Himmel

Der staatliche französische Stromerzeuger EDF lädt jedes Jahr 108 Tonnen seines Atommülls still und heimlich in einem 8000 Kilometer entfernten Lager in Sibirien ab.

Von Siegfried Forster |
    Aus den Augen, aus dem Sinn. Wer die Internethomepage des französischen Stromerzeugers EDF anklickt, weiß, wie sehr sich Electricité de France um die Umwelt sorgt. "96 Prozent des verbrauchten Brennstoffs in den Atomkraftwerken werden recycelt" steht da Schwarz auf Weiß.

    Doch die Realität sieht offenbar anders aus. Dies enthüllte die französische Journalistin Laure Noualhat nach einer einjährigen Recherche für den Arte-Dokumentarfilm "Albtraum Atommüll". In einem Vorbericht für ihre Zeitung Libération erklärt Noualhat, wie das Doppelspiel der französischen Nuklearindustrie funktioniert. Während die Menschen in Frankreich mit Schlagwörtern wie Verantwortung, Umweltschutz und Recycling eingeschläfert werden, verfrachten die EDF-Verantwortlichen jedes Jahr klammheimlich 120 Tonnen radioaktiven Materials in eine verbotene Stadt im russischen Sibirien. Das abgereicherte Uran ist dabei so etwas wie eine ausgepresste Orange. Es macht eigentlich keinen Sinn sie noch einmal auszupressen. Tatsache ist: Nur zehn Prozent des Strahlenguts kehren von dieser 8000 Kilometer langen Reise wieder als angereichertes Uran nach Frankreich zurück.

    "Was unseren Film motiviert hat, das war der Ausspruch von Wissenschaftler und Umweltschützer Jean Rostand: 'Die Tatsache, dass wir etwas erleiden müssen, gibt uns das Recht, darüber Bescheid zu wissen.' Wir wollten das bekannt machen."

    Nein, es geht hier nicht um ein zweites Tschernobyl, sondern um einen Skandal, der offenbar seit Mitte der 90er-Jahre heimlich per Schiff und Schiene abgewickelt wird. Das in der für Journalisten und Ausländer verbotenen Stadt Tomsk-7 "zwischengelagerte" Material ist nur schwach radioaktiv. Heute beschränkt sich die Verantwortung des französischen Strombetreibers EDF darauf, dass das radioaktive Material in Sibirien einfach unter freiem Himmel deponiert wird – genauso wie bei der 8000 Kilometer langen Reise - ohne jegliche Kontrolle und Vorsichtsmaßnahmen gegen eventuelle Flugzeugabstürze oder Terrorangriffe.

    Lästige Fragen der Dokumentarfilmer wollte EDF nicht beantworten, schließlich sei der radioaktive Ballast nach dem Transport Eigentum der russischen Wiederaufbereitungsfirma Tenex. Auch das für den Transport zuständige Unternehmen AREVA schüttelt jegliche Verantwortung von sich ab. Der weltweit größte Atomkonzern sieht sich sozusagen als Briefträger nicht verantwortlich für den Inhalt.

    Last but not least: Die staatliche französische Agentur für radioaktiven Abfall (ANDRA) erklärt sich ebenfalls als inkompetent. Denn offiziell sei dies kein Atommüll, sondern recyclingfähiges atomares Material, so der wissenschaftliche Direktor Patrick Landay:

    "Das liegt nicht im Zuständigkeitsbereich der ANDRA. Abgesehen davon veröffentlicht die Staatliche Agentur für Radioaktiven Abfall auf staatlichen Wunsch alle drei Jahre eine Bestandsaufnahme sämtlicher radioaktiver Abfälle in Frankreich."

    Alles Haarspaltereien empört sich der französische Grünenabgeordnete Noël Mamère. Für ihn handelt es sich hier um ein kriminelles Vorgehen und Umweltverbrechen:

    "EDF und Areva lassen ihre atomaren Abfälle von Zulieferfirmen entsorgen und definieren sie als atomares Material, um nicht gegen die Basler Konvention zu verstoßen. Diese sieht vor, dass jedes Land seinen Atommüll vor Ort entsorgen muss. EDF lügt und benimmt sich wie ein Umweltverbrecher. EDF und Areva verhalten sich wie Gauner."

    Wie es nach Tschernobyl Anfang der 90er-Jahre zu dieser seltsamen französisch-russischen Kooperation kam? Ganz einfach. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brauchte Russland dringend Geld und Frankreich eine Lösung für seinen Atommüll. Die Wiederaufbereitung in Russland hat den praktischen Nebeneffekt, dass 90 Prozent des strahlenden Materials in Sibirien verbleiben – immerhin 13 Prozent der Gesamtmenge, die in den französischen Reaktoren anfällt!

    Doch inzwischen hat Russland wieder mehr Geld und selbst die 30.000 Einwohner der verbotenen Stadt in Sibirien scheinen die radioaktive Verseuchung und die atomare Last nicht mehr länger stillschweigend hinzunehmen. Deshalb baut Frankreich im südlichen Tricastin gerade seine eigene Fabrik George-Besse-II, die ab 2012 die Wiederaufbereitung übernehmen soll.

    Tipp:
    Heute Abend sendet Arte den Dokumentarfilm "Albtraum Atommüll" von Eric Guéret um 21 Uhr.