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Auf den Bürger kommt es an

Guimaraes setzt auf Prominenz im Kulturhauptstadtjahr. Aber auch auf seine Einwohner - die aus der Stadt und die aus dem Umland. Sie werden eingebunden ins Programm – durch sogenannte Community-Projekte. Dort wird erzählt und sich erinnert - und auch gesungen, in den vielen Chören, die auch gemeinsam auftreten.

Von Robert B. Fishman | 06.04.2012
    Chorprobe in Santa Catu, einem Dorf zehn Autominuten nördlich von Guimaraes. Im Gemeindehaus stehen gut 20 Dorfbewohner, junge, alte im Kreis und proben - für ihren großen Auftritt als Chor der Stadtteile und Dörfer von Guimaraes im Programm des Kulturhauptstadtjahrs 2012. Mitsingerin Ellen Antunes, ein Energiebündel um die 40, setzt kurz aus und erzählt:

    "Wir haben die Leute eingeladen, hier mitzumachen. Weil es ein Projekt ist, das zum Kulturhauptstadtjahr gehört, hat es viele neugierig gemacht. Angefangen haben wir mit 7, 8 Leuten; jetzt sind wir schon 30."

    Freut sich Ellen Antunes, weil der Gesang verbindet.

    "Hier kommen junge und alte Leute zusammen, Menschen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund. Das Projekt gibt es ja an verschiedenen Orten in Guimaraes. Wir haben auch gemeinsame Proben, zu denen die Singgruppen aus den einzelnen Gemeinden zusammenkommen, dort ist es interessant zu sehen, wie auch die unterschiedlichen Generationen gemeinsame Interessen finden und teilen."

    Die von zwei Profimusikern angeleiteten Chor- und Musikabende münden im kommenden Sommer 2012 in einen großen Auftritt aller beteiligten Gruppen. Sie sind Teil des Community-Programms der Europäischen Kulturhauptstadt, das Projektleiterin Suzana Ralha verantwortet, eine nachdenkliche Frau Mitte 50.

    "Die Grundidee unseres Projektes ist es, die Menschen in der Region kennenzulernen. Es gibt viele verschiedene Kulturen, unterschiedliche Arten zu leben, zu arbeiten, zu denken. All diese verschiedenen Lebensweisen wollen wir mit künstlerischen Mitteln zusammen bringen und sie so auch den Gästen zeigen."

    Zu den künstlerischen Mitteln gehört nicht nur das Singen, es gibt auch noch andere Community-Projekte, die die Einwohner von Guimares zum Mitmachen anregen sollen. Künstler helfen Einwohnern der Dörfer rund um Guimaraes dabei, ihre Erfahrungen und Lebensgeschichten in Bilder, Texte, Skulpturen und andere Ausdrucksformen umzusetzen. Aus dem Projekt entsteht ein künstlerisches Archiv regionaler Geschichte und Geschichten, eine Art Oral History zum Hören, Anschauen und Begreifen, erklärt Community-Projektleiterin Suzanna Ralha:

    "In den 1940er-Jahren zum Beispiel gab es einen Hungermarsch - das war für viele ein prägendes Ereignis. Es war mitten im Krieg, Portugal war sehr arm. Ein Dorf hat zusammen mit der Kommunistische Partei diesen Protestmarsch organisiert. Die meisten, die damals mitgemacht haben, sind heute 90 Jahre oder älter. Sie wissen nicht so recht, wie sie uns diese Erfahrung vermitteln können. Deshalb haben wir selbst recherchiert. Die alten Leute wollen ja zeigen, welchen Mut sie damals hatten. Denn vielleicht wird dieser Mut heute wieder gebraucht."

    Den Künstlern gelingt es so manchmal, wahre Schätze zu heben. Suzana Ralha:

    "Manche wollen erzählen, wissen aber nicht wie: Sie können zum Beispiel nicht schreiben. Dabei haben sie ganz viele Geschichten und Erinnerungen im Kopf und wissen zum Beispiel, wie man früher Felder bestellt hat. Dann haben viele von ihnen Migrationserfahrung. Sie sind in den 60er- und 70er- Jahren nach Frankreich oder Deutschland ausgewandert. Viele sind ohne Geld und ohne Fahrkarte zu Fuß losmarschiert."

    Die anderen beiden Beiträge der Serie "Das Konzept der Europäischen Kulturhauptstadt Guimaraes":

    Kleinkünstler und Musiker in Guimaraes
    Kultur statt Leerstand