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Auf den Spuren der Dichter
Der Verfall von Elias Canettis Geburtshaus

Von Mirko Schwanitz |
    Elias Canetti, der deutschsprachige Schriftsteller bulgarischer Herkunft.
    Elias Canetti war ein deutschsprachiger Schriftsteller bulgarischer Herkunft. (picture-alliance / dpa / Votava)
    Platz der Freiheit: In Russes Zentrum plätschern Springbrunnen, Bäume werfen ihre Schatten über tollende Kinder. Satzfetzen dringen ans Ohr, ganz so wie es Elias Canetti, der bedeutendste Sohn dieser einst Rustschuk genannten Stadt, beschrieben hat.
    "Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Es wird mir schwerlich gelingen, von der Farbigkeit dieser frühen Jahre in Rustschuk, eine Vorstellung zu geben. Die übrige Welt hieß dort: Europa! Europa begann dort – wo das türkische Reich einst geendet hatte."
    Der Platz der Freiheit gleicht einem Hafen der Heiterkeit. Seine Kaimauern: Barocke Gebäude, das Amtsgericht, das alte Theater. Wir sind unterwegs mit Stadthistorikerin Veselina Antonova, wollen wissen, wie Russe umgeht mit dem Erbe des Literaturnobelpreisträgers?
    "Wir befinden uns hier in der jüdischen Machala, einem Stadtbezirk, mit schönen alte Häuser vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, einstöckig, meist mit Souterrain und großen Gärten."
    Nur ein paar hundert Meter vom quirligen Hauptplatz machen wir Halt vor einem niedrigen Haus. Unkraut wuchert im Vorgarten. Das Tor ist mit einer rostigen Kette verschlossen.
    "Das Gebäude, das wir hier sehen, ist das Geburtshaus von Elias Canetti. Auf dem Grundstück gab es auch einen Brunnen sowie einen Anbau für die Dienstboten und die Gouvernante."
    Lebendige Beschreibung des Lebens in Russe
    Kein anderer Autor hat das Leben in Rustschuk kurz nach Beginn des 19. Jahrhunderts lebendiger beschrieben als Elias Canetti. Doch es scheint, als wisse Russe nichts anzufangen mit dem Autor, der der Stadt einen Platz in der Weltliteratur gab. An seinem Geburtshaus gibt es bis heute keinen einzigen Hinweis, dass Canetti hier bis 1911 lebte.
    Nach dem Tod des Vaters ist Elias Canetti nur noch ein einziges Mal nach Russe zurückgekehrt - 1915. Er wohnte damals im Haus seines Onkels, der Familie Arditti. Dieses Haus ist zugleich das Geburtshaus seiner Mutter.
    Lange hat Veselina Antonova in den Archiven gesucht, Canettis Schilderungen mit historischen Dokumenten verglichen, bis sie das Haus von Canettis Mutter am Ende einer kleinen, heute völlig verbauten Straße wiederfand. Warum sie das macht?
    "Durch die Lektüre von Canettis Büchern, lernte ich, Russe aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es ist erstaunlich, dass ein Mann, der nur sechs Jahre hier lebte, sich an eine solche Fülle von Einzelheiten des Lebens hier erinnert, dass ich immer wieder neu vor meiner eigenen Stadt stehe."
    Die tut sich schwer mit dem Erbe ihres großen Sohnes. Seit Jahren kämpft die Elias-Canetti-Gesellschaft von Russe um das einstige Handelskontor von Canettis Großvater.
    "Es lag an einer steilen Straße, die von der Höhe der reicheren Viertel Rustschuks stracks zum Hafen hinab führte. An dieser Straße lagen alle größeren Geschäfte; das des Großvaters befand sich in einem dreistöckigen Haus. Man verkaufte Kolonialwaren en gros, es war ein geräumiger Laden, in dem es wunderbar roch."
    "Zurzeit wird das Haus von der Elias Canetti-Gesellschaft für Veranstaltungen genutzt. Die Tochter Canettis, will uns das Haus schenken, damit wir das Erbe ihres Vaters hier bewahren. Aber plötzlich gibt es gerichtliche Probleme, die gelöst werden müssen."
    Ein Unbekannter erhob mit gefälschten Papieren Anspruch auf das Gebäude. Bis heute hat die bulgarische Justiz diesem Spuk kein Ende gemacht, gerieten die bereits begonnenen Sanierungsarbeiten ins Stocken. Doch Veselina ist optimistisch:
    "Alle meine Kollegen in der Canetti-Gesellschaft tun, was immer möglich ist, um auf das kulturelle Erbe von Canetti aufmerksam zu machen. Inzwischen trägt ein Gymnasium in der Stadt Canettis Namen. Russes Kinder erfahren, dass in ihrer Stadt ein Literaturnobelpreisträger geboten wurde. Eine Straße ist bereits nach ihm benannt. Und dieser kleine Platz, an dem wir jetzt stehen, trägt auch seinen Namen. Hier soll schon bald sein Denkmal stehen."