Bis zur letzten Minute waren noch Bagger und Dampfwalzen auf dem Festgelände im Einsatz. In Coróa Vermelha (sprich: Verméllja), zehn Autominuten von Porto Seguro entfernt, werden die zentralen Feiern und die Messe stattfinden: dort wo einst der portugiesische Seefahrer Cabrál das Kreuz in amerikanischen Sand gerammt hatte. Eigens für diesen Festakt wurde das "Museum des Indios" errichtet. Nicht zu jedermanns Begeisterung. Für das Museum der Indios wurde eine Indianer-Siedlung dem Erdboden gleichgemacht, kritisiert das Bündnis "Andere 500 Jahre". Es organisiert eine "Gegenfeier":
Die Gegen-Feier wird seit Monaten vorbereitet, erklärt Sumário Santána vom indianischen Missionsrat CIMI (sprich: ssími). Sie steht unter dem Motto: Andere fünfhundert Jahre:
"Unser Sternmarsch symbolisiert die Kämpfe der indianischen Völker. Die Demonstration verläuft in umgekehrter Richtung zum Marsch der Portugiesen. Sie kamen vor fünfhundert Jahren nach Porto Seguro und drangen von dort aus in die letzten Winkel des Landes vor. Am Samstag werden die Demonstranten aus den letzten Winkeln des Regenwaldes in Porto Seguro eintreffen, um gemeinsam über die kommenden 500 Jahre nachzudenken. Wir müssen ein neues Brasilien entwerfen, ein Brasilien, in dem es Platz für Indianer und Schwarze gibt."
Es gäbe viele Gründe für Proteste, heißt es beim Bündnis für "andere fünfhundert Jahre", nur wenige aber für eine Feier. Brasilien sei vor fünfhundert Jahren nicht entdeckt, sondern überfallen worden. So jedenfalls argumentieren heute viele Nicht-Portugiesen in Brasilien.
"Diese 500 Jahre bedeuten nichts. Alles Lüge."
Entdeckung oder Überfall? Für die Europäer gewiss eine Entdeckung, eine Erweiterung IHRES damaligen Weltbildes. Für die Ureinwohner stellt sich die Geschichte aber anders dar. Sie beginnt am 22. April 1500, als der portugiesische Seefahrer Pedro álvares Cabrál in den untiefen Gewässern vor Coroa Vermelha ankert. Er sucht einen sicheren Hafen, um an Land zu gehen, einen "porto seguro", wie die Stadt im Süden des Bundesstaates von Bahia getauft wurde. Cabral erklärt das neue Gebiet zum Besitz der portugiesischen Monarchie und errichtet am Ufer ein Kreuz. Nach zehn Tagen setzen Cabral und seine Leute ihre Fahrt nach Indien fort.
Mit dieser Inbesitznahme war es nicht getan. Um das Land gegen spanische und französische Eindringlinge zu schützen, musste es besiedelt werden. 34 Jahre nach Cabrals erster Reise begann die Kolonisation von Porto Seguro aus. Wo neue Siedler hin sollten, da mussten die vorigen Bewohner weg. Das heißt: die Ureinwohner wurden massenweise beseitigt. Im Jahre 1500 lebten im Amazonasstaat annähernd sechs Millionen Indianer - sechs mal so viele Menschen wie im damaligen Portugal. - Heute sind es nur noch 330.000.
Die neuen Siedler brauchten eine Existenzbasis. Im großen Stil wurde der Regenwald abgeholzt und auf riesigen Plantagen Zuckerrohr angebaut. Ende des 17. Jahrhunderts wurde Gold gefunden. Die Bergwerke und Plantagen brauchten Arbeitskräfte. Aus Afrika wurden Millionen als Sklaven nach Brasilien verschleppt.
Siebzig Prozent der heutigen Bevölkerung in Bahia an der Ostküste Brasiliens sind dunkelhäutig. Und wie die Indianer gehören sie zu den Ärmsten des Landes. Auch die Afro-Brasilianer haben am 22. April nichts zu feiern, betonen sie immer wieder:
"Brasilien wurde mit dem Blut unserer Vorfahren aufgebaut. Nachdem 1888 die Sklaverei abgeschafft und die sogenannte moderne Gesellschaft errichtet wurde, wurde die Einwanderung aus Europa forciert. Sie erhielten alle Vorteile, Kredite für die Existenzgründung, die besten Arbeitsplätze, gute Ausbildung. Und die Schwarzen gingen leer aus."
Der Bürgermeister von Porto Seguro widerspricht. Er heißt Uvaldino. Uvaldino Junior ist mit 22 Jahren in die Politik eingestiegen. Heute ist er 31 Jahre alt. Ihm wird in seiner Partei, der rechts angesiedelten PFL, eine steile Karriere vorausgesagt. Uvaldino Junior betont, die brasilianische Gesellschaft sei multi-kulturell. Ein gelungenes Modell. Weltweit vorbildlich:
"Natürlich gibt es in Brasilien, wie überall auf der Welt, Rassismus. Aber sehr wenig. Bei uns sind die Schwarzen integriert. Im Süden leben viele Italiener und Deutsche, in São Paulo die Japaner. Sie alle haben sich vermischt. Wir sind ein fröhliches Volk, vereint, ohne die Probleme des Rassismus."
Umweltschützer haben zu einem Abraço (sprich: abrásso) aufgerufen, zur "Umarmung der Lagune". Das Gewässer, in bester Wohngegend, stinkt zum Himmel. Tote Fische schwimmen auf der Oberfläche, am Ufer lagern Müll und ein schwarzer Ölfilm. Die Lagune am Botanischen Gartens liegt idyllisch zwischen sattgrünen Hügeln, die langsam von den Favelas, den Elendsvierteln in Beschlag genommen werden.
Das Ufer ist von Joggern bevölkert, in teurer Freizeitkleidung, mit durchtrainierten Körpern und gepflegtem Outfit. Die Jogger sind fast ausnahmslos hellhäutig. Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Die fliegenden Händler, die Kindermädchen und die am Straßenrand wartenden Chauffeure sind schwarz.
Die Stimmung ist gut, wie auf einem Volksfest. Kinder belagern mit glänzenden Augen eine Attraktion: ein zehn Meter hohes Metall-Gestell, von dem Gummi-Gurte herabbaumeln. Damit werden Kinder festgeschnallt, nach oben gezogen und in Schwung gebracht. Von unten sieht es aus, als tanzen sie in luftiger Höhe. Die hellhäutigen Kinder tragen Sonntagskleidung. Sie sind hellhäutig. Sie werden geschaukelt von zwei jungen Schwarzen, in Jeans und T-Shirt.
"Das Spiel nennt sich "High Jump". Sie können für sechs Reais 4 Minuten lang schaukeln. Es ist für Kinder ab zwei Jahren gedacht, mit einem maximalen Gewicht von 45 Kilo. Ich heiße Luciano und wohne weit weg von hier, in der Baixada (sprich: Beischáda) Fluminénse. Ich bin Brasilianer und habe die gleichen Rechte wie alle anderen Brasilianer."
In der Nähe zieht ein Schwarzer einen Karren vom Ufer weg.
"Ich verkaufe gekühlte Kokosnüsse, zwei Reais das Stück. Das Geschäft läuft gut, ich habe alle verkauft. Sonntags ist viel los. Ich arbeite vier Stunden täglich und verdiene monatlich 160 Reais (umgerechnet 180 Mark). Natürlich habe ich dieselben Rechte wie andere Brasilianer."
Der fliegende Händler neben ihm, mit weißem Turban auf dem Kopf, nickt. Auch er hat eine tiefschwarze Hautfarbe.
"Wie viele wollen Sie? Zwei? Ja, hier, bitte! Natürlich habe ich von der Feier der 500-Jahre-Entdeckung Brasiliens gehört. Ich bin stolz darauf, Brasilianer zu sein. Das brasilianische Volk ist gut. Wir besitzen alle die gleichen Rechte. Er, Sie und ich. Die gleichen Rechte. Die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen beruhen auf der unterschiedlichen Ausbildung. Mir geht es gut, ich verkaufe Kekse, das reicht mir zum Leben."
Warum alle Jogger hellhäutig, und alle fliegenden Händler schwarz sind? Darauf bleibt er die Antwort schuldig. Nicht aber Ivanir dos Santos, der Anführer der Schwarzenbewegung in Rio de Janeiro:
"Brasilien war immer anders als die USA oder Südafrika. In Südafrika gab es die Apartheid, in den USA die Gesetze der Rassentrennung. In Brasilien wurde der Mythos geschaffen, dass es bei uns keinen Rassismus gibt. Aber es gibt die ungeschriebenen Gesetze des Arbeitsmarktes. Dort haben Schwarze keine Chancen, dort haben sie nicht dieselben Rechte, denn allein ihre Hautfarbe diktiert andere Bedingungen. Auch wenn in den Favelas inzwischen einige Weiße leben, die überwiegende Mehrzahl ist schwarz. Die brasilianische Mittel- und Oberschicht ist weiß, und auch der Karneval wird von Weißen dominiert. In den Sambaschulen defilieren weiße Schönheiten oder hellhäutige Mulattinnen. Eine Schwarze muss überdurchschnittlich schön sein, damit sie in die erste Reihe darf. Aber die Karren der Karnevalsumzüge werden von Schwarzen geschoben."
Bis vor kurzem bekleidete Ivanir dos Santos den Posten des Staatssekretärs für Menschenrechte in der Stadtverwaltung. Er ist in weiß gekleidet, mit weißer Kappe auf dem ergrauten Haar.
"Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine multikulturelle Gleichheit. Die Schmutzarbeit darf der Schwarze verrichten, während in den Büros, vor allem auf den oberen Etagen, Weiße sitzen. An den staatlichen Universitäten studieren mehr schwarze Studenten aus Afrika als schwarze Studenten aus Brasilien. In den Fakultäten Medizin, Architektur und Ingenieurswesen gibt es praktisch gar keine Schwarzen."
Nach der Entdeckung Brasiliens wurden drei Millionen Menschen aus Afrika nach Brasilien verschleppt, schätzt Ivanir dos Santos. Viele starben bei der Überfahrt. Auf den Schiffen waren sie wie Vieh untergebracht. Das durchschnittliche Lebensalter eines brasilianischen Sklaven betrug 25 Jahre.
Heute werden Schwarze in Brasilien sehr häufig als potentielle Kriminelle angesehen. Noch einmal Ivanir dos Santos:
"Laut offizieller Statistik sterben aufgrund von Handfeuerwaffen vor allem junge Schwarze, zwischen 15 und 25 Jahren. Allein ihre Hautfarbe macht sie verdächtig, die Polizei macht gezielt Jagd auf sie."
Zwar sieht das Strafgesetzbuch für Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe eine Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren vor, aber "sozialer Rassismus" steht nicht unter Strafe.
"Wer wohnt in den besseren Vierteln Rios? Weiße. Und wer in den Favelas? Schwarze. In den Restaurants von Copacabana und Ipanema bedienen nicht schwarze, sondern hellhäutige Kellner."
Hellhäutig sind auch die meisten Schauspieler, die im Fernsehen auftreten. Und weiße Journalisten bestimmen die Nachrichten. Das brasilianische Schönheitsideal - auch der Schwarzen - ist europäisches Aussehen. Denn immer mehr Schwarze wollen - nach Jahrhunderte langer Benachteiligung - nicht mehr Schwarze, sondern nur noch Brasilianer sein. Aus vielerlei Gründen. Frage an den Bürgerrechtler, ob seine Bewegung eine Quotenregelung für schwarze Arbeitskräfte diskutiert? Ja, antwortet er, aber oft erhalte er die Antwort, dass Quoten "umgekehrter Rassismus" seien. Auch in seiner PT, der "Partei der Arbeiter", sei das Thema umstritten.
"Die PT ist eine Mittelstands-Partei. Allerdings hat sie auch Mitglieder, die aus den Basisbewegungen kommen, zum Beispiel aus der Gewerkschaftsarbeit, aus den Automobil-Fabriken. Sie sind fast alle weiß. Die PT benutzt zur Interpretation der Gesellschaft die Theorie der orthodoxen Linken, sie zählt Sklaven nicht zur Arbeiterklasse. Zugleich ist die PT eine homogene Partei, die Vizegouverneurin von Rio de Janeiro etwa ist eine Schwarze, die in einer Favela geboren wurde. Wir haben die Partei aufgerufen, dass sie endlich anerkennt, dass Abhängigkeit etwas mit Rassismus zu tun hat. (Eine helle Hautfarbe haben die fortschrittlichen Kräfte in der Kirche und die Intellektuellen.) Auch die internationale Solidarität unterscheidet zwischen schwarzen Armen und weißen Armen. Unter den Landlosen im Bundesstaat Rio Grande do Sul sind viele Nachfahren der deutschen Einwanderer, mit blonden Haaren und blauen Augen. Sie erhalten viel Unterstützung von den deutschen Kirchen, während die Landlosen im Nordosten nicht nach Europa eingeladen werden."
Das Hauptproblem der Schwarzenbewegung sei, dass sich die Schwarzen nicht als Schwarze fühlen und ihre Rechte als Schwarze einfordern. Laut der Encyclopaedia Britannica sind fünfundvierzig Prozent der brasilianischen Bevölkerung dunkelhäutig. Diese Zahl sei zu niedrig, meint dos Santos:
"Laut der offiziellen, brasilianischen Statistik sind nur vier Prozent dunkelhäutig. Das ist eine Lüge, Sie müssen sich nur auf den Straßen umgucken! Aber wie wird Schwarz-Sein definiert? In den USA gilt ein Mensch als schwarz, wenn er einen schwarzen Großvater gehabt hat, wer einen Tropfen schwarzen Blutes besitzt, ist Schwarzer. Bei uns ist es genau anders herum. Wer auch nur einen Tropfen weißes Blut besitzt, hält sich für einen Weißen. Wenn wir die Definition der USA auf uns anwenden würden, dann wären 90 Prozent der Brasilianer schwarz. Unser Präsident Fernando Henrique Cardoso oder der Medienzar Roberto Marinho sind hellhäutige Mulatten. Aber sie selbst halten sich nicht für Nachfahren von afrikanischen Sklaven, sondern für Weiße."
Fünfhundert Jahre Brasilien? Worauf soll die Gesellschaft stolz sein, fragt der Anführer der Schwarzenbewegung.
"Wir sind zu diesem Fest nicht eingeladen. Aber wir werden an den Protesten der indigenen und schwarzen Bevölkerung teilnehmen. Für uns und für die Indios gibt es nichts zu feiern."
Für den Badeort Porto Seguro bedeuten die brasilianischen 500-Jahr-Feiern eine willkommene Reklame. In der Fußgängerzone wird abends alles mögliche feilgeboten: Kunsthandwerk aus Holz, Krebse in Flaschen, Hüte aus Palmenblättern, Hängematten, tropische Fruchtsäfte. Beliebt sind gekühlte Kokos-Nüsse, die Milch wird mit einem Strohhalm herausgesaugt. Auch an Drogen besteht kein Mangel.
Berimbaõ heißt das Instrument. Ein Meter hoch, man muss es zupfen wie eine Harfe, es hat nur wenige Saiten. - Die Restaurants bieten alle dasselbe Menu an: Peixe (sprich: päsche), Fisch. Doch viel davon holen die Brasilianer nicht aus dem Atlantik. Die Auswahl ist gering. Und alles wird schwimmend in gelbem Palmöl und Kokos-Milch serviert.
Auch nachts ist es noch heiß, die Männer tragen Shorts und Latschen, die Frauen enge Tops und Leggings.
Für Ulvadino Junior, den Bürgermeister von Porto Seguro, sind die vielerorts zu hörenden Proteste gegen die 500-Jahr-Feierlichkeiten kein Grund, das Fest abzusagen:
"Bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Die einen feiern, die anderen nicht. Wir haben viele Probleme, aber die Wirtschaft wächst und es entstehen Arbeitsplätze."
Seine Stadt hat den 22. April lange vorbereitet. Bisher war Porto Seguro nur als Urlaubsort bekannt, jetzt wird die Stadt in die Weltpresse gelangen.
"Diese Gelegenheit ist phantastisch. Jährlich kommen eine Million Touristen zu uns, vor allem aus Brasilien und Argentinien. Wir wollen auch Gäste aus Europa und den USA anlocken. Und am Samstag wird sich unser Badeort dem internationalen Fremdenverkehr von seiner besten Seite darbieten."
Diskriminierung der brasilianischen Ureinwohner? Der Bürgermeister verweist darauf, dass es heute den Indianern sehr viel besser geht. Dieser Hinweis ist richtig: Nach Jahrhunderten der systematischen Verfolgung und Ausrottung der indigenen Völker werden sie heute vom brasilianische Staat in Ruhe gelassen.
Vorbei sind auch die Zeiten der gut 20jährigen Militärdiktatur von 1964 bis 85. Damals galten Indianer als "Hindernis für den Fortschritt". Die Diktatur unterstellte die Indianer-Behörde "Funai" einem General, der mit militärischer Disziplin die Ureinwohner zur Anpassung an die Lebensgewohnheiten des modernen Brasiliens zwang. Damals wurden ihre traditionellen Gebiete noch kleiner als sie es sowieso schon waren. Maria Filipini gehört zu dem 1972 gegründeten Indianermissionsrat. Sie dokumentiert alle Angaben über die Ausrottung der Indianer:
"Das Volk der Uru-Eu zum Beispiel wurde bis in die 80er Jahre permanent massakriert. Immer wieder. Kautschuksammler haben uns bestätigt, dass sie in den 60er, 70er und 80er Jahren von Geschäftsleuten finanziert wurden, um die Indianer auszurotten. Nachts oder in der Morgendämmerung griffen sie die Dörfer an und töteten jedes Mal bis zu vierzig Menschen. Auch Frauen und Kinder. Sie töten alle."
Viehzüchter brannten den Regenwald ab und versetzten ihre Zäune auf Indianerland. Goldsucher drangen mit Jagdhunden tief in den Dschungel ein, vergifteten mit Quecksilber die Flüsse und machten gezielt Jagd auf Indios. Fast wäre die Rechnung der Militärs aufgegangen. 1970 gab es in Brasilien nur noch 150.000 Indios.
Heute hat sich diese Zahl verdoppelt. Die Militärs haben sich vor fünfzehn Jahren in die Kasernen zurückgezogen, die Forderungen der Indianer stoßen in der brasilianischen Gesellschaft auf Verständnis. Die 1988 verabschiedete Verfassung besagt, dass innerhalb von fünf Jahren elf Prozent des nationalen Territoriums als "Indianerland" markiert werden muss und damit den 330.000 Indianern, zwei Promille der Bevölkerung, zur Verfügung steht. Dieses Gebiet, das formell im Besitz der Bundes-Regierung bleibt, ist größer als Deutschland und Frankreich zusammen.
Bisher ist erst die Hälfte des "Indianerlands" markiert, denn schon lange regt sich Widerstand. Die landlosen Bauern, die seit Jahren für ein Stück Land auf die Barrikaden steigen, fühlen sich benachteiligt. Die Militärs fürchten, dass sie in dem riesigen Gebiet, das meiste davon im Regenwald, die Kontrolle verlieren. Großgrundbesitzer wehren sich dagegen, das von ihnen genutzte Weideland abzutreten. Und wenn gar Bodenschätze auf Indianerland gefunden werden, dann haben die Indios fast immer das Nachsehen.
Die Verfassung garantierte den Ureinwohnern erstmals alle Bürgerrechte. Zwar haben indianische Gemeinschaften immer noch den Rechtsstatus von "Waisen" und der Staat ist ihr Vormund. Sie können aber im eigenen Namen Prozesse anstrengen, wenn sie von Funai beraten werden. Die Indianer-Behörde untersteht nicht mehr der Armee, sondern seit einigen Jahren schon dem Justizministerium. Vieles ist besser geworden. Aber die Mitarbeiter der Funai können längst nicht alle Probleme lösen. Vizepräsident Otacilio Antunes:
"Wir wissen, dass wir unsere Defizite haben. Wir können nicht mehr Leute einstellen, nicht mehr Geld ausgeben, nicht mehr Experten gewinnen, um unsere eigentliche Ausgabe auszufüllen: den Schutz der indianischen Völker."
Aber es gab Fortschritte. Trotz dieser offensichtlichen Erfolge, so Sumario Santana vom Bündnis "für andere fünfhundert Jahre", sei die Hauptforderung der Indianer aber immer noch nicht erfüllt:
"Auf der Kundgebung des Sternmarsches werden wir die Erklärung über die Rechte der indigenen Völker verlesen. Unsere Hauptforderung ist die Demarkation des indianischen Landes. Sie brauchen ein Gebiet, wo sie leben und Ackerbau betreiben können."
Die Gegen-Feier wird seit Monaten vorbereitet, erklärt Sumário Santána vom indianischen Missionsrat CIMI (sprich: ssími). Sie steht unter dem Motto: Andere fünfhundert Jahre:
"Unser Sternmarsch symbolisiert die Kämpfe der indianischen Völker. Die Demonstration verläuft in umgekehrter Richtung zum Marsch der Portugiesen. Sie kamen vor fünfhundert Jahren nach Porto Seguro und drangen von dort aus in die letzten Winkel des Landes vor. Am Samstag werden die Demonstranten aus den letzten Winkeln des Regenwaldes in Porto Seguro eintreffen, um gemeinsam über die kommenden 500 Jahre nachzudenken. Wir müssen ein neues Brasilien entwerfen, ein Brasilien, in dem es Platz für Indianer und Schwarze gibt."
Es gäbe viele Gründe für Proteste, heißt es beim Bündnis für "andere fünfhundert Jahre", nur wenige aber für eine Feier. Brasilien sei vor fünfhundert Jahren nicht entdeckt, sondern überfallen worden. So jedenfalls argumentieren heute viele Nicht-Portugiesen in Brasilien.
"Diese 500 Jahre bedeuten nichts. Alles Lüge."
Entdeckung oder Überfall? Für die Europäer gewiss eine Entdeckung, eine Erweiterung IHRES damaligen Weltbildes. Für die Ureinwohner stellt sich die Geschichte aber anders dar. Sie beginnt am 22. April 1500, als der portugiesische Seefahrer Pedro álvares Cabrál in den untiefen Gewässern vor Coroa Vermelha ankert. Er sucht einen sicheren Hafen, um an Land zu gehen, einen "porto seguro", wie die Stadt im Süden des Bundesstaates von Bahia getauft wurde. Cabral erklärt das neue Gebiet zum Besitz der portugiesischen Monarchie und errichtet am Ufer ein Kreuz. Nach zehn Tagen setzen Cabral und seine Leute ihre Fahrt nach Indien fort.
Mit dieser Inbesitznahme war es nicht getan. Um das Land gegen spanische und französische Eindringlinge zu schützen, musste es besiedelt werden. 34 Jahre nach Cabrals erster Reise begann die Kolonisation von Porto Seguro aus. Wo neue Siedler hin sollten, da mussten die vorigen Bewohner weg. Das heißt: die Ureinwohner wurden massenweise beseitigt. Im Jahre 1500 lebten im Amazonasstaat annähernd sechs Millionen Indianer - sechs mal so viele Menschen wie im damaligen Portugal. - Heute sind es nur noch 330.000.
Die neuen Siedler brauchten eine Existenzbasis. Im großen Stil wurde der Regenwald abgeholzt und auf riesigen Plantagen Zuckerrohr angebaut. Ende des 17. Jahrhunderts wurde Gold gefunden. Die Bergwerke und Plantagen brauchten Arbeitskräfte. Aus Afrika wurden Millionen als Sklaven nach Brasilien verschleppt.
Siebzig Prozent der heutigen Bevölkerung in Bahia an der Ostküste Brasiliens sind dunkelhäutig. Und wie die Indianer gehören sie zu den Ärmsten des Landes. Auch die Afro-Brasilianer haben am 22. April nichts zu feiern, betonen sie immer wieder:
"Brasilien wurde mit dem Blut unserer Vorfahren aufgebaut. Nachdem 1888 die Sklaverei abgeschafft und die sogenannte moderne Gesellschaft errichtet wurde, wurde die Einwanderung aus Europa forciert. Sie erhielten alle Vorteile, Kredite für die Existenzgründung, die besten Arbeitsplätze, gute Ausbildung. Und die Schwarzen gingen leer aus."
Der Bürgermeister von Porto Seguro widerspricht. Er heißt Uvaldino. Uvaldino Junior ist mit 22 Jahren in die Politik eingestiegen. Heute ist er 31 Jahre alt. Ihm wird in seiner Partei, der rechts angesiedelten PFL, eine steile Karriere vorausgesagt. Uvaldino Junior betont, die brasilianische Gesellschaft sei multi-kulturell. Ein gelungenes Modell. Weltweit vorbildlich:
"Natürlich gibt es in Brasilien, wie überall auf der Welt, Rassismus. Aber sehr wenig. Bei uns sind die Schwarzen integriert. Im Süden leben viele Italiener und Deutsche, in São Paulo die Japaner. Sie alle haben sich vermischt. Wir sind ein fröhliches Volk, vereint, ohne die Probleme des Rassismus."
Umweltschützer haben zu einem Abraço (sprich: abrásso) aufgerufen, zur "Umarmung der Lagune". Das Gewässer, in bester Wohngegend, stinkt zum Himmel. Tote Fische schwimmen auf der Oberfläche, am Ufer lagern Müll und ein schwarzer Ölfilm. Die Lagune am Botanischen Gartens liegt idyllisch zwischen sattgrünen Hügeln, die langsam von den Favelas, den Elendsvierteln in Beschlag genommen werden.
Das Ufer ist von Joggern bevölkert, in teurer Freizeitkleidung, mit durchtrainierten Körpern und gepflegtem Outfit. Die Jogger sind fast ausnahmslos hellhäutig. Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Die fliegenden Händler, die Kindermädchen und die am Straßenrand wartenden Chauffeure sind schwarz.
Die Stimmung ist gut, wie auf einem Volksfest. Kinder belagern mit glänzenden Augen eine Attraktion: ein zehn Meter hohes Metall-Gestell, von dem Gummi-Gurte herabbaumeln. Damit werden Kinder festgeschnallt, nach oben gezogen und in Schwung gebracht. Von unten sieht es aus, als tanzen sie in luftiger Höhe. Die hellhäutigen Kinder tragen Sonntagskleidung. Sie sind hellhäutig. Sie werden geschaukelt von zwei jungen Schwarzen, in Jeans und T-Shirt.
"Das Spiel nennt sich "High Jump". Sie können für sechs Reais 4 Minuten lang schaukeln. Es ist für Kinder ab zwei Jahren gedacht, mit einem maximalen Gewicht von 45 Kilo. Ich heiße Luciano und wohne weit weg von hier, in der Baixada (sprich: Beischáda) Fluminénse. Ich bin Brasilianer und habe die gleichen Rechte wie alle anderen Brasilianer."
In der Nähe zieht ein Schwarzer einen Karren vom Ufer weg.
"Ich verkaufe gekühlte Kokosnüsse, zwei Reais das Stück. Das Geschäft läuft gut, ich habe alle verkauft. Sonntags ist viel los. Ich arbeite vier Stunden täglich und verdiene monatlich 160 Reais (umgerechnet 180 Mark). Natürlich habe ich dieselben Rechte wie andere Brasilianer."
Der fliegende Händler neben ihm, mit weißem Turban auf dem Kopf, nickt. Auch er hat eine tiefschwarze Hautfarbe.
"Wie viele wollen Sie? Zwei? Ja, hier, bitte! Natürlich habe ich von der Feier der 500-Jahre-Entdeckung Brasiliens gehört. Ich bin stolz darauf, Brasilianer zu sein. Das brasilianische Volk ist gut. Wir besitzen alle die gleichen Rechte. Er, Sie und ich. Die gleichen Rechte. Die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen beruhen auf der unterschiedlichen Ausbildung. Mir geht es gut, ich verkaufe Kekse, das reicht mir zum Leben."
Warum alle Jogger hellhäutig, und alle fliegenden Händler schwarz sind? Darauf bleibt er die Antwort schuldig. Nicht aber Ivanir dos Santos, der Anführer der Schwarzenbewegung in Rio de Janeiro:
"Brasilien war immer anders als die USA oder Südafrika. In Südafrika gab es die Apartheid, in den USA die Gesetze der Rassentrennung. In Brasilien wurde der Mythos geschaffen, dass es bei uns keinen Rassismus gibt. Aber es gibt die ungeschriebenen Gesetze des Arbeitsmarktes. Dort haben Schwarze keine Chancen, dort haben sie nicht dieselben Rechte, denn allein ihre Hautfarbe diktiert andere Bedingungen. Auch wenn in den Favelas inzwischen einige Weiße leben, die überwiegende Mehrzahl ist schwarz. Die brasilianische Mittel- und Oberschicht ist weiß, und auch der Karneval wird von Weißen dominiert. In den Sambaschulen defilieren weiße Schönheiten oder hellhäutige Mulattinnen. Eine Schwarze muss überdurchschnittlich schön sein, damit sie in die erste Reihe darf. Aber die Karren der Karnevalsumzüge werden von Schwarzen geschoben."
Bis vor kurzem bekleidete Ivanir dos Santos den Posten des Staatssekretärs für Menschenrechte in der Stadtverwaltung. Er ist in weiß gekleidet, mit weißer Kappe auf dem ergrauten Haar.
"Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine multikulturelle Gleichheit. Die Schmutzarbeit darf der Schwarze verrichten, während in den Büros, vor allem auf den oberen Etagen, Weiße sitzen. An den staatlichen Universitäten studieren mehr schwarze Studenten aus Afrika als schwarze Studenten aus Brasilien. In den Fakultäten Medizin, Architektur und Ingenieurswesen gibt es praktisch gar keine Schwarzen."
Nach der Entdeckung Brasiliens wurden drei Millionen Menschen aus Afrika nach Brasilien verschleppt, schätzt Ivanir dos Santos. Viele starben bei der Überfahrt. Auf den Schiffen waren sie wie Vieh untergebracht. Das durchschnittliche Lebensalter eines brasilianischen Sklaven betrug 25 Jahre.
Heute werden Schwarze in Brasilien sehr häufig als potentielle Kriminelle angesehen. Noch einmal Ivanir dos Santos:
"Laut offizieller Statistik sterben aufgrund von Handfeuerwaffen vor allem junge Schwarze, zwischen 15 und 25 Jahren. Allein ihre Hautfarbe macht sie verdächtig, die Polizei macht gezielt Jagd auf sie."
Zwar sieht das Strafgesetzbuch für Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe eine Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren vor, aber "sozialer Rassismus" steht nicht unter Strafe.
"Wer wohnt in den besseren Vierteln Rios? Weiße. Und wer in den Favelas? Schwarze. In den Restaurants von Copacabana und Ipanema bedienen nicht schwarze, sondern hellhäutige Kellner."
Hellhäutig sind auch die meisten Schauspieler, die im Fernsehen auftreten. Und weiße Journalisten bestimmen die Nachrichten. Das brasilianische Schönheitsideal - auch der Schwarzen - ist europäisches Aussehen. Denn immer mehr Schwarze wollen - nach Jahrhunderte langer Benachteiligung - nicht mehr Schwarze, sondern nur noch Brasilianer sein. Aus vielerlei Gründen. Frage an den Bürgerrechtler, ob seine Bewegung eine Quotenregelung für schwarze Arbeitskräfte diskutiert? Ja, antwortet er, aber oft erhalte er die Antwort, dass Quoten "umgekehrter Rassismus" seien. Auch in seiner PT, der "Partei der Arbeiter", sei das Thema umstritten.
"Die PT ist eine Mittelstands-Partei. Allerdings hat sie auch Mitglieder, die aus den Basisbewegungen kommen, zum Beispiel aus der Gewerkschaftsarbeit, aus den Automobil-Fabriken. Sie sind fast alle weiß. Die PT benutzt zur Interpretation der Gesellschaft die Theorie der orthodoxen Linken, sie zählt Sklaven nicht zur Arbeiterklasse. Zugleich ist die PT eine homogene Partei, die Vizegouverneurin von Rio de Janeiro etwa ist eine Schwarze, die in einer Favela geboren wurde. Wir haben die Partei aufgerufen, dass sie endlich anerkennt, dass Abhängigkeit etwas mit Rassismus zu tun hat. (Eine helle Hautfarbe haben die fortschrittlichen Kräfte in der Kirche und die Intellektuellen.) Auch die internationale Solidarität unterscheidet zwischen schwarzen Armen und weißen Armen. Unter den Landlosen im Bundesstaat Rio Grande do Sul sind viele Nachfahren der deutschen Einwanderer, mit blonden Haaren und blauen Augen. Sie erhalten viel Unterstützung von den deutschen Kirchen, während die Landlosen im Nordosten nicht nach Europa eingeladen werden."
Das Hauptproblem der Schwarzenbewegung sei, dass sich die Schwarzen nicht als Schwarze fühlen und ihre Rechte als Schwarze einfordern. Laut der Encyclopaedia Britannica sind fünfundvierzig Prozent der brasilianischen Bevölkerung dunkelhäutig. Diese Zahl sei zu niedrig, meint dos Santos:
"Laut der offiziellen, brasilianischen Statistik sind nur vier Prozent dunkelhäutig. Das ist eine Lüge, Sie müssen sich nur auf den Straßen umgucken! Aber wie wird Schwarz-Sein definiert? In den USA gilt ein Mensch als schwarz, wenn er einen schwarzen Großvater gehabt hat, wer einen Tropfen schwarzen Blutes besitzt, ist Schwarzer. Bei uns ist es genau anders herum. Wer auch nur einen Tropfen weißes Blut besitzt, hält sich für einen Weißen. Wenn wir die Definition der USA auf uns anwenden würden, dann wären 90 Prozent der Brasilianer schwarz. Unser Präsident Fernando Henrique Cardoso oder der Medienzar Roberto Marinho sind hellhäutige Mulatten. Aber sie selbst halten sich nicht für Nachfahren von afrikanischen Sklaven, sondern für Weiße."
Fünfhundert Jahre Brasilien? Worauf soll die Gesellschaft stolz sein, fragt der Anführer der Schwarzenbewegung.
"Wir sind zu diesem Fest nicht eingeladen. Aber wir werden an den Protesten der indigenen und schwarzen Bevölkerung teilnehmen. Für uns und für die Indios gibt es nichts zu feiern."
Für den Badeort Porto Seguro bedeuten die brasilianischen 500-Jahr-Feiern eine willkommene Reklame. In der Fußgängerzone wird abends alles mögliche feilgeboten: Kunsthandwerk aus Holz, Krebse in Flaschen, Hüte aus Palmenblättern, Hängematten, tropische Fruchtsäfte. Beliebt sind gekühlte Kokos-Nüsse, die Milch wird mit einem Strohhalm herausgesaugt. Auch an Drogen besteht kein Mangel.
Berimbaõ heißt das Instrument. Ein Meter hoch, man muss es zupfen wie eine Harfe, es hat nur wenige Saiten. - Die Restaurants bieten alle dasselbe Menu an: Peixe (sprich: päsche), Fisch. Doch viel davon holen die Brasilianer nicht aus dem Atlantik. Die Auswahl ist gering. Und alles wird schwimmend in gelbem Palmöl und Kokos-Milch serviert.
Auch nachts ist es noch heiß, die Männer tragen Shorts und Latschen, die Frauen enge Tops und Leggings.
Für Ulvadino Junior, den Bürgermeister von Porto Seguro, sind die vielerorts zu hörenden Proteste gegen die 500-Jahr-Feierlichkeiten kein Grund, das Fest abzusagen:
"Bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Die einen feiern, die anderen nicht. Wir haben viele Probleme, aber die Wirtschaft wächst und es entstehen Arbeitsplätze."
Seine Stadt hat den 22. April lange vorbereitet. Bisher war Porto Seguro nur als Urlaubsort bekannt, jetzt wird die Stadt in die Weltpresse gelangen.
"Diese Gelegenheit ist phantastisch. Jährlich kommen eine Million Touristen zu uns, vor allem aus Brasilien und Argentinien. Wir wollen auch Gäste aus Europa und den USA anlocken. Und am Samstag wird sich unser Badeort dem internationalen Fremdenverkehr von seiner besten Seite darbieten."
Diskriminierung der brasilianischen Ureinwohner? Der Bürgermeister verweist darauf, dass es heute den Indianern sehr viel besser geht. Dieser Hinweis ist richtig: Nach Jahrhunderten der systematischen Verfolgung und Ausrottung der indigenen Völker werden sie heute vom brasilianische Staat in Ruhe gelassen.
Vorbei sind auch die Zeiten der gut 20jährigen Militärdiktatur von 1964 bis 85. Damals galten Indianer als "Hindernis für den Fortschritt". Die Diktatur unterstellte die Indianer-Behörde "Funai" einem General, der mit militärischer Disziplin die Ureinwohner zur Anpassung an die Lebensgewohnheiten des modernen Brasiliens zwang. Damals wurden ihre traditionellen Gebiete noch kleiner als sie es sowieso schon waren. Maria Filipini gehört zu dem 1972 gegründeten Indianermissionsrat. Sie dokumentiert alle Angaben über die Ausrottung der Indianer:
"Das Volk der Uru-Eu zum Beispiel wurde bis in die 80er Jahre permanent massakriert. Immer wieder. Kautschuksammler haben uns bestätigt, dass sie in den 60er, 70er und 80er Jahren von Geschäftsleuten finanziert wurden, um die Indianer auszurotten. Nachts oder in der Morgendämmerung griffen sie die Dörfer an und töteten jedes Mal bis zu vierzig Menschen. Auch Frauen und Kinder. Sie töten alle."
Viehzüchter brannten den Regenwald ab und versetzten ihre Zäune auf Indianerland. Goldsucher drangen mit Jagdhunden tief in den Dschungel ein, vergifteten mit Quecksilber die Flüsse und machten gezielt Jagd auf Indios. Fast wäre die Rechnung der Militärs aufgegangen. 1970 gab es in Brasilien nur noch 150.000 Indios.
Heute hat sich diese Zahl verdoppelt. Die Militärs haben sich vor fünfzehn Jahren in die Kasernen zurückgezogen, die Forderungen der Indianer stoßen in der brasilianischen Gesellschaft auf Verständnis. Die 1988 verabschiedete Verfassung besagt, dass innerhalb von fünf Jahren elf Prozent des nationalen Territoriums als "Indianerland" markiert werden muss und damit den 330.000 Indianern, zwei Promille der Bevölkerung, zur Verfügung steht. Dieses Gebiet, das formell im Besitz der Bundes-Regierung bleibt, ist größer als Deutschland und Frankreich zusammen.
Bisher ist erst die Hälfte des "Indianerlands" markiert, denn schon lange regt sich Widerstand. Die landlosen Bauern, die seit Jahren für ein Stück Land auf die Barrikaden steigen, fühlen sich benachteiligt. Die Militärs fürchten, dass sie in dem riesigen Gebiet, das meiste davon im Regenwald, die Kontrolle verlieren. Großgrundbesitzer wehren sich dagegen, das von ihnen genutzte Weideland abzutreten. Und wenn gar Bodenschätze auf Indianerland gefunden werden, dann haben die Indios fast immer das Nachsehen.
Die Verfassung garantierte den Ureinwohnern erstmals alle Bürgerrechte. Zwar haben indianische Gemeinschaften immer noch den Rechtsstatus von "Waisen" und der Staat ist ihr Vormund. Sie können aber im eigenen Namen Prozesse anstrengen, wenn sie von Funai beraten werden. Die Indianer-Behörde untersteht nicht mehr der Armee, sondern seit einigen Jahren schon dem Justizministerium. Vieles ist besser geworden. Aber die Mitarbeiter der Funai können längst nicht alle Probleme lösen. Vizepräsident Otacilio Antunes:
"Wir wissen, dass wir unsere Defizite haben. Wir können nicht mehr Leute einstellen, nicht mehr Geld ausgeben, nicht mehr Experten gewinnen, um unsere eigentliche Ausgabe auszufüllen: den Schutz der indianischen Völker."
Aber es gab Fortschritte. Trotz dieser offensichtlichen Erfolge, so Sumario Santana vom Bündnis "für andere fünfhundert Jahre", sei die Hauptforderung der Indianer aber immer noch nicht erfüllt:
"Auf der Kundgebung des Sternmarsches werden wir die Erklärung über die Rechte der indigenen Völker verlesen. Unsere Hauptforderung ist die Demarkation des indianischen Landes. Sie brauchen ein Gebiet, wo sie leben und Ackerbau betreiben können."