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Auf gute Nachbarschaft

Es ist noch gar nicht lange her, da gab es in Palermo fast täglich Schießereien und Tote. Gegnerische Clans haben das Territorium inzwischen untereinander aufgeteilt, die organisierte Kriminalität hat sich in vielen Gesellschaftsbereichen eingenistet, für Fremde oft unsichtbar und unbemerkt. Doch fast alle Bürger tragen am Joch der Mafia, jeder auf seine Weise.

Mit Reportagen von Karl Hoffmann, Redakteurin am Mikrofon: Barbara Schmidt-Mattern |
    Alleine in Sizilien fließen jährlich etwa fünf Milliarden Euro in die Hände der Bosse. Fast alle Geschäftsleute müssen Schutzgeld zahlen, auch wenn es nur wenige zugeben. Die Sonderabgabe wird auf die Kunden umgelegt, die in Sizilien teurer einkaufen als im übrigen Italien. Leisten Unternehmer der Mafia Widerstand, gehen ihre Betriebe nicht selten in Flammen auf.

    Nicht nur Richter und Staatsanwälte, auch Journalisten, die lediglich über die Mafia berichten, müssen mit Polizeischutz leben. Hohe Arbeitslosigkeit und verbreitete Armut sind zugleich Folge und Nährboden der organisierten Kriminalität. Sie hat wichtige Funktionen der öffentlichen Hand übernommen. Ob Maurer oder Handwerker, Straßenverkäufer oder selbsternannte Parkwächter - auch sie sind oft Nutznießer der Mafia, weil die ihr karges Leben organisiert und in Ordnung hält, wo der Staat versagt.

    Die Folgen dieses rückständigen Klassensystems tragen dann jene Lehrerinnen, die versuchen, Kinder aus Mafiavierteln zur Legalität zu erziehen. Inzwischen sollen auch Priester auf den rechten Weg gebracht werden, um sich vom Verdacht der Komplizenschaft mit ach so gläubigen Bossen zu befreien: In speziellen Kursen studieren sie die Geschichte der Mafia - denn der Kampf gegen sie, so die Einsicht heute, muss auch in den Kirchen geführt werden. Leben mit der Mafia - in Palermo ein Alltagsgeschäft.



    Corrado Cattani hieß der junge Polizeikommissar, der in den 80er-Jahren im deutschen Fernsehen "Allein gegen die Mafia" ermittelte. Sizilien war 1984 Cattanis erster Einsatzort. Mit ihren vielen Nachtaufnahmen und dem unermüdlich kämpfenden Commissario war die Serie stilprägend: Cattanis psychische Zermürbung, die Brutalität der Killer und die vermeintlich weißen Westen der Capos - all das war realitätsgetreu inszeniert. Bis weit in die 90er-Jahre hinein gab es Fortsetzungen, doch am stärksten waren die frühen Folgen. Zu den ehrenwerten Schurken der ersten Staffel zählten ein Professor, ein Bankier und ein Anwalt. Heute, 25 Jahre später, ist es bei der Cosa Nostra auf Sizilien nicht viel anders.

    Sie versorgt die Armen und bedient die Reichen. Seit jeher ist die Mafia eine mächtige Subkultur. Der Staat hat ihr wenig entgegenzusetzen. Gelegentlich mischen einige Politiker sogar munter mit. Der ehemalige Regionalpräsident Salvatore Cuffaro zum Beispiel: Obwohl er wegen Unterstützung der Mafia in erster Instanz zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, hat er sich nach seiner Amtsniederlegung fröhlich in den römischen Senat wählen lassen. In Sizilien ist Cuffaro nach wie vor ziemlich beliebt. Überhaupt fragt die italienische Öffentlichkeit nur noch selten nach den moralischen Qualitäten ihrer Politiker. Ein Desinteresse, das der Journalist Lirio Abbate kaum nachvollziehen kann.



    Der Journalist
    Die Villa Trabia liegt an Palermos Prachtstraße Via Liberta. Sie war einst von Baronen bewohnt, an diesem Vormittag werden die prachtvollen Säle für öffentliche Veranstaltungen genutzt. Mafia und Medien ist das heutige Thema. Mitglieder des sizilianischen Journalistenverbandes halten dazu Vorträge.

    Der letzte auf der Liste ist Lirio Abbate, ein junger Journalist, Mitte dreißig, im dunkelblauen Anzug, mit kurzen, lockigen Haaren und blauen Augen. Er tritt entschieden auf, steigert seinen Vortrag, hebt die Stimme und klagt unumwunden an.

    "Wir müssen konsequent sein, besonders wir Journalisten, wir müssen uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen. Wenn sich Journalisten mit der Mafia einlassen und Pressekampagnen für die Cosa Nostra organisieren, gibt es nur eine Lösung: wir schließen all jene Journalisten aus, die Verbindungen mit der Mafia haben. Setzen wir sie vor die Türe."

    Journalisten, die mit der Mafia unter einer Decke stecken - das hat man bisher noch nicht gehört. Verräter in den eigenen Reihen? Bisher war es umgekehrt. Journalisten sind eigentlich Opfer der Mafia. Wie Lirio Abbate selbst.

    Nach seinem Vortrag geht Lirio in ein Cafe in die kleine Fußgängerzone von Palermo. Kein Interview zuhause, keines im Büro der Nachrichtenagentur ANSA, für die er seit vielen Jahren über die Mafia berichtet. Nur an einem neutralen Ort kann er reden. Eines Morgens vor etwa zwei Jahren standen Carabinieri vor seiner Wohnung und erklärten ihm, dass die Mafia ihn umzubringen versuche. Während einer Gerichtsverhandlung hatte der wegen vielfachen Mordes angeklagte Boss Leoluca Bagarella den ANSA-Journalisten Lirio Abbate öffentlich beschimpft. Was nach den Regeln der Cosa Nostra einem Mordauftrag gleichkommt.

    "Bagarella hat sich über einige Meldungen aufgeregt, die ich verbreitet habe über einen neuen Geheimpakt von Mafiosi im Zuchthaus. Der ist daraufhin geplatzt, denn meine Enthüllung hatte auch Folgen für die in Freiheit lebenden Mitglieder der Organisation. Bagarella beschimpft mich also bei der erstbesten Gelegenheit im Gerichtssaal. Ich würde gerne begreifen, wie ein Mafioso, der im Gefängnis streng isoliert ist, wissen konnte, dass diese Nachricht von der Agentur ANSA kommt und dass ich der Autor der Meldung bin. Das ist erschreckend."

    Kann aber nach Abbates Einschätzung nur Eines bedeuten: Die Bosse haben auch hinter hohen Gefängnismauern Zuträger, die genug Macht und Einfluss besitzen, um den Kontakt zu den schwer bewachten Bossen zu halten. Jemand hat Lirio Abbate an die Mafia verraten. Und deshalb lebt und arbeitet er unter Polizeischutz, fühlt sich bedroht, muss um jeden Preis seine Privatsphäre schützen, denn er hat eine Frau und ein kleines Kind. Und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist er nicht sicher: Jüngst wurde ein gestohlenes Moped vor seinem Haus angezündet. Eine unverhüllte Drohung. Anders als sein neapolitanischer Kollege Roberto Saviano, dessen Buch gegen die Camorra eine breite Öffentlichkeit zu seinen Gunsten mobilisiert hat, steht Lirio Abbate allein auf weiter Flur. Sein Glück ist, dass die Mafia heute nicht mehr ständig zu roher Gewalt greift.

    "Die Mafiosi gehen heutzutage nicht mehr herum und bringen ständig Leute um. Wenn heute Mafiosi festgenommen werden, dann sind es Ärzte, Geschäftsleute oder Unternehmer, die eine gesellschaftliche Stellung in Palermo haben. Und die sich mit Mafiamethoden öffentliche Gelder unter den Nagel reißen. Diese Mafia verbündet sich mit einflussreichen Politikern, die massenhaft Steuergelder als Investitionshilfen verteilen, die dann in dunklen Kanälen verschwinden."

    Lirio Abbate trinkt seinen Espresso aus und sieht in die Höhe, sein Blick fällt auf die Fensterfronten der Büros in der Fußgängerzone. Unwillkürlich stellt sich die Frage, wie viele zweifelhafte Geschäfte dort wohl abgewickelt werden, verborgen vor der Öffentlichkeit, die längst nicht mehr konsequent gegen das Übel der Mafia handelt.

    "Die gleichen Leute, die man auf den Demos gegen die Mafia sieht, mit T-Shirts und dem Slogan wir sind gegen den Pizzo, die Schutzgelder, die gleichen findet man wieder am Abend auf der Piazza im Stadtviertel Borgo Vecchio, wo die Mafia herrscht. Sie kaufen ihr Bier bei einem stadtbekannten Mafioso, und da frag ich mich, wo zum Teufel bleibt da die Konsequenz? Diese Leute müsste man völlig isolieren, Aber nein, jeden Abend ist dort die Hölle los, und beim Mafioso klingelt die Kasse. Also da stimmt doch was nicht."

    Lirio Abbate geht abends schon lange nicht mehr aus. Sicherheitsgründe. Er zahlt seinen Kaffee, verabschiedet sich und läuft langsam in Richtung seines Büros. Zwei unauffällige Gestalten lösen sich von den Schaufenstern zu beiden Seiten des Cafesund treten entschlossen an seine Seite, bleiben einen Schritt hinter Lirio Abbate. Ihre Pistolen sind gut versteckt unter den weiten Jacken. Das sind zum Glück nicht seine Killer, sondern Lirios Schutzengel. Polizisten, die seit allzu langer Zeit schon nicht mehr von seiner Seite weichen.

    Auch einige Journalisten hat die Cosa Nostra im Laufe der Jahrzehnte getötet. Inzwischen haben Mafia und Medien sich auf einen Modus vivendi geeinigt: Die Presse berichtet über die Verbrechen, aber sie bedenkt die Täter mit Formeln, die immer gleich lauten, alles andere wird einfach totgeschwiegen: Der Einfluss der Mafia auf den Polizeiapparat ist in der Berichterstattung tabu. Über all diese ungeschriebenen Gesetze hat sich der Journalist Roberto Saviano hinweggesetzt. In diesen Tagen erscheint ein neues Buch von ihm. Sein erstes, eine Enthüllung über die Camorra in Neapel hat Saviano eine Todesdrohung der Mafia eingebracht, seitdem steht er unter Personenschutz. Als Klassiker der Literatur über die Mafia "Der Tag der Eule" von 1961. Leonardo Sciascia erzählt die Geschichte des Hauptmanns Bellodi, der versucht, einen Mord aufzuklären und dabei ständig gegen Mauern läuft. Den entscheidenden Tipp erhält er erst von seinem Informanten namens Parrinieddu, der ebenfalls für die Mafia arbeitet. Nachdem er der Polizei jedoch zwei Namen genannt hat, wird es eng für ihn. Er versucht, seinen Kopf noch rechtzeitig aus der Schlange zu ziehen.

    Die letzten 24 Stunden seines Lebens vergingen Calogero Dibella, genannt Parrinieddu, wie im Traum, wie wenn man durch endlose Wälder geht. Zum ersten Mal, seit er Kontaktmann war, hatte er den Carabinieri den richtigen Faden in die Hand gespielt, der, wenn man nur richtig an ihm zu ziehen verstand, ein ganzes Netz von Freundschaften und Interessen, in das auch seine eigene Existenz mit verflochten war, entwirren konnte. Gewöhnlich bezogen seine vertraulichen Mitteilungen sich junge Draufgänger, die abends im Kino einen Raub sahen und sich am nächsten Tag aufmachten, um einen Autobus anzuhalten. Kleine Fische also, Einzelgänger ohne Protektion. Aber diesmal lagen die Dinge anders. La Rosa hatte nichts mit der Sache zu tun. Aber der andere war ein richtiger Name, der rechte Faden. Und von dem Augenblick an, da er ihn ausgesprochen hatte, fand er keine Ruhe mehr.

    Das Wort Mafia bedeutet im Italienischen Überheblichkeit und Anmaßung - die ehrenwerte Gesellschaft eben. Dieses Selbstverständnis ist eng verknüpft mit der Entstehungsgeschichte der Mafia im 19. Jahrhundert, als in Italien wie überall in Europa der Ruf nach einem eigenen Nationalstaat laut wurde. Siziliens Feudalherren waren jedoch keineswegs bereit, sich einer Zentralmacht unterzuordnen. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit: Rom und Neapel interessierten sich nur dürftig für den rückständigen Süden. So wuchs die Mafia heran, als Gegengewicht zur staatlichen Macht. Das System der Schutzgelderpressung war rasch etabliert und sicherte Einfluss und das nötige Kleingeld. Nach der italienischen Staatsgründung 1860 dauerte es nicht mehr lange, bis die Mafia sich als kriminelle Subkultur eingenistet hatte: In Kalabrien, dem Vorderschuh des italienischen Stiefels, war es die N'Drangheta, rund um Neapel die Camorra und in Sizilien die Cosa Nostra. Unsere Sache. Schutzgeld, Drogen- und Waffenhandel, Korruption im Bau- und Immobiliengewerbe - das sind bis heute die klassischen Geschäftsfelder der Bosse. Nur gemordet wird nicht mehr ganz so viel wie früher. 1992 war ein besonders grausames Jahr: Die Attentate auf die beiden Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino trieben 1992 aus Wut ganz Palermo auf die Straße. Daraufhin änderten die Capos langsam aber spürbar ihre Firmenpolitik, weniger blutig und mehr im Stillen. Zwei große Schläge folgten: 1996 gelang den Ermittlungsbehörden erst die Festnahme des berüchtigten Toto Riina, dann 2006 die des mächtigen Bernardo Provenzano. Geschnappt wurde er in einer Schäferhütte in den Bergen, unweit von Corleone. Hinzu kamen im Laufe der Jahre mehrere spektakuläre Prozesse, in denen Mafiosi gleich zu Dutzenden verurteilt wurden. Kenner der Mafia behaupten allerdings, die meisten Bosse würden erst dann gefasst, wenn sie bei der Cosa Nostra ausgedient haben.

    Auch wenn selbsternannte Mafiajäger heute gelegentlich das Gegenteil behaupten: Die Mafia lebt. Mehr denn je macht sie sich überall dort breit, wo der Staat sich verzogen hat, oder nie präsent war. Sie springt ein, wenn der Vater in den Knast muss, wenn keine bezahlbare Wohnung zu finden ist, oder wenn die Jungen keinen Job finden. In einem Viertel wie Bonagia gehört die Cosa Nostra schon für Sechstklässler zur Familie.



    Die Lehrerin
    Pünktlich um acht Uhr morgens fährt Lilia Chifari mit ihrem ziemlich verbeulten Kleinwagen von ihrer Wohnung in der malerischen Altstadt in das am südöstlichen Stadtrand gelegene Neubauviertel Bonagia. Es ist in den 50er-Jahren entstanden und besteht aus hohen hässlichen Zementblöcken, ein großer Teil davon Sozialwohnungen. Mittendrin steht die Schule von Lilia. Ein zweistöckiger von einem massiven Eisengitter umzäunter, leicht ramponierter Bau. Er ist dem ehemaligen Präsidenten der Region Piersanti Mattarella gewidmet, den die Cosa Nostra 1980 ermordet hat. Eine symbolische Namensgebung, die wenig bewirkt hat im Stadtviertel Bonagia

    "In einigen Hochhäusern hier herrscht eine Menge kriminelle Aktivität. Hier werden vor allem Drogen gehandelt. Die Kunden kommen aus dem Zentrum von Palermo hierher. Hier hat die Mafia die Kontrolle."

    Hermetisch abgeschlossen sind auch die Eingänge der Gesamtschule Piersanti Mattarella. Eine Pförtnerin wacht über die schmale eisenbewehrte Glastür mit dem elektrischen Türöffner.

    "Wir haben sogar Gittertüren zwischen den einzelnen Stockwerken."

    Ohne Gitter geht es nicht. Schulen sind in Palermo grundsätzlich Angriffsziele von Dieben und Vandalen. Ein dauernder Belagerungszustand. Aber in den Mafiavierteln macht die Gewalt auch vor den bewachten Schultoren nicht Halt. Lilia begrüßt die Schuldirektorin Francesca und geht in ihre Klasse.

    Lilia ist Kunsterzieherin. Ihre Schüler in der zweiten Grundschulklasse scheinen wahre Engel zu sein. Doch in der ersten Reihe sitzt Giovanni, der seit zwei Tagen den rechten Arm in Gips trägt.

    "Giuseppe und Francesca haben miteinander gestritten - sie hat mir den Arm verdreht. Wir haben uns gestritten weil er mich dauernd gehänselt hat. Dann ist er aufgestanden und hat gedroht, mir seine Schere ins Gesicht zu werfen. Ich habe ihn gepackt, denn wenn er mich getroffen hätte, dann hätte er mich verletzten können. Sie hat mir gesagt, wenn du mir noch mal unter die Augen kommst, dann bring ich dich um."

    Francesca hat Giuseppe den Arm ausgekugelt. Beide sind noch nicht mal zehn Jahre alt. Gewalt herrscht in Palermos Mafiavierteln schon unter den Schulanfängern. Lilia kann ein Lied davon singen.

    "Das ist ein typisches Beispiel für den Überlebenskampf in dieser Stadt. Die Kinder streiten sich nicht um etwas, sondern weil sie sich damit wichtig machen wollen. Durch Gewalt verschaffen sie sich Anerkennung. Dabei leiden sie oft unter Minderwertigkeitsgefühlen und völligem Mangel an Zuwendung im Elternhaus."

    Oft sind sie Opfer von Missbrauch. Die Zahl geistig behinderter Kinder in den Mafiavierteln nimmt zu wegen der Lebensbedingungen und auch wegen Inzest. Schließlich ahmen die Kinder die Welt der Erwachsenen nach. Je älter sie werden, umso schwieriger ist die Arbeit der Lehrer. Lehrpläne sind überflüssig. Lilia und ihre Kollegen versuchen, den Kindern aus den Mafiafamilien wenigsten die grundlegenden Regeln des zivilisierten Zusammenlebens beizubringen.

    Ein Stockwerk höher sind die Sechstklässler. Ist grade kein Lehrer da, herrscht totale Anarchie. Manchmal fliegen Stühle und Bänke durch die geschlossenen Fenster. Schüler kommen zu spät oder gar nicht in den Unterricht, weil die Eltern sich nicht um sie kümmern, weil sie nächtens Drogen verkaufen oder zum Stehlen geschickt werden. Lilia muss praktisch jeden Tag die Basis des Dialogs neu aufbauen.

    "Was ich mir von euch erwarte? Dass ihr mir zuhört. Und was wollt ihr denn von eurem Lehrer? Dass er euch versteht, dass er weiß, was euch Spaß macht. Dass er euch zuhört. Wir müssen lernen, gut miteinander auszukommen. Uns gegenseitig zu respektieren. Nicht wahr?"

    Ein Drittel aller sizilianischen Schüler halten die Cosa Nostra nicht für eine kriminelle Organisation. Und Gewalt gegenüber Mitschülern und Lehrern sehen sie als normalen Zeitvertreib. Nach fast 20 Jahren im Schulbetrieb an der Mafiafront macht sich Lilia keine Illusionen mehr. Hier ist das Lehrerdasein ein reiner Knochenjob.

    "Die täglichen Auseinandersetzungen mit den Schülern zermürben einen mit der Zeit. Und dann kommen auch noch die Eltern dazu, die dich einzuschüchtern versuchen oder sogar bedrohen. Und der Respekt vor den Lehrern? Gleich null. Der Lehrer wird als Bezugspersonen einfach nicht anerkannt. Er ist Teil der staatlichen Institutionen, die oft abgelehnt werden. Und für die Leute in den Mafiavierteln ist deshalb auch von den Lehrern nichts Gutes zu erwarten."

    "Ich heiße Tommasino Buscetta,"

    schreit einer aus der Klasse mit stolzer Stimme.

    Und dafür wird er zur Strafe für den Rest des Vormittags vom Unterricht ausgeschlossen. Das ist die Regel bei Lilia: Man brüstet sich nicht mit dem Namen eines Mafiabosses. Nicht in ihrer Klasse.

    Pizzuco, der ihn ihm Café Gulino zurückhalten wollte, um ihm wie schon so oft einen Magenbitter zu spendieren, war zunächst über die Weigerung und das rasche fluchtartige Verschwinden Parrinieddus verdutzt. Und er dachte den ganzen Tag darüber nach. Denn er war nicht gerade helle. Noch viele andere beobachteten Parrinieddus Nervosität, sein unstetes Umherirren, das dem eines Menschen glich, dem ein Bluthund auf den Fersen ist. Und am genauesten beobachteten es diejenigen, vor denen er sich fürchtete und denen er entfliehen wollte. Und schließlich die Begegnung mit dem Mann, den er am meisten fürchtete, mit dem Mann, dem es zuzutrauen war, dass er schon wusste, oder zumindest erraten hatte, was vertraulich zwischen den vier Wänden einer Amtsstube gesagt worden war. Er hatte so getan, als sehe er ihn nicht. Er war gleich um die Ecke gebogen. Aber der andere hatte ihm mit einem Blick, der unter den schweren Lidern wie erloschen wirkte, nachgesehen.

    Von dieser Begegnung an verliefen die letzten 24 Stunden des Kontaktmannes in grausamer Hetze.


    Die sizilianische Mafia bietet Serviceleistungen nicht nur für die Armen in Palermo, sondern sie ist auch in den so genannten besseren Kreisen bestens vernetzt. Tatsächlich hat sie ihre Kontakte in die gute Gesellschaft in den letzten Jahren sogar ausgebaut und damit ihr Profil verändert. Galt sie früher als bäuerlich und wenig kultiviert, kommen heute immer mehr Mafiosi aus dem bürgerlichen Milieu. Ganz vorn dabei sind: Ärzte. Dank ihrer Patientenkartei wissen sie über eine ganze Menge Menschen ziemlich gut Bescheid - das A und O eines erfolgreichen Mafioso: Er muss die richtigen Leute kennen, die Fäden ziehen und Einfluss üben können - vor allem auf politische Entscheidungsträger. Dann sind da noch jene Rechtsanwälte und Notare, die seit jeher Hand in Hand mit korrupten Politikern arbeiten, um in die eigene Tasche zu wirtschaften. Auch europäische Finanzhilfen aus Brüssel versickern in den Kanälen der Bosse, denn Kontrollen vor Ort sind Fehlanzeige. Das Verhältnis von Mafia und Politik beschreibt vielleicht am treffendsten Giulio Andreotti: "Über andere schlecht zu denken, ist eine Sünde, aber meistens liegt man damit richtig." Das gilt freilich für einen am allermeisten, nämlich Giulio Andreotti selbst.

    Dass der frühere Ministerpräsident Andreotti immer beste Kontakte zur Mafia unterhielt, ist in Italien ein offenes Geheimnis. Der Liedermacher Francesco Baccini hat es vertont in Form eines Spottliedes. Alle Beweise für Andreottis Vergehen nützen jedoch nichts, denn sie sind verjährt, und längst ist der heute 90-Jährige in seiner Heimat rehabilitiert. Mit Silvio Berlusconi hinterlässt Andreotti allerdings den passenden politischen Nachwuchs. Berlusconi, Italiens amtierender Regierungs-Chef, steht seit Jahren unter Verdacht, in Geschäfte mit der Mafia verwickelt gewesen zu sein - geschadet haben ihm diese Gerüchte bisher nicht.

    Verglichen mit der Politik ist das Verhältnis der Bosse zur Kirche eher zwiespältig. Für den Klerus gilt: Die Organisation möglichst nicht beim Namen nennen, und keine Politik gegen die Mafia betreiben. Die letzte deutliche Distanzierung des Vatikan liegt Jahre zurück, und der Besuch eines Papstes in Palermo ist seit Jahrzehnten überfällig. Nur wenige Priester setzen dem Schweigen am Petersplatz etwas entgegen, und wenn, dann sind sie Einzelkämpfer. Solange sie kein Aufsehen erregen, lässt die Amtskirche sie predigen und die Mafia sie in Ruhe.



    Der Priester
    Der Gesang dringt durch ein paar halboffene Oberlichter. Die Kirche von San Giovanni Bosco in Bagheria ist eine ehemalige Tiefgarage in einem fünfstöckigen Palazzo aus den 80er-Jahren. Nur eine Gipsfigur von Christus mit segnenden Händen weist auf die Kellerkirche hin. Jeden Sonntag um elf steigen die Gläubigen die Rampe hinunter. 80, 90 Gläubige aus dem Stadtviertel mit etwa 5000 Einwohnern, Männer und Frauen, alte und junge, bunt gemischt.

    Am Altar zwischen Betonsäulen und unter Neonlichtern steht ein kleiner Mann mit Halbglatze im Grünen Talar. Seine Stimme ist leise und eindringlich. Don Francesco Stabile spricht deutlich, beinahe dozierend. Kein Wunder, denn er hat sein Leben lang im Priesterseminar das Evangelium gelehrt. Und in jüngster Zeit Nachhilfestunden in Sachen Mafia gegeben. Die seien erfolgreich gewesen, die zwanzig Seminaristen waren ausgesprochen interessiert, sagt Don Francesco. Doch obwohl er demnächst siebzig wird, hat er vor ein paar Jahren das Klassenzimmer im Seminar gegen die Kellerkirche in Bagheria eingetauscht, einer Vorstadt von Palermo mit "alta densita mafiosa", mit erheblicher Präsenz der Mafia, wie es im Bürokratenjargon heißt. Vorläufig sind die Geschichtsstunden über die Mafia für den Priesternachwuchs eingestellt. Nicht zu viel über die Mafia reden ist die Devise der Kirchenoberen. Don Francesco ärgert das. Und deshalb setzt er seine Schulstunden in der Kellerkirche fort. Die Predigt wird zur Antimafia-Nachhilfestunde

    "Unsere Kirche ist nicht sehr weise und vorausschauend. Sonst würde sie nicht zu all dem Bösen, der Gewalt und dem Terror schweigen, sie würde sich nicht mit der Mafia arrangieren. Sie würde nicht schweigen zu all der Unterdrückung. Ein guter Christ zu sein, das bedeutet, hier bei uns in Bagheria einfach nur ehrlich zu bleiben. Denn nur mit Aufrichtigkeit kann man die Mafia, die Vetternwirtschaft, die Korruption und die Intrigen bekämpfen. Ehrlich muss man bleiben."

    Starke Worte von einer Kanzel an der Mafiafront. Die meisten hören betreten zu. Offen von der Mafia zu reden und dabei auch noch die eigene Kirche zu kritisieren zeugt von Mut, den hier viele für gefährlich halten. Viele glauben, dass es besser ist, den Mund zu halten. Doch auch das kritisiert Don Franscesco ohne Gnade.

    "Mit wie viel Müll werden wir heutzutage von den Massenmedien zugeschüttet. Der Schwachsinn, den sie uns im Fernsehen vorsetzen dient doch nur dazu, uns den Blick auf die Realität zu verstellen. Damit werden die Menschen abgelenkt und sie denken nicht mehr mit ihrem eigenen Kopf. Es wird immer schwieriger auf die wirklich wichtigen Dinge zu schauen."

    Ein Vaterunser, ein paar heitere Lieder und dann ist die Sonntagsmesse zu Ende. Es hat Jahre gedauert, aber inzwischen fallen Don Francescos Appelle auf fruchtbaren Boden. Emanuele ist 25, Aushilfslehrer und spiritueller Jünger von Don Francesco. Der hat ihn auf den rechten Weg gebracht und so hat Emanuele während seines Studiums in Bagheria eine Vereinigung gegründet mit dem Namen "A Testa Alta", mit hocherhobenem Haupt. Ihr Ziel ist die innere Befreiung von der Mafia.

    "Diese Befreiung müssen alle wagen, Männer, Frauen, Kinder, Priester Professoren - es geht nicht nur um eine Erziehung zur Rechtschaffenheit, um ein Unterrichtsfach oder eine politische Bewegung, sondern es geht um einen neuen Lebensstil. Denn zur Mafia gehören ja eigentliche sehr wenige, auf jeden Fall sind viel weniger als wir. Und deshalb ist die Vorstellung so grausam, dass diese wenigen es bis heute schaffen, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen. Was natürlich auch daran liegt, dass die Mehrheit allzu oft schweigt."

    Dieses Schweigen macht die Mafia stark und ihren Gegnern Angst.

    "Man hat immer was zu befürchten. Vor allem wenn wir die Dinge laut beim Namen nennen. Denn man kennt ja die von der Mafia. Man sieht sie auf der Straße, sie stellen sich dazu und hören mit. Sie schauen dich an, sie beobachten dich. Das macht Angst. Und vor allem: Die Mafiosi sind nicht besiegt und sie fühlen sich als die Stärkeren. Sie bewegen sich voll Stolz und ohne Scham unter uns."

    Die Messe ist zu Ende, Emanuele und die anderen Gläubigen sind auf dem Weg nach Haus. Padre Francesco schließt das eiserne Tor seiner Kellertür sorgfältig ab. In diesem Stadtviertel ist auch er nicht vor Dieben sicher. Dann schlendert er langsam zur Bar vorne an der Straßenecke. Don Francesco bestellt einen Bitter, ein Aperitif ohne Alkohol, und dann tritt er an die Auslage mit einem überwältigenden Angebot an sizilianischer Pasticceria, die hohe Kunst der hiesigen Konditoren.

    "Das ist eine wahre Versuchung. Die dort sind besonders gut, man nennt sie die Sankt-Josephs -Krapfen, gefüllt mit Ricotta-Creme." .

    Mehr als 1000 Menschen hat die Cosa Nostra allein in den 80er- und 90er-Jahren ermordet. Heute ist es in Sizilien ruhig geworden um die Mafia. Die spektakulären Attentate, mit denen die Bosse den Staat herausgefordert haben, haben sich als kontraproduktiv erwiesen: Die Cosa Nostra hat einige herbe Schläge einstecken müssen. Führende Köpfe wurden verhaftet, und Vermögen beschlagnahmt. Die Organisation tritt seitdem leiser auf, und sie achtet bei aller Hierarchie auf kleine und genau abgegrenzte Strukturen: Die so genannte "Straßenmafia" arbeitet in Palermo von Stadtteil zur Stadtteil. Rauschgifthandel und Schutzgelderpressung sind die wichtigsten Einnahmequellen. Das Geld wird dann in scheinbar sauberen Geschäftszweigen gewaschen: in der Landwirtschaft, im Tourismus und vor allem im Gesundheitswesen. Um solchen Machenschaften auf die Spur zu kommen, greifen die Ermittler immer häufiger zum Mittel der Telefon-Überwachung. Verdächtigen Politikern ist das allerdings ein Dorn im Auge. Derzeit tritt die Regierung Berlusconi massiv für eine Beschränkung der Telefonüberwachung ein.

    Den Bossen geht es derweil nicht nur ums Geld. Für das geplante neue Sportstadion in Palermo sollen die Herren für sich und ihre Familien 100 Gratisplätze auf der Tribüne gefordert haben - vom Bauauftrag für das Stadion ganz zu schweigen.

    Ein paar Kilometer weiter, im Stadtzentrum von Palermo gibt es indes ein paar Geschäftsleute, denen es endgültig reicht. Vor ein paar Jahren haben sie das Netzwerk Addiopizzo gegründet, Schutzgeld ade. Ein Aufruf an Bürger und Touristen, nur noch in solchen Läden einzukaufen, die kein Schutzgeld bezahlen - das sind rund 30 Prozent aller Händler und Geschäftsleute in Sizilien. In Fabio Messinas Laden gibt es Pizzo-freie Unterwäsche, Müsli und Spielzeug: "Wer bei uns kauft", sagt Fabio, "weiß, dass seine Euro nicht bei der Cosa Nostra landen."



    Der Addio-Pizzo-Laden
    Im unteren Teil des Corso Vittorio liegen ein paar kleine Läden dicht gedrängt nebeneinander. Die von zahlreichen historischen Palazzi gesäumte Straße von Palermo verbindet den Sitz der Regionalregierung mit dem Meer. Der Corso Vittorio wurde für Kutschen und Pferde gebaut, heute stauen sich die Autos, es herrschen Lärm und Smog. Unsicher bewegen sich die Touristen auf dem schmalen Gehsteig zwischen hohen Hauswänden und vorbeiflitzenden Motorrollern. Zwei Japanerinnen bleiben an diesem regnerischen Wintertag vor einem hell erleuchteten Schaufenster stehen und betrachten die Regale, dann treten sie ein.

    Fabio Messina ist Mitte 30 und hat einen gewaltigen dunklen Haarschopf. Er weist stolz auf seine wohlgefüllten Regale mit sizilianischen Weinen, die Japanerinnen begutachten eifrig die verschiedenen Etiketten. In der Hand haben sie einen Reiseführer. Da steht auch Fabios Laden drin. "Pizzo Free. Garantiert ohne Schutzgeldabgabe"

    "Den Laden habe ich eröffnet, um den Kunden beim verantwortungsvollen Einkauf zu helfen. Die vor einigen Jahren gegründete Vereinigung 'Addiopizzo' - 'Schluss mit dem Schutzgeld', liefert uns die Namen von Herstellern, die garantiert keine Zwangsabgaben an die Mafia leisten. Und deshalb kommen die Kunden zu uns. Denn sie wollen nur sicher sein, dass der Laden kein Schutzgeld bezahlt."

    Hinter der glänzenden Fassade eleganter Geschäfte und gut besuchter Supermärkte verbirgt sich oft eine erschütternde Wirklichkeit:

    "Viele Kunden glauben, dass sie dort sicher sind vor der Mafia. Aber wenn du in ein Geschäft geht, dessen Besitzer Schutzgeld bezahlen muss, finanzierst du die Mafia mit. Je mehr du kaufst, umso mehr wandert in die Taschen der Mafia, die je nach Umsatz abkassiert."

    Wieder kommt eine Kundin. Maria wohnt in der Nähe und kauft lieber bei Fabio ein als im Supermarkt.

    "Ich kaufe, was mir so grade in den Sinn kommt."

    Fabios schutzgeldfreier Supermarkt bietet seinen Kunden ein wahres Sammelsurium: Wein und Marmelade, Coppole, das sind die typisch sizilianischen Mützen, Unterwäsche, Werkzeuge, - von den unterschiedlichsten Herstellern - Hauptsache sie können nachweisen, dass sie mit der Mafia nichts zu tun haben. Einer liefert Mandelmilch, und zwar genau die, nach der die nächste Kundin verlangt.

    "Ich komme aus zwei Gründen her: einmal, weil es diese Milch nur in wenigen Läden gibt, und dann natürlich, weil der Ladenbesitzer kein Schutzgeld bezahlt."

    Und das ist der entscheidende Grund, sagt Signora Leontina:

    "Meiner Meinung nach müsste die Idee, nur bei schutzgeldfreien Händlern zu kaufen viel stärker um sich greifen. Aber dafür muss noch eine Menge Bewusstsein geschaffen werden."

    Am Anfang hat seine Idee ja auch toll eingeschlagen, erzählt Fabio. Über den Pizzo-Free Supermarkt im Herzen von Palermo berichteten Medien in ganz Europa, in Indien und sogar in Japan. Aber von den Touristen alleine kann Fabio nicht leben und in Palermo selbst hat die anfängliche Begeisterung längst wieder nachgelassen.

    "Wir sind inzwischen für die meisten ein Laden wie alle anderen auch. Reich sind wir hier mit Pizzo-Free nicht geworden. Ich habe keine Ahnung, wo der Haken ist. Wir sind nicht unzufrieden, wir können überleben. Aber eigentlich müsste hier vor unserem Geschäft eine Schlange stehen die bis zur Kathedrale hinaufreicht, wenn die Leute sich wirklich so ehrlich, so gesetzestreu und bewusst gegen die Mafia verhalten würden, wie sie immer beteuern."

    Parrinieddus Umherirren auf einer Flucht, von der er doch wusste, dass sie unmöglich war, wurde von Visionen unterbrochen, in denen er sich selbst bereits als Toten sah. Die Flucht war der lang anhaltende Pfiff der Züge, das Land, das sich im Vorbeirasen des Zuges auftat, Dörfer, die langsam kreisten, mit Frauen an den Fenstern und üppiger Blumenpracht. Und dann ein unvorhergesehener Tunnel, die vom Rhythmus des Zuges skandierten Todesworte, die schwarzen Wasser des Todes, die über ihm zusammenschlugen.

    Ohne es zu wissen, hatte er in drei Tagen mit seiner Unruhe, seinen falschen Reaktionen, seinem sichtbaren Zusammenfahren und Erschrecken sich selbst ein Grab geschaufelt. Jetzt brauchten sie ihn nur noch niederzustrecken "wie einen Hund". Die beiden Namen, die ihm entschlüpft waren, ruhten nur im Gedächtnis des Hauptmanns Bellodi, der nicht noch einen Toten vor sich haben wollte und deshalb fest entschlossen war, den Kontaktmann zu decken. Aber Parrinieddu mit seinen angstzerrütteten Nerven sah seine Mitteilung überall wie die Spreu im Weizen umherfliegen. Und verloren, wie er sich wähnte, schrieb er am Morgen des Tages, der sein letzter sein sollte, dem Hauptmann auf einem Luftpostblatt zwei Namen auf. Und dann: "Ich bin tot." Und, als beende er einen Brief: "Hochachtungsvoll Calogero Dibella". Dann streifte er ziellos durch die Straßen und kehrte dazwischen plötzlich nach Hause zurück. Ein dutzendmal entschlossen, sich in sein Haus einzuschließen, und ebenso oft bereit, sich umbringen zu lassen, bis ihn bei seinem letzten Entschluss, sich zu verbergen, auf der Schwelle seiner Tür zwei wohlgezielte Pistolenschüsse trafen.


    Unzählige Fotos wurden in den 80er- und 90er-Jahren in Sizilien geschossen. Immer wieder waren es die gleichen Bilder: auf Asphalt gezeichnete Kreide-Umrisse eines menschlichen Körpers. Heute wird weniger geschossen in Palermo, doch mit dem Tod verdient die Mafia weiter Geld. Viele Bestattungsunternehmen sind in der Hand der Bosse, oder sie zahlen Schutzgeld. Die Bürokratie macht den Bestattern zusätzlich zu schaffen: Fällt wieder mal ein Krematorium aus, stapeln sich die Toten in den Kühlhäusern der Friedhöfe. Besonders schlimm war das letzten Sommer. Jetzt, Ende Februar, können sich die Totengräber von Santa Maria di Gesù über mangelnde Arbeit nicht beschweren. Auch der ein oder andere Mafioso hat hier seinen Frieden gefunden, aber an die Bauvorschriften hält sich die ehrenwerte Gesellschaft nicht einmal bei ihrer letzten Ruhestätte.


    Die Totengräber
    Ein eiskalter Morgen in Palermo, auf den Bergen, die gleich hinter dem Friedhof Santa Maria di Gesù aufragen, hat es in der Nacht geschneit. Der Dieselmotor des kleinen Lasters tut sich schwer. Die Totengräber mussten ihn anschieben, und jetzt stößt er dicke blaue Abgaswolken aus. Die vier Männer sind in Eile. In den letzten Tagen war das Wetter so schlecht, dass einige Bestattungen ausgefallen sind. Die müssen jetzt nachgeholt werden. Die vier Männer gehen zu einem offensichtlich verschlossenen Grab, räumen Berge von Blumen und Marmortafeln weg, dann verrücken sie die Grabplatte aus rotem Marmor. Darunter öffnet sich eine gut fünf Meter tiefe Gruft.

    "Da ist eine Grabnische, die müssen wir zumauern. Gestern hat es derart geregnet, da konnten wir das nicht machen. Wir haben nur ganz kurz den Sarg hinuntergelassen, jetzt muss er noch eingemauert werden. Hier sind zwölf unterirdische Nischen. Drüben im neuen Teil haben die Familiengruften nur noch sechs Grabstellen."

    Amedeo ist seit über 20 Jahren Totengräber. Er ist ein grobschlächtiger Mann um die 50 mit lauter Stimme und leicht schielendem Blick. Mit einem Eimer Zement steigt er die Aluminiumleiter hinter, die anderen reichen ihm die bereits zugeschnittenen Platten zum verschließen der Nische in das dunkle, auszementierte Loch.

    Die reich geschmückten Grabstellen ziehen sich weit den Hang hinauf. Von hier hat man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt Palermo und die tiefblaue Bucht. Santa Maria di Gesù ist ein historischer Friedhof, viele Grabmäler sind denkmalgeschützte Kunstwerke. Wer es sich leisten kann, überbaut seine Gräber auch heute noch mit einer teuren, marmorverkleideten Grabkappelle. Und nicht immer kommt das Geld aus legalen Einnahmequellen. Auch Mafiosi müssen bestattet werden. Amedeo deutet auf den neuen Teil des Friedhofs

    "Die Leute geben ein Vermögen aus für diese Kapellen, Millionen! Ohne sich um die Bauvorschriften zu kümmern. Erst hieß es, es dürften keine mehr gebaut werden, und dann plötzlich schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Man hätte den Friedhof viel schöner machen können. Mit größeren Gruften und mehr Platz für die Toten."

    Amedeo bestattet nicht nur. Immer öfter müssen er und seine Kollegen alte Särge entfernen, um Platz für neue zu schaffen. Weil es in Palermo keine Erdbestattungen gibt und die Särge in Mauernischen aufbewahrt werden, ist das eine makabre Aufgabe.

    "Der Zustand der Leichen hängt davon ab, wie die Gruft beschaffen ist, ob sie mehr oder weniger feucht war. Manche Tote wurden auch chemisch behandelt um sie zu mumifizieren. Die sehen dann aus, als wären sie aus Papier. Kürzlich hatten wir eine Frau, die mit 90 Jahren gestorben war und aus reicher Familie stammte. Die hatten sie garantiert behandelt. Sie war noch völlig erhalten. Ihre Leiche lag in einem Jutesack, damit sie unversehrt blieb. Aber in der Mehrzahl der Fälle treffen wir auf Leichen, die zur Hälfte verwest und zur Hälfte noch erhalten sind. Da sind noch Fleischreste, die dürfen wir natürlich nicht anfassen. Diese Reste werden in Zinkurnen verschlossen und wieder in die Gruft gestellt."

    Die Körper so lange es geht erhalten, das ist eine alte Tradition, wie in der berühmten Kapuzinergruft von Palermo, in der Tausende mumifizierter Leichen bestattet sind. Einäscherung und Urnenbestattung widersprechen dem Volksempfinden im Süden Italiens immer noch zutiefst, davon ist Amedeos Kollege Renato überzeugt.

    "Nach einem Todesfall schließt sich die gesamte Familie eine ganze Woche lang zuhause ein. Danach kommen sie alle wieder auf den Friedhof und halten Wache vor dem Grab. Das trägt alles noch sehr archaische Züge. Diese Verehrung des Körpers auch nach dem Tod. So lebt der Verstorbene auch für die Hinterbliebenen einfach weiter. Manche kommen jeden Tag her."

    Amedeo, Renato und ihre Kollegen haben sich zu einer Kaffeepause in ihr kleines Büro am Eingang des Friedhofs zurückgezogen. Dort erzählen sie noch von einem besonderen Totenkult:

    "Der zweite November "Allerseelen" ist ein Festtag für die Kinder. Denn da bekommen sie Geschenke von ihren toten Ahnen."

    Die Familien besuchen die Gräber, dann werden die Kinder beschenkt und nicht wenige haben sogar etwas zu Essen und zu Trinken dabei und machen Picknick an der Ruhestätte ihrer Verstorbenen.

    Die Arbeit auf dem Friedhof gefällt den Totengräbern von Santa Maria Gesu. Denn hier ist es friedlich, sagen sie und zitieren lachend ein altes Sprichwort: Ein Toter ist angenehmer als zehn Lebende, den er sieht nichts, hört nichts und vor allem er sagt nichts mehr. Di Maggio, Cimino, Badalementi - Namen, die an Mafiaclans erinnern. Doch der Friedhof macht alle gleich - es gibt keine Unterschiede mehr zwischen Mördern und Aufrechten. Kurz vor dem Ausgang ist linker Hand eine Kapelle, der Name "Borsellino" ist über der Türe eingemeißelt. Die Familiengruft des von der Mafia ermordeten Staatsanwalts Paolo Borsellino. Davor ein Stein und eine Inschrift: "... im Namen der Gerechtigkeit, der Wahrheit und des Lebens, des Opferwillens, der Kraft und des Mutes und der Hoffung auf die Zukunft, des Mutes zum Sterben ... Danke, Paolo."

    Literatur:
    Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule, Aufbau Verlag, Berlin, 2000. Übersetzung: Arianna Giachi