Zwei Jugendliche über die Gewalt in Londons Vorstädten:
"Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks."
"Der Krieg kommt immer näher. Bald kämpft Nachbar gegen Nachbar."
Und ein Sozialarbeiter über die Ursachen der eskalierenden Jugendgewalt:
"In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups."
"Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks."
"Der Krieg kommt immer näher. Bald kämpft Nachbar gegen Nachbar."
Und ein Sozialarbeiter über die Ursachen der eskalierenden Jugendgewalt:
"In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups."
Die Angst geht um - auch bei denen, die Angst verbreiten:
Jugendliche im College von Waltham Forest
Jugendliche im College von Waltham Forest
Zwei Jugendliche prügeln auf einen alten Mann ein, sie schlagen ihn nieder, treten ihn brutal mit Füßen. Die Videobilder aus einem Münchner U-Bahnhof schockierten die Öffentlichkeit - und sie provozierten einmal mehr Rufe nach schärferen Gesetzen und härteren Strafen.
München ist kein Einzelfall - in ganz Europa sind die Gewaltexzesse jugendlicher Straftäter Thema öffentlicher Debatten; ob in Kopenhagen oder Rom, in Paris oder Madrid - überall wächst die Angst vor der zunehmenden Brutalität immer jüngerer Gewalttäter. In vielen Großstädten ist die Polizei bereits auf dem Rückzug - in manchen Problemvierteln lässt sie sich gar nicht mehr blicken: Dort gelten die Gesetze des Staates nicht mehr, dort regiert das Gesetz der Straße. Und wenn es - wie in britischen Großstädten - zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden kommt, herrscht nur noch das Recht des Stärkeren.
Wenn Jugendgewalt ein Indikator für den Zerfall einer Gesellschaft ist, dann geht es Großbritannien ziemlich schlecht. Zu diesem Ergebnis kommen alle einschlägigen Untersuchungen von EU, UNO und UNICEF - nirgendwo sonst in den 21 Industriestaaten ist es so schlecht um Kinder und Jugendliche bestellt: Viele sind vereinsamt, verwahrlost, auf Gruppen Gleichaltriger angewiesen. Sie sind drogensüchtig, alkoholabhängig - und immer öfter gewalttätig. In den letzten 15 Monaten wurden allein in London 34 Kinder und Jugendliche von Gleichaltrigen ermordet.
Waltham Forest im Nordosten Londons. Ein armes Viertel mit einer Schule, die Aussteiger und Analphabeten, notorische Schulverweigerer und vorbestrafte Gewalttäter zurückholen möchte. Sie sind 16 bis 19 Jahre alt. Und bei denen, die Angst verbreiten, geht die größte Angst um.
Schwarze gefütterte Parkas, schwarze Handschuhe, schwere Halsketten. Fünf afrokaribische Jungs und ein Pakistani in einem Klassenzimmer im Waltham Forest College, Ostlondon.
"Früher haben sie dich nur verletzt, heute wirst du abgeknallt. Oder erstochen.”"
"”Ich geh nicht mehr aus meinem Revier heraus."
"Früher konntest du bis nach Seven Kings gehen. Jetzt sind dort so viel Banden, da kommst du nicht mehr durch."
"”Respekt, Respekt, es geht immer nur um Respekt. Wer bist du? Wen kennst du? Was hast du an dir? Ein Schritt auf ihrem Revier, und du riskierst dein Leben.""
Sie sitzen dicht beieinander, eine geschlossene Front. 17, 18 Jahre alt - vorbestraft, vom normalen Schulbetrieb verbannt. Sie ’beklagen’ die Jüngeren. Die heutige Jugend sei noch schlimmer.
"Es liegt nicht an uns, es ist die junge Generation Die wollen sich groß machen, für uns."
"”Wie du dich schützen kannst? Indem du jemand bist. In Edmonton kennen sie uns, aber in Tottenham wirst du abgemurkst.""
"”Ich lebe in Marsda. Im Getto. Wenn du zu keiner Gang gehörst, hast du keine Chance in Frieden zu leben.""
"Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks."
"Der Krieg kommt immer näher. Bald ist es Nachbar gegen Nachbar."
Die Jungs verachten die Polizei. Und die Medien. Von denen würden sie unter Generalverdacht gestellt: jeder ein Krimineller. Neulich wurde einer von ihnen ausgeraubt. Seine Mutter rief die Polizei. Aber die sei nicht gekommen. Jetzt nehmen die Jungs das Gesetz selbst in die Hand.
"Ich wurde an Silvester fast erstochen. Ich hab in 20 Tagen drei Freunde verloren. Alle drei tot. Du streitest dich auf einer Party, drei Monate später erkennt dich einer auf der Straße und sticht dich ab."
"”Erst neulich hat einer auf mich geschossen. Meine Schule in Hackney war so schlimm, dass man sie dicht machte. Ich habe Messer gesehen, Pistolen, Macheten, und sogar eine AK 47.""
Ein Schnellfeuergewehr. Jeder, der zu ihrer Gang gehört, ist ihr ’broth’, ihr ‘Bruder’. Die Kleineren nennen sie: ’my boy’ - meinen Sohn. Allesamt Sorgenkinder.
"Mit elf sind sie noch friedliche Bürschchen. Mit 13 sind sie verdorben. Und mit 15, 16 erreichen sie ihr Maximum. Sie beruhigen sich nur wenn sie im Knast sitzen oder tot sind."
München ist kein Einzelfall - in ganz Europa sind die Gewaltexzesse jugendlicher Straftäter Thema öffentlicher Debatten; ob in Kopenhagen oder Rom, in Paris oder Madrid - überall wächst die Angst vor der zunehmenden Brutalität immer jüngerer Gewalttäter. In vielen Großstädten ist die Polizei bereits auf dem Rückzug - in manchen Problemvierteln lässt sie sich gar nicht mehr blicken: Dort gelten die Gesetze des Staates nicht mehr, dort regiert das Gesetz der Straße. Und wenn es - wie in britischen Großstädten - zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden kommt, herrscht nur noch das Recht des Stärkeren.
Wenn Jugendgewalt ein Indikator für den Zerfall einer Gesellschaft ist, dann geht es Großbritannien ziemlich schlecht. Zu diesem Ergebnis kommen alle einschlägigen Untersuchungen von EU, UNO und UNICEF - nirgendwo sonst in den 21 Industriestaaten ist es so schlecht um Kinder und Jugendliche bestellt: Viele sind vereinsamt, verwahrlost, auf Gruppen Gleichaltriger angewiesen. Sie sind drogensüchtig, alkoholabhängig - und immer öfter gewalttätig. In den letzten 15 Monaten wurden allein in London 34 Kinder und Jugendliche von Gleichaltrigen ermordet.
Waltham Forest im Nordosten Londons. Ein armes Viertel mit einer Schule, die Aussteiger und Analphabeten, notorische Schulverweigerer und vorbestrafte Gewalttäter zurückholen möchte. Sie sind 16 bis 19 Jahre alt. Und bei denen, die Angst verbreiten, geht die größte Angst um.
Schwarze gefütterte Parkas, schwarze Handschuhe, schwere Halsketten. Fünf afrokaribische Jungs und ein Pakistani in einem Klassenzimmer im Waltham Forest College, Ostlondon.
"Früher haben sie dich nur verletzt, heute wirst du abgeknallt. Oder erstochen.”"
"”Ich geh nicht mehr aus meinem Revier heraus."
"Früher konntest du bis nach Seven Kings gehen. Jetzt sind dort so viel Banden, da kommst du nicht mehr durch."
"”Respekt, Respekt, es geht immer nur um Respekt. Wer bist du? Wen kennst du? Was hast du an dir? Ein Schritt auf ihrem Revier, und du riskierst dein Leben.""
Sie sitzen dicht beieinander, eine geschlossene Front. 17, 18 Jahre alt - vorbestraft, vom normalen Schulbetrieb verbannt. Sie ’beklagen’ die Jüngeren. Die heutige Jugend sei noch schlimmer.
"Es liegt nicht an uns, es ist die junge Generation Die wollen sich groß machen, für uns."
"”Wie du dich schützen kannst? Indem du jemand bist. In Edmonton kennen sie uns, aber in Tottenham wirst du abgemurkst.""
"”Ich lebe in Marsda. Im Getto. Wenn du zu keiner Gang gehörst, hast du keine Chance in Frieden zu leben.""
"Früher ging es um die größeren Viertel. Heute bekämpfen sich schon die Wohnblocks."
"Der Krieg kommt immer näher. Bald ist es Nachbar gegen Nachbar."
Die Jungs verachten die Polizei. Und die Medien. Von denen würden sie unter Generalverdacht gestellt: jeder ein Krimineller. Neulich wurde einer von ihnen ausgeraubt. Seine Mutter rief die Polizei. Aber die sei nicht gekommen. Jetzt nehmen die Jungs das Gesetz selbst in die Hand.
"Ich wurde an Silvester fast erstochen. Ich hab in 20 Tagen drei Freunde verloren. Alle drei tot. Du streitest dich auf einer Party, drei Monate später erkennt dich einer auf der Straße und sticht dich ab."
"”Erst neulich hat einer auf mich geschossen. Meine Schule in Hackney war so schlimm, dass man sie dicht machte. Ich habe Messer gesehen, Pistolen, Macheten, und sogar eine AK 47.""
Ein Schnellfeuergewehr. Jeder, der zu ihrer Gang gehört, ist ihr ’broth’, ihr ‘Bruder’. Die Kleineren nennen sie: ’my boy’ - meinen Sohn. Allesamt Sorgenkinder.
"Mit elf sind sie noch friedliche Bürschchen. Mit 13 sind sie verdorben. Und mit 15, 16 erreichen sie ihr Maximum. Sie beruhigen sich nur wenn sie im Knast sitzen oder tot sind."
Vom Flughafen zum Getto des sozialen Wohnungsbaus:
Das Grand Park Estate als Gewaltkulisse
Das Grand Park Estate als Gewaltkulisse
Sie heißen Hoxton Biker Boys, Brick Lane Massive, Peckham Boys oder einfach: Ghetto Boys - und alle miteinander befinden sich im Krieg. Früher war das ein Krieg der Postcodes, da verliefen die Fronten entlang der Postleitzahlen, Vorort gegen Vorort, Viertel gegen Viertel. Heute werden die Revierkämpfe um Macht und Einfluss, Geld und Ehre immer kleinteiliger ausgetragen - heute tobt der Kampf zwischen Straßenzügen, Siedlungen, Hochhausblöcken: Die Gangs splittern sich immer weiter auf - Scotland Yard schätzt, dass es allein in London 200 Straßenbanden gibt. Die Szene wird immer undurchsichtiger. Die Folgen sind fatal: Die Banden bekommen immer neuen Zulauf, weil sich kein Kind mehr traut, ohne den Schutz einer Gang zu bleiben. So werden die Mitglieder der Banden immer jünger - und ihr Kampf brutaler: Die Kleinsten wollen ihren Mut beweisen und sich gegenüber den Älteren behaupten.
Mit wachsender Besorgnis und zunehmender Ohnmacht verfolgen die Behörden, wie der Straßenkampf zunehmend militant wird: Der Besitz eines Messers reicht nicht mehr, um in der Gruppenhierarchie zu bestehen. Immer mehr Kids tragen Schusswaffen. Jeder dritte Mord wird mit einem Messer verübt. Doch schon jeder fünfte mit einer Handfeuerwaffe. Die Täter kennen keine Gnade - und keine Reue.
Gerhard Rühm: Auf und ab
"Du blickst mich an
Gehst auf und ab
Dann schaust du weg
Gehst auf und ab
Und blickst mich an
Gehst auf und ab
Gehst fort und kommst
Gehst auf und ab
Kommst näher und
Schaust wieder weg
Und blickst mich an
Gehst auf und ab
Bis ich dich pack
Und hab."
Die Gewalt nimmt überall dort zu, wo die Armut wächst. Wie weit die Schere zwischen arm und reich mittlerweile auseinander geht, das lässt sich in jenen Wohnquartieren ablesen, die zu sozialen Notstandsgebieten verkommen sind und zu No-go-Areas wurden. Hier leben die, die wenig zu tun haben und nichts mehr zu erwarten.
Das trifft Ausländer und Inländer gleichermaßen. Das Problem der Jugendgewalt wird in Großbritannien - anders als bei uns - nicht vor dem Hintergrund der Zuwanderung diskutiert. Die meisten Jugendlichen, die gemeint sind, haben einen britischen Pass. Es geht also nicht um Minderheit oder Mehrheit, um schwarz oder weiß, um Christen, Hindus oder Moslems. Es geht um oben und unten. Um arm oder reich. Es geht ums Überleben.
Zum Beispiel im Grand Park Estate im Norden Londons. Auf dem Areal eines ehemaligen Flughafens steht heute eine heruntergekommene Siedlung des sozialen Wohnungsbaus: ein abgeschottetes Getto, in dem die Wohnungen so klein sind, dass noch nicht einmal ein gemeinsamer Familientisch hineinpasst. Die meisten Väter haben sich davon gemacht, die alleinerziehenden Mütter sind auf sich gestellt. Und die Kids gehen auf die Straße: In dem sozialen Großstadt-Dschungel suchen sie nach einer Identität der Stärke.
Der Busbahnhof liegt direkt unter der Autobahn. Graue Wände, verschmierte Graffiti. In der Ecke Jungs mit Kapuzenpullis, Kampfhund und Handy.
"”Eine typische Gewaltkulisse. Vor allem nach dem Unterricht. Die Kinder kommen aus verschiedenen Schulen und warten hier in Riesenklüngeln auf den Bus. Am meisten Respekt bekommst du, wenn du es schaffst, deine Gruppe gegen einen Außenseiter aufzuhetzen. Jetzt fahren um diese Tageszeit immer Polizisten mit.""
Mike Jenn ist seit 30 Jahren Streetworker. Er hat große milde Augen, trägt einen ausgebeulten Kordanzug, und schiebt ein zerdelltes blaues Fahrrad. Dies ist sein letzter Tag im Grand Park Estate.
Mitten durchs kalte Herz der Siedlung, eine lange, schnurgerade Schneise.
"Im Jahr 1913 startete hier der erste kommerzielle Passagierflieger der Welt. Wir stehen mitten auf dem ehemaligen Flughafen von Hendon. Die Siedlung wurde auf beiden Seiten der Start und Landebahn hochgezogen. Daher die Straßennamen: Flightway und Flightpath.”"
5000 Menschen wohnen in der Siedlung. Im gelben Sodiumlicht vier- bis sechstöckige Häuserblocks im Stil der 60er Jahre. Kein sozialer, sondern asozialer Wohnungsbau.
"”Die Wohnungen werden nach Bedürftigkeit vergeben. Das führt dazu, dass hier nur Problemfamilien leben. Dicht an dicht. Das kann nicht gut gehen. Die Leute haben keine Erwartungen, keine Perspektiven und keine soziale Kontrolle."
Die Wege sind verlassen. Die Leute verschanzen sich in ihren Wohnungen, sagt Mike Jenn. In der Ferne brummt die Autobahn.
"Eigentlich wurde die Siedlung für arme weiße Arbeiterfamilien gebaut. Heute sind es Afrokariber, Asiaten, Somalis und immer mehr Osteuropäer. Die Blocks sollten längst renoviert werden. Viele Familien sind ausgezogen. Aber wegen der akuten Wohnungsnot kommen immer wieder welche nach. Ein Durchgangslager. Niemand kümmert sich. Nichts hält diese Leute zusammen."
Die Plaza, ein massiges Becken aus Beton. Am Rand: Billigläden, Take Aways, eine Drogerie. Beratungsstellen. Eine Polizeistation, grell beleuchtet, leer. Das Gemeinde-Café gibt es schon lang nicht mehr, aber das hatte ohnehin nur immer Dienstag nachmittags offen. Manchmal kommen die Leute in der kleinen kurdischen Bäckerei zusammen, aber den zwei Bäckern wird es allmählich zu viel.
"Eben weil soziale Härtefälle bei der Zuteilung der Wohnungen oberste Priorität haben, wohnen hier vor allem junge alleinstehende Mütter und kinderreiche Familien. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter 25. Es gibt viel zu wenig Erwachsene."
Mike Jenn bleibt vor einem Büro stehen, in fröhlichen Gelb-, Rot- und Blautönen bemalt. Der One Stop Shop, eine Informations- und Anlaufstelle, das soziale Flaggschiffprojekt der Labour Regierung.
Er entsichert die Alarmanlage. Die Mitarbeiter sind schon weg. Irgendwo klingelt ein Telefon. One Stop Shops bieten verschiedene Hilfeleistungen unter einem Dach: bei Übersetzungsproblemen, bei Behördengängen. "Erschließe dein Potenzial, steht auf einem Poster". Im Regal stapelweise Broschüren: "Allein mit Kind - was tun?"
Hinter dem One Stop Shop eine Feuertreppe zum ersten Stock. Dort hat die Kommune ein neues Jugendzentrum eingerichtet. Es enthält einen großen Computerraum und ein hochmodernes Rundfunkstudio. Die Ausrüstung hat mehrere zehntausend Pfund gekostet. Im Raum sitzen drei Kinder.
Ein Zehnjähriger beugt sich angestrengt über seinen Bildschirm. Er entwirft einen Werbespot über einen Ausflug nach London. In den Buckingham Palast. Seine Hausaufgabe.
Am Plattendeck lässt sich ein Mädchen von einem Disk Jockey technische Tricks erklären.
Sie träumt davon, später mal fürs Radio zu arbeiten.
In der Ecke hockt ein somalischer Youthworker. Er starrt vor sich hin.
Ein Teenager stottert ins Mikrophon.
"”Das ist Peter, er ist autistisch. Im normalen Leben hat er keine Stimme.""
Keins dieser Kinder wohnt auf dem Grand Park Estate, sondern weiter draußen. Sie werden von ihren Eltern hergebracht, weil die das Projekt gut finden. Die Jugendlichen vom Grand Park Estate bleiben weg.
Mit wachsender Besorgnis und zunehmender Ohnmacht verfolgen die Behörden, wie der Straßenkampf zunehmend militant wird: Der Besitz eines Messers reicht nicht mehr, um in der Gruppenhierarchie zu bestehen. Immer mehr Kids tragen Schusswaffen. Jeder dritte Mord wird mit einem Messer verübt. Doch schon jeder fünfte mit einer Handfeuerwaffe. Die Täter kennen keine Gnade - und keine Reue.
Gerhard Rühm: Auf und ab
"Du blickst mich an
Gehst auf und ab
Dann schaust du weg
Gehst auf und ab
Und blickst mich an
Gehst auf und ab
Gehst fort und kommst
Gehst auf und ab
Kommst näher und
Schaust wieder weg
Und blickst mich an
Gehst auf und ab
Bis ich dich pack
Und hab."
Die Gewalt nimmt überall dort zu, wo die Armut wächst. Wie weit die Schere zwischen arm und reich mittlerweile auseinander geht, das lässt sich in jenen Wohnquartieren ablesen, die zu sozialen Notstandsgebieten verkommen sind und zu No-go-Areas wurden. Hier leben die, die wenig zu tun haben und nichts mehr zu erwarten.
Das trifft Ausländer und Inländer gleichermaßen. Das Problem der Jugendgewalt wird in Großbritannien - anders als bei uns - nicht vor dem Hintergrund der Zuwanderung diskutiert. Die meisten Jugendlichen, die gemeint sind, haben einen britischen Pass. Es geht also nicht um Minderheit oder Mehrheit, um schwarz oder weiß, um Christen, Hindus oder Moslems. Es geht um oben und unten. Um arm oder reich. Es geht ums Überleben.
Zum Beispiel im Grand Park Estate im Norden Londons. Auf dem Areal eines ehemaligen Flughafens steht heute eine heruntergekommene Siedlung des sozialen Wohnungsbaus: ein abgeschottetes Getto, in dem die Wohnungen so klein sind, dass noch nicht einmal ein gemeinsamer Familientisch hineinpasst. Die meisten Väter haben sich davon gemacht, die alleinerziehenden Mütter sind auf sich gestellt. Und die Kids gehen auf die Straße: In dem sozialen Großstadt-Dschungel suchen sie nach einer Identität der Stärke.
Der Busbahnhof liegt direkt unter der Autobahn. Graue Wände, verschmierte Graffiti. In der Ecke Jungs mit Kapuzenpullis, Kampfhund und Handy.
"”Eine typische Gewaltkulisse. Vor allem nach dem Unterricht. Die Kinder kommen aus verschiedenen Schulen und warten hier in Riesenklüngeln auf den Bus. Am meisten Respekt bekommst du, wenn du es schaffst, deine Gruppe gegen einen Außenseiter aufzuhetzen. Jetzt fahren um diese Tageszeit immer Polizisten mit.""
Mike Jenn ist seit 30 Jahren Streetworker. Er hat große milde Augen, trägt einen ausgebeulten Kordanzug, und schiebt ein zerdelltes blaues Fahrrad. Dies ist sein letzter Tag im Grand Park Estate.
Mitten durchs kalte Herz der Siedlung, eine lange, schnurgerade Schneise.
"Im Jahr 1913 startete hier der erste kommerzielle Passagierflieger der Welt. Wir stehen mitten auf dem ehemaligen Flughafen von Hendon. Die Siedlung wurde auf beiden Seiten der Start und Landebahn hochgezogen. Daher die Straßennamen: Flightway und Flightpath.”"
5000 Menschen wohnen in der Siedlung. Im gelben Sodiumlicht vier- bis sechstöckige Häuserblocks im Stil der 60er Jahre. Kein sozialer, sondern asozialer Wohnungsbau.
"”Die Wohnungen werden nach Bedürftigkeit vergeben. Das führt dazu, dass hier nur Problemfamilien leben. Dicht an dicht. Das kann nicht gut gehen. Die Leute haben keine Erwartungen, keine Perspektiven und keine soziale Kontrolle."
Die Wege sind verlassen. Die Leute verschanzen sich in ihren Wohnungen, sagt Mike Jenn. In der Ferne brummt die Autobahn.
"Eigentlich wurde die Siedlung für arme weiße Arbeiterfamilien gebaut. Heute sind es Afrokariber, Asiaten, Somalis und immer mehr Osteuropäer. Die Blocks sollten längst renoviert werden. Viele Familien sind ausgezogen. Aber wegen der akuten Wohnungsnot kommen immer wieder welche nach. Ein Durchgangslager. Niemand kümmert sich. Nichts hält diese Leute zusammen."
Die Plaza, ein massiges Becken aus Beton. Am Rand: Billigläden, Take Aways, eine Drogerie. Beratungsstellen. Eine Polizeistation, grell beleuchtet, leer. Das Gemeinde-Café gibt es schon lang nicht mehr, aber das hatte ohnehin nur immer Dienstag nachmittags offen. Manchmal kommen die Leute in der kleinen kurdischen Bäckerei zusammen, aber den zwei Bäckern wird es allmählich zu viel.
"Eben weil soziale Härtefälle bei der Zuteilung der Wohnungen oberste Priorität haben, wohnen hier vor allem junge alleinstehende Mütter und kinderreiche Familien. Fast die Hälfte der Bewohner ist unter 25. Es gibt viel zu wenig Erwachsene."
Mike Jenn bleibt vor einem Büro stehen, in fröhlichen Gelb-, Rot- und Blautönen bemalt. Der One Stop Shop, eine Informations- und Anlaufstelle, das soziale Flaggschiffprojekt der Labour Regierung.
Er entsichert die Alarmanlage. Die Mitarbeiter sind schon weg. Irgendwo klingelt ein Telefon. One Stop Shops bieten verschiedene Hilfeleistungen unter einem Dach: bei Übersetzungsproblemen, bei Behördengängen. "Erschließe dein Potenzial, steht auf einem Poster". Im Regal stapelweise Broschüren: "Allein mit Kind - was tun?"
Hinter dem One Stop Shop eine Feuertreppe zum ersten Stock. Dort hat die Kommune ein neues Jugendzentrum eingerichtet. Es enthält einen großen Computerraum und ein hochmodernes Rundfunkstudio. Die Ausrüstung hat mehrere zehntausend Pfund gekostet. Im Raum sitzen drei Kinder.
Ein Zehnjähriger beugt sich angestrengt über seinen Bildschirm. Er entwirft einen Werbespot über einen Ausflug nach London. In den Buckingham Palast. Seine Hausaufgabe.
Am Plattendeck lässt sich ein Mädchen von einem Disk Jockey technische Tricks erklären.
Sie träumt davon, später mal fürs Radio zu arbeiten.
In der Ecke hockt ein somalischer Youthworker. Er starrt vor sich hin.
Ein Teenager stottert ins Mikrophon.
"”Das ist Peter, er ist autistisch. Im normalen Leben hat er keine Stimme.""
Keins dieser Kinder wohnt auf dem Grand Park Estate, sondern weiter draußen. Sie werden von ihren Eltern hergebracht, weil die das Projekt gut finden. Die Jugendlichen vom Grand Park Estate bleiben weg.
Der Weg ist das Ziel:
Der Sozialarbeiter Mike Jenn und die Bilanz eines Berufslebens
Der Sozialarbeiter Mike Jenn und die Bilanz eines Berufslebens
Thomas Brasch: Ich hab die Nacht geträumet
"Ich hab die Nacht geträumet
Ich bring dich endlich um
Und hab auch nichts versäumet
Dein Blut floß so herum
Ich hab die Nacht geträumet
Ich weiß nicht wohin mit Dir
Dein Totleib aufgebäumet
Hielt sich so fest an mir
Ich hab die Nacht geträumet
Du bist doch gar nicht tot
Stand auf hab aufgeräumet
Bin noch jetzt in Not"
Wo immer mehr Kinder zu Opfern jugendlicher Gewalt werden, steht die Zukunftsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Dann muss sich die Gemeinschaft fragen, was da falsch gelaufen ist.
Britische Soziologen verweisen auf einen lang anhaltenden familiären Erosionsprozess - wenn das Verhältnis zum Nachwuchs schon im traditionellen Familienverständnis gestört war, so ist es jetzt zerrüttet. Von einem allgemeinen Werteverfall ist die Rede, aber auch von fehlender Fürsorge, von Vernachlässigung, von psychischer Ignoranz.
In den Vorstädten Londons, Liverpools und Glasgows lässt sich ablesen, wie weit der gesellschaftliche Zerfallsprozess im Zeichen der sozialen Spaltung bereits vorangeschritten ist: Die Kinder, die dort aufwachsen, haben jedenfalls kaum Chancen, dem Kreislauf aus Armut, sozialer Abhängigkeit, Sucht und häuslicher Gewalt zu entfliehen.
Stattdessen folgen sie dem Gesetz der Straße - und das meint denkbar klare Verhältnisse: Wer sich nicht beugen will, muss fühlen. Respect ist die Vokabel, die im Zentrum dieser archaischen Denk- und Handlungsweisen steht. Der Respekt wird mit allen Mitteln eingefordert - erwartet wird unbedingter Gehorsam, Gefolgschaft, Unterwürfigkeit. Ein hierarchischer Ehrenkodex, der sich in den Videoclips der Musiksender wiederfindet: Der von HipHop-Stars verherrlichte Lebensstil im Getto gibt das Leitbild vor.
Mike Jenn kennt die Regeln - mit nichts anderem hat er sich sein ganzes Berufsleben als Sozialarbeiter beschäftigt. Wenn er jemals geglaubt haben sollte, dass er grundsätzlich etwas verändern könnte - so war das eine Illusion. Und doch kennt Mike Erfolgsgefühle.
Müde aber nicht bitter. 30 Jahre lang hat Mike Jenn auf der Straße gearbeitet. Mit drogensüchtigen Kindern, Obdachlosen, Vorbestraften. Die meisten kamen aus gewalttätigen Familien.
"”Sie haben gelitten. Nun sollten alle anderen dafür büßen.""
Mike Jenn sitzt in einem Café im Talacre Centre, ein modernes Gemeinschafts-Zentrum im Londoner Stadtteil Camden. Mitte der 70er Jahre hat er hier eine alternative Schule aufgemacht, aber die ist längst geschlossen und niedergewalzt. Schon damals las er Schulschwänzer von der Straße auf.
"Jugendliche haben ein tiefes Bedürfnis, wie andere Jugendliche zu sein. Sie brauchen einen Ort, wo sie zusammen sein können."
Viele Teenager waren Analphabeten. Brauchten Monate, bis sie Vertrauen schöpften. An Raz erinnert er sich besonders gut.
"Raz hatte keinen Vater, er war total verwildert. Halb Asiate, halb Weißer. Einmal hab ich seine Mutter auf der Straße getroffen, aber ihr war es egal, wie es ihrem Sohn ging. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Ich glaube sie war drogensüchtig. Raz kam, weil wir die einzigen waren, die ihn positiv behandelten."
"Kinder werden ihr Verhalten nur dann ändern, wenn sie eine persönliche Beziehung zu jemanden haben, der ihnen wichtig ist."
Nach fünf Monaten sagte Raz, er könne nicht lesen. Mike Jenn begann mit den Sportseiten. Wie buchstabiert man Arsenal? Wer ist in der Spitzenliga? Wieviel Punkte? Wieviel Tore? Mike Jenn weiß nicht, was aus Raz geworden ist. Vier der zwölf Jungs in seiner Klasse sind tot.
Ist die Gewalt unter Jugendlichen eigentlich schlimmer geworden?
Die menschliche Natur ändert sich nicht, sagt Mike. Aber die Bedingungen haben sich gewandelt. Er schiebt sein altes Fahrrad durch Kentish Town, ein Bezirk in Nordlondon. Türkische Döner-Buden, polnische Delikatessen. Anwaltsbüros spezialisiert auf Visa-Fragen, Asyl- und Aufenthaltsrecht. Spielhallen, ein Internet-Café. Keine Ballspiele, steht auf einem Spielplatz. In einem Fenster das Schild: Achtung Kampfhund.
"Die Jugendlichen werden von allen Seiten mit Gewalt und Aggression bombardiert: in Filmen, Fernsehen, Werbung, Computerspielen. In Großbritannien hat sich ein ungeheurer Materialismus breitgemacht. Das erzeugt unrealistische Erwartungen:
Jeder will alles haben, und zwar sofort. Je mehr alles vom Status, vom Image abhängt, desto schneller fühlen sich Menschen, vor allem Jugendliche, narzistisch verletzt."
Mike Jenn bleibt stehen um einen Klüngel von Jugendlichen vorbeizulassen. Er lehnt sich an sein Fahrrad. In den 30 Jahren Jugendarbeit ist er kein einziges Mal schwer verletzt worden. Einmal schickte ein aufgebrachtes Mädchen ihren Freund vor. Er sollte Mike Jenn zusammenschlagen.
"Er stürmte die Treppen hoch. Aber ich bewegte mich nicht von der Stelle. Er spürte, dass ich keinerlei Angst oder Aggression in mir hatte. Das hat ihn entwaffnet."
Mike schwingt sich auf sein Fahrrad. Ein paar Ecken weiter liegt sein Schrebergärtchen. An seinem 60. Geburtstag hat Mike Jenn beschlossen, sich nur noch seinen Pflanzen zu widmen. Und seiner Familie. Sie hat ihm die Kraft gegeben, so lange durchzuhalten. Aber jetzt will er nicht mehr. Mike Jenn ist müde.
"”Du musst das Schlimmste akzeptieren, das dir die Kinder geben können. Erst dann ist eine Heilung möglich. Einmal hatte ich einen Jungen, der verhielt sich so extrem, dass jeder vor ihm zurückwich. Seine Mutter hatte sich vor seinen Augen die Pulsadern durchgeschnitten und war gestorben. Als Lehrer musst du das Leiden dieser Kinder auf dich nehmen. Das ist ein eigenartiger Dreh. Du musst für ihre Vergangenheit bezahlen. Ihr Leiden muss abgegolten werden.”"
"Ich hab die Nacht geträumet
Ich bring dich endlich um
Und hab auch nichts versäumet
Dein Blut floß so herum
Ich hab die Nacht geträumet
Ich weiß nicht wohin mit Dir
Dein Totleib aufgebäumet
Hielt sich so fest an mir
Ich hab die Nacht geträumet
Du bist doch gar nicht tot
Stand auf hab aufgeräumet
Bin noch jetzt in Not"
Wo immer mehr Kinder zu Opfern jugendlicher Gewalt werden, steht die Zukunftsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Dann muss sich die Gemeinschaft fragen, was da falsch gelaufen ist.
Britische Soziologen verweisen auf einen lang anhaltenden familiären Erosionsprozess - wenn das Verhältnis zum Nachwuchs schon im traditionellen Familienverständnis gestört war, so ist es jetzt zerrüttet. Von einem allgemeinen Werteverfall ist die Rede, aber auch von fehlender Fürsorge, von Vernachlässigung, von psychischer Ignoranz.
In den Vorstädten Londons, Liverpools und Glasgows lässt sich ablesen, wie weit der gesellschaftliche Zerfallsprozess im Zeichen der sozialen Spaltung bereits vorangeschritten ist: Die Kinder, die dort aufwachsen, haben jedenfalls kaum Chancen, dem Kreislauf aus Armut, sozialer Abhängigkeit, Sucht und häuslicher Gewalt zu entfliehen.
Stattdessen folgen sie dem Gesetz der Straße - und das meint denkbar klare Verhältnisse: Wer sich nicht beugen will, muss fühlen. Respect ist die Vokabel, die im Zentrum dieser archaischen Denk- und Handlungsweisen steht. Der Respekt wird mit allen Mitteln eingefordert - erwartet wird unbedingter Gehorsam, Gefolgschaft, Unterwürfigkeit. Ein hierarchischer Ehrenkodex, der sich in den Videoclips der Musiksender wiederfindet: Der von HipHop-Stars verherrlichte Lebensstil im Getto gibt das Leitbild vor.
Mike Jenn kennt die Regeln - mit nichts anderem hat er sich sein ganzes Berufsleben als Sozialarbeiter beschäftigt. Wenn er jemals geglaubt haben sollte, dass er grundsätzlich etwas verändern könnte - so war das eine Illusion. Und doch kennt Mike Erfolgsgefühle.
Müde aber nicht bitter. 30 Jahre lang hat Mike Jenn auf der Straße gearbeitet. Mit drogensüchtigen Kindern, Obdachlosen, Vorbestraften. Die meisten kamen aus gewalttätigen Familien.
"”Sie haben gelitten. Nun sollten alle anderen dafür büßen.""
Mike Jenn sitzt in einem Café im Talacre Centre, ein modernes Gemeinschafts-Zentrum im Londoner Stadtteil Camden. Mitte der 70er Jahre hat er hier eine alternative Schule aufgemacht, aber die ist längst geschlossen und niedergewalzt. Schon damals las er Schulschwänzer von der Straße auf.
"Jugendliche haben ein tiefes Bedürfnis, wie andere Jugendliche zu sein. Sie brauchen einen Ort, wo sie zusammen sein können."
Viele Teenager waren Analphabeten. Brauchten Monate, bis sie Vertrauen schöpften. An Raz erinnert er sich besonders gut.
"Raz hatte keinen Vater, er war total verwildert. Halb Asiate, halb Weißer. Einmal hab ich seine Mutter auf der Straße getroffen, aber ihr war es egal, wie es ihrem Sohn ging. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Ich glaube sie war drogensüchtig. Raz kam, weil wir die einzigen waren, die ihn positiv behandelten."
"Kinder werden ihr Verhalten nur dann ändern, wenn sie eine persönliche Beziehung zu jemanden haben, der ihnen wichtig ist."
Nach fünf Monaten sagte Raz, er könne nicht lesen. Mike Jenn begann mit den Sportseiten. Wie buchstabiert man Arsenal? Wer ist in der Spitzenliga? Wieviel Punkte? Wieviel Tore? Mike Jenn weiß nicht, was aus Raz geworden ist. Vier der zwölf Jungs in seiner Klasse sind tot.
Ist die Gewalt unter Jugendlichen eigentlich schlimmer geworden?
Die menschliche Natur ändert sich nicht, sagt Mike. Aber die Bedingungen haben sich gewandelt. Er schiebt sein altes Fahrrad durch Kentish Town, ein Bezirk in Nordlondon. Türkische Döner-Buden, polnische Delikatessen. Anwaltsbüros spezialisiert auf Visa-Fragen, Asyl- und Aufenthaltsrecht. Spielhallen, ein Internet-Café. Keine Ballspiele, steht auf einem Spielplatz. In einem Fenster das Schild: Achtung Kampfhund.
"Die Jugendlichen werden von allen Seiten mit Gewalt und Aggression bombardiert: in Filmen, Fernsehen, Werbung, Computerspielen. In Großbritannien hat sich ein ungeheurer Materialismus breitgemacht. Das erzeugt unrealistische Erwartungen:
Jeder will alles haben, und zwar sofort. Je mehr alles vom Status, vom Image abhängt, desto schneller fühlen sich Menschen, vor allem Jugendliche, narzistisch verletzt."
Mike Jenn bleibt stehen um einen Klüngel von Jugendlichen vorbeizulassen. Er lehnt sich an sein Fahrrad. In den 30 Jahren Jugendarbeit ist er kein einziges Mal schwer verletzt worden. Einmal schickte ein aufgebrachtes Mädchen ihren Freund vor. Er sollte Mike Jenn zusammenschlagen.
"Er stürmte die Treppen hoch. Aber ich bewegte mich nicht von der Stelle. Er spürte, dass ich keinerlei Angst oder Aggression in mir hatte. Das hat ihn entwaffnet."
Mike schwingt sich auf sein Fahrrad. Ein paar Ecken weiter liegt sein Schrebergärtchen. An seinem 60. Geburtstag hat Mike Jenn beschlossen, sich nur noch seinen Pflanzen zu widmen. Und seiner Familie. Sie hat ihm die Kraft gegeben, so lange durchzuhalten. Aber jetzt will er nicht mehr. Mike Jenn ist müde.
"”Du musst das Schlimmste akzeptieren, das dir die Kinder geben können. Erst dann ist eine Heilung möglich. Einmal hatte ich einen Jungen, der verhielt sich so extrem, dass jeder vor ihm zurückwich. Seine Mutter hatte sich vor seinen Augen die Pulsadern durchgeschnitten und war gestorben. Als Lehrer musst du das Leiden dieser Kinder auf dich nehmen. Das ist ein eigenartiger Dreh. Du musst für ihre Vergangenheit bezahlen. Ihr Leiden muss abgegolten werden.”"
Zuwendung mit Konsequenz:
Die Lehren der Lehrerin Angela Harvey
Die Lehren der Lehrerin Angela Harvey
Aus Georg Büchners Woyzeck: Das Märchen der Großmutter
"Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter
War alles todt und war niemand mehr auf der Welt. Alles todt,
und es ist hingegangen und hat greint Tag und Nacht. Und
weil auf der Erd niemand mehr war, wollt´s in Himmel gehen,
und der Mond guckt es so freundlich an und da ist es zur
Sonn gangen und wie´s zur Sonn kam, war´s ein verreckt
Sonneblum und wie´s zu den Sterne kam, waren´s klei
golde Mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf
die Schlehe steckt und wie´s wieder auf die Erd wollt, war die
Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat
sich´s hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist
ganz allein."
Die einen ziehen sich hinter die Schutzmauern bewachter Wohlstandsquartiere zurück, die anderen leben in gesellschaftlich ausgegrenzten Gettos - doch nicht nur physisch wird die Kluft zwischen den sozialen Welten immer größer, auch in den Köpfen haben sich die Klassenunterschiede verfestigt. Die Gesellschaft will mit den Ausgeschlossenen nichts zu tun haben, Polizei und Justiz kommen nicht mehr an sie heran. Und die Erfahrung lehrt: Noch härtere Strafen und noch schärfere Gesetze bringen nichts.
Die Briten haben bereits ein rigides Jugendstrafrecht, das in Europa seinesgleichen sucht. Britische Kinder sind schon im Alter von zehn Jahren strafmündig. Eine Höchstgrenze für Sanktionen gibt es nicht. Seit 1998 werden die sogenannten ASBOs verhängt - Antisocial Behaviour Orders -, eine Art Strafmandate für Fehlverhalten, denen auf Antrag der Amtsgerichte schnell Haft folgen kann. 6300 britische Jugendliche sitzen in Haft - die Hälfte von ihnen jünger als 16 Jahre. Diese Kinder sind Kamikaze-Kids, sagen Experten: Sie haben schon so viel Gewalt erlebt, dass staatliche Sanktionen sie nicht mehr beeindrucken können. Im Gegenteil: Sie brüsten sich damit. ASBOs gelten als Ehrenorden. Und so ist die Gewaltkriminalität von Jugendlichen trotz aller Abschreckungsversuche weiter gestiegen.
Mehr noch: Die Mädchen haben in der Statistik nachgezogen - schon ist die Rede von einer verhängnisvollen Emanzipation. Das Gewaltpotenzial der jungen Frauen steht dem der jungen Männer in nichts mehr nach.
Ein Morgen im Osten Londons - im Waltham Forest College beginnt für Angela Harvey der Schultag. Angela Harvey ist Lehrerin. Sie ist schwarz, intelligent, tough - und sie weiß, dass das Schulsystem seinen Anteil an der ganzen Misere hat: Die Schule hat nicht nur bei der Vermittlung von Wissen versagt, meint sie, sondern auch bei der Vermittlung von Werten. Deshalb macht Angela Harvey alles ganz anders - sie holt die Kinder dort ab, wo sie sind. Ganz unten.
Ihre Vorgängerin wurde von den Mädchen niedergeschrien und ausgesperrt. Niemand wollte die Klasse übernehmen. Außer Angela Harvey. Sie wird von den Teenagern akzeptiert. Dennoch ist das Klassenzimmer heute verdächtig leer. Und das ist ungewöhnlich.
Was steckt dahinter?, fragt Angela Harvey. Knallrote Strümpfe, Stöckelschuhe. Schwarzes Kostüm, Bolero. Um die 30. Ihr Afrohaar zu einem borstigen Pferdeschwanz gebunden. Mit milder Ironie blickt sie auf ihre halbleere Klasse: fünf Mädchen, ein Junge, zwischen 16 und 18 Jahre alt.
Melanie Jones, die Collegeleiterin, erscheint an der Tür. Sichtlich beleidigt. Sie beginnt ein Kreuzverhör. Die Teenager bocken.
"”Eigentlich war das eine wunderbare Woche ohne Kinder. Schwänzerinnen können sich auf etwas gefasst machen.""
Die Teenager tuscheln. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. ’Polizei’ ist zu hören und ’Boyfriend’, ’Panikanfall’, ’Banden’ und ’Sozialarbeiter’. Angela Harvey gibt ihnen erst mal eine Beruhigungpause.
Früher oder später werden ihr die Mädchen sagen, was passiert ist.
Sie schnappt kurz frische Luft.
Angela Harvey kommt aus stabilen Verhältnissen. Ihre Eltern stammen aus Jamaika. Die Mutter war Augenärztin, der Vater Pilot in der britischen Luftwaffe. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er für Großbritannien.
"Meine Eltern schickten mich aufs beste Gymnasium: Erziehung, Erziehung, Erziehung. Ich wusste ganz genau, ich muss als Schwarze besser sein, damit ich behandelt werde wie die Weißen."
Angela Harvey will mit Kindern arbeiten, die weniger gute Voraussetzungen haben. Ihre Schüler können nicht richtig schreiben und lesen und kennen Englisch zumeist nur als Zweitsprache.
Rostige Stühle, klebrige Tische, ein Mädchen lackiert sich die Fingernägel. Heute soll jeder Schüler ein Referat über einen Modeschöpfer halten, anschließend eine Diskussion leiten - und die Arbeit der Mitschüler kommentieren.
"”Wie buchstabiert man Gaultier? Hör doch zu, Mann! Kerri, wie schreibt man eigentlich deinen Namen? Miss, wie spricht man dieses Wort aus? Und was bedeutet das überhaupt ’confident’ - selbstsicher?""
Angela Harvey erklärt, lobt, freut sich. Hauptsache, sie machen Fortschritte. Die Texte und Illustrationen könnten von Zehnjährigen stammen. Dabei wirken die Girls so cool, so erwachsen. Radua, halb ägyptisch halb polnisch, türkisfarbene Augen, blauer Turban, schicke gelbe Jacke, goldene Schuhe. Alija, der Vater aus Kenia, die Mutter aus Somalia, ganz in pink durchgestylt. Und Sarena, aus Pakistan, knallrote Fingernägel, Piercings, Dekolleté.
"”Am Anfang des Trimesters haben sie einen kleinen Text über den peinlichsten Moment in ihrem Leben verfasst. Ein Mädchen schrieb: ’Ich stand mitten auf dem Schulhof, als ein Vogel auf meinen Arm machte.’ Und ein anderes Mädchen: ’Ich war in meinem Haus, in Somalia, dann kamen die Soldaten und fingen an zu schießen, ich rannte weg, und merkte erst später, dass ich gar keine Kleider anhatte.’""
Die letzte Stunde: Staatsbürgerkunde. Die Teenager sollen sich vorstellen. Woher komme ich? Wer bin ich? Es geht um kulturelle Vielfalt, Zusammenleben, Harmonie.
Sechs Schüler - fünf Sprachen. Polnisch, Arabisch, Urdu, Türkisch, Barawa. Keri ist die einzige Engländerin. Ihre Religion: Pagan - vorchristlich. Was ist denn das, wollen die andern wissen. Sie sind alle Muslime. Sie mockieren sich über Sevil - ein blasses dünnes Kind. Sevil ist Kurdin, in London geboren und aufgewachsen. Aber ihr Englisch ist kaum zu verstehen. Beide sind Außenseiter.
Angela Harvey hakt nach: Wer wurde schon einmal gemobbt? Alle nicken. Das ist wie ein Gruppenritual, erzählen die Teenager: sich gemeinsam auf einen Außenseiter zu stürzen, das schweißt eine Gang zusammen. Da helfe nur eines: Keine Schwächen zeigen und selbst zu einer Bande zu gehören.
"”Ja, auch Mädchen sind gewalttätiger geworden, sie wollen zeigen, dass sie genauso hart sind wie Jungs. Aber die Jungs haben damit angefangen. Sie haben vor niemandem mehr Respekt. Manche sind so schlimm, sie schlagen sogar ihre Mütter zusammen.""
Am Nachmittag steht Angela vor ihrer schwierigsten Klasse. Es ist auch ihre liebste. Eine Gruppe schwarzer und asiatischer Jungs zwischen 17 und 18. Allesamt vorbestraft.
"”Sie können ziemlich bedrohlich wirken, aber ich erlebe sie ganz anders. Sie müssen ständig von einer Rolle in die andere wechseln um zu überleben. Muslimische Jungs, die daheim fromm fasten und beten, aber auf der Straße Rap-Musik hören, fluchen und auf den Putz hauen, weil sie jeden Tag aufs Neue beweisen müssen wie hart sie sind.""
Angela Harvey trägt ihre Jungs ins elektronische Klassenbuch ein. Sie sind alle da. Vielleicht liegt das am Projekt: Sie sollen ein Videospiel entwickeln, in dem sie ihre eigene Welt entwerfen.
"”Auf diese Weise arbeiten wir an dem was wir gemeinsam gelernt haben, ohne dass sie es merken. Wir diskutieren über Menschenrechte, über Verbrechen, Strafe. Jetzt entscheiden sie: Wie sieht ihre ideale Welt aus? Und wer hat die Macht?""
Eigentlich heißt auch dieses Fach Staatsbürgerkunde, doch das weiß nur Angela Harvey. Sie erwartet blutrünstige Videowelten, aber es kommt ganz anders.
Nikita hält ein Blatt Papier hoch. Darauf hat er einen Marsmenschen gezeichnet. Und einen Marshund. Ungelenk, ein naives Kinderbild. In seiner Welt leben Erdbewohner und Marsmenschen friedlich nebeneinander.
Mathew hat sich eine Unterwasserwelt ausgedacht. Stolz zeigt er seine Gemälde: Delfine, Meerjungfrauen, Märchenkreaturen, die höchstens in Olympiaden gegeneinander antreten, niemals im Krieg.
Auch die anderen Jungs entwerfen Utopien, linkisch und liebevoll, ohne Banden, ohne Gewalt und voller Harmonie. Passt gut auf euch auf, sagt Angela Harvey, am Ende der Stunde. Nach dem Unterricht fährt sie heim nach Islington. Eine ’bessere’ Gegend.
Hier ist der Alltag zu gefährlich - besonders für junge Männer. Viele tragen Schutzkleidung, wenn sie auf die Straße gehen. Nach Möglichkeit schusssichere Westen. Oder ein Stück Holz unter dem T-Shirt. Angela Harvey bestraft sie nicht, wenn sie keine Schulsachen dabei haben. Manche wurden überfallen und schwer verletzt, nur weil sie zum Unterricht gingen. Angela Harvey hat Angst um sie - vor allem um Quame.
"Quame, der ganz große Kerl, der hat so viel Potenzial, Er ist hell, er ist wortgewandt, in einem anderen Umfeld wäre er sicher Rechtsanwalt geworden. Aber weil er so groß ist, fällt er überall auf: Er ist der erste, den die Polizei kleinmachen will, und der erste, den eine Gang niedermachen will - einfach nur deswegen, weil sein Äußeres bedrohlich wirkt."
"Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Klasse aufrufe - wo ist der und der - und die Schüler sagen, Miss, der wurde gestern Abend erschossen."
"Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter
War alles todt und war niemand mehr auf der Welt. Alles todt,
und es ist hingegangen und hat greint Tag und Nacht. Und
weil auf der Erd niemand mehr war, wollt´s in Himmel gehen,
und der Mond guckt es so freundlich an und da ist es zur
Sonn gangen und wie´s zur Sonn kam, war´s ein verreckt
Sonneblum und wie´s zu den Sterne kam, waren´s klei
golde Mück, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf
die Schlehe steckt und wie´s wieder auf die Erd wollt, war die
Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat
sich´s hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist
ganz allein."
Die einen ziehen sich hinter die Schutzmauern bewachter Wohlstandsquartiere zurück, die anderen leben in gesellschaftlich ausgegrenzten Gettos - doch nicht nur physisch wird die Kluft zwischen den sozialen Welten immer größer, auch in den Köpfen haben sich die Klassenunterschiede verfestigt. Die Gesellschaft will mit den Ausgeschlossenen nichts zu tun haben, Polizei und Justiz kommen nicht mehr an sie heran. Und die Erfahrung lehrt: Noch härtere Strafen und noch schärfere Gesetze bringen nichts.
Die Briten haben bereits ein rigides Jugendstrafrecht, das in Europa seinesgleichen sucht. Britische Kinder sind schon im Alter von zehn Jahren strafmündig. Eine Höchstgrenze für Sanktionen gibt es nicht. Seit 1998 werden die sogenannten ASBOs verhängt - Antisocial Behaviour Orders -, eine Art Strafmandate für Fehlverhalten, denen auf Antrag der Amtsgerichte schnell Haft folgen kann. 6300 britische Jugendliche sitzen in Haft - die Hälfte von ihnen jünger als 16 Jahre. Diese Kinder sind Kamikaze-Kids, sagen Experten: Sie haben schon so viel Gewalt erlebt, dass staatliche Sanktionen sie nicht mehr beeindrucken können. Im Gegenteil: Sie brüsten sich damit. ASBOs gelten als Ehrenorden. Und so ist die Gewaltkriminalität von Jugendlichen trotz aller Abschreckungsversuche weiter gestiegen.
Mehr noch: Die Mädchen haben in der Statistik nachgezogen - schon ist die Rede von einer verhängnisvollen Emanzipation. Das Gewaltpotenzial der jungen Frauen steht dem der jungen Männer in nichts mehr nach.
Ein Morgen im Osten Londons - im Waltham Forest College beginnt für Angela Harvey der Schultag. Angela Harvey ist Lehrerin. Sie ist schwarz, intelligent, tough - und sie weiß, dass das Schulsystem seinen Anteil an der ganzen Misere hat: Die Schule hat nicht nur bei der Vermittlung von Wissen versagt, meint sie, sondern auch bei der Vermittlung von Werten. Deshalb macht Angela Harvey alles ganz anders - sie holt die Kinder dort ab, wo sie sind. Ganz unten.
Ihre Vorgängerin wurde von den Mädchen niedergeschrien und ausgesperrt. Niemand wollte die Klasse übernehmen. Außer Angela Harvey. Sie wird von den Teenagern akzeptiert. Dennoch ist das Klassenzimmer heute verdächtig leer. Und das ist ungewöhnlich.
Was steckt dahinter?, fragt Angela Harvey. Knallrote Strümpfe, Stöckelschuhe. Schwarzes Kostüm, Bolero. Um die 30. Ihr Afrohaar zu einem borstigen Pferdeschwanz gebunden. Mit milder Ironie blickt sie auf ihre halbleere Klasse: fünf Mädchen, ein Junge, zwischen 16 und 18 Jahre alt.
Melanie Jones, die Collegeleiterin, erscheint an der Tür. Sichtlich beleidigt. Sie beginnt ein Kreuzverhör. Die Teenager bocken.
"”Eigentlich war das eine wunderbare Woche ohne Kinder. Schwänzerinnen können sich auf etwas gefasst machen.""
Die Teenager tuscheln. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. ’Polizei’ ist zu hören und ’Boyfriend’, ’Panikanfall’, ’Banden’ und ’Sozialarbeiter’. Angela Harvey gibt ihnen erst mal eine Beruhigungpause.
Früher oder später werden ihr die Mädchen sagen, was passiert ist.
Sie schnappt kurz frische Luft.
Angela Harvey kommt aus stabilen Verhältnissen. Ihre Eltern stammen aus Jamaika. Die Mutter war Augenärztin, der Vater Pilot in der britischen Luftwaffe. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er für Großbritannien.
"Meine Eltern schickten mich aufs beste Gymnasium: Erziehung, Erziehung, Erziehung. Ich wusste ganz genau, ich muss als Schwarze besser sein, damit ich behandelt werde wie die Weißen."
Angela Harvey will mit Kindern arbeiten, die weniger gute Voraussetzungen haben. Ihre Schüler können nicht richtig schreiben und lesen und kennen Englisch zumeist nur als Zweitsprache.
Rostige Stühle, klebrige Tische, ein Mädchen lackiert sich die Fingernägel. Heute soll jeder Schüler ein Referat über einen Modeschöpfer halten, anschließend eine Diskussion leiten - und die Arbeit der Mitschüler kommentieren.
"”Wie buchstabiert man Gaultier? Hör doch zu, Mann! Kerri, wie schreibt man eigentlich deinen Namen? Miss, wie spricht man dieses Wort aus? Und was bedeutet das überhaupt ’confident’ - selbstsicher?""
Angela Harvey erklärt, lobt, freut sich. Hauptsache, sie machen Fortschritte. Die Texte und Illustrationen könnten von Zehnjährigen stammen. Dabei wirken die Girls so cool, so erwachsen. Radua, halb ägyptisch halb polnisch, türkisfarbene Augen, blauer Turban, schicke gelbe Jacke, goldene Schuhe. Alija, der Vater aus Kenia, die Mutter aus Somalia, ganz in pink durchgestylt. Und Sarena, aus Pakistan, knallrote Fingernägel, Piercings, Dekolleté.
"”Am Anfang des Trimesters haben sie einen kleinen Text über den peinlichsten Moment in ihrem Leben verfasst. Ein Mädchen schrieb: ’Ich stand mitten auf dem Schulhof, als ein Vogel auf meinen Arm machte.’ Und ein anderes Mädchen: ’Ich war in meinem Haus, in Somalia, dann kamen die Soldaten und fingen an zu schießen, ich rannte weg, und merkte erst später, dass ich gar keine Kleider anhatte.’""
Die letzte Stunde: Staatsbürgerkunde. Die Teenager sollen sich vorstellen. Woher komme ich? Wer bin ich? Es geht um kulturelle Vielfalt, Zusammenleben, Harmonie.
Sechs Schüler - fünf Sprachen. Polnisch, Arabisch, Urdu, Türkisch, Barawa. Keri ist die einzige Engländerin. Ihre Religion: Pagan - vorchristlich. Was ist denn das, wollen die andern wissen. Sie sind alle Muslime. Sie mockieren sich über Sevil - ein blasses dünnes Kind. Sevil ist Kurdin, in London geboren und aufgewachsen. Aber ihr Englisch ist kaum zu verstehen. Beide sind Außenseiter.
Angela Harvey hakt nach: Wer wurde schon einmal gemobbt? Alle nicken. Das ist wie ein Gruppenritual, erzählen die Teenager: sich gemeinsam auf einen Außenseiter zu stürzen, das schweißt eine Gang zusammen. Da helfe nur eines: Keine Schwächen zeigen und selbst zu einer Bande zu gehören.
"”Ja, auch Mädchen sind gewalttätiger geworden, sie wollen zeigen, dass sie genauso hart sind wie Jungs. Aber die Jungs haben damit angefangen. Sie haben vor niemandem mehr Respekt. Manche sind so schlimm, sie schlagen sogar ihre Mütter zusammen.""
Am Nachmittag steht Angela vor ihrer schwierigsten Klasse. Es ist auch ihre liebste. Eine Gruppe schwarzer und asiatischer Jungs zwischen 17 und 18. Allesamt vorbestraft.
"”Sie können ziemlich bedrohlich wirken, aber ich erlebe sie ganz anders. Sie müssen ständig von einer Rolle in die andere wechseln um zu überleben. Muslimische Jungs, die daheim fromm fasten und beten, aber auf der Straße Rap-Musik hören, fluchen und auf den Putz hauen, weil sie jeden Tag aufs Neue beweisen müssen wie hart sie sind.""
Angela Harvey trägt ihre Jungs ins elektronische Klassenbuch ein. Sie sind alle da. Vielleicht liegt das am Projekt: Sie sollen ein Videospiel entwickeln, in dem sie ihre eigene Welt entwerfen.
"”Auf diese Weise arbeiten wir an dem was wir gemeinsam gelernt haben, ohne dass sie es merken. Wir diskutieren über Menschenrechte, über Verbrechen, Strafe. Jetzt entscheiden sie: Wie sieht ihre ideale Welt aus? Und wer hat die Macht?""
Eigentlich heißt auch dieses Fach Staatsbürgerkunde, doch das weiß nur Angela Harvey. Sie erwartet blutrünstige Videowelten, aber es kommt ganz anders.
Nikita hält ein Blatt Papier hoch. Darauf hat er einen Marsmenschen gezeichnet. Und einen Marshund. Ungelenk, ein naives Kinderbild. In seiner Welt leben Erdbewohner und Marsmenschen friedlich nebeneinander.
Mathew hat sich eine Unterwasserwelt ausgedacht. Stolz zeigt er seine Gemälde: Delfine, Meerjungfrauen, Märchenkreaturen, die höchstens in Olympiaden gegeneinander antreten, niemals im Krieg.
Auch die anderen Jungs entwerfen Utopien, linkisch und liebevoll, ohne Banden, ohne Gewalt und voller Harmonie. Passt gut auf euch auf, sagt Angela Harvey, am Ende der Stunde. Nach dem Unterricht fährt sie heim nach Islington. Eine ’bessere’ Gegend.
Hier ist der Alltag zu gefährlich - besonders für junge Männer. Viele tragen Schutzkleidung, wenn sie auf die Straße gehen. Nach Möglichkeit schusssichere Westen. Oder ein Stück Holz unter dem T-Shirt. Angela Harvey bestraft sie nicht, wenn sie keine Schulsachen dabei haben. Manche wurden überfallen und schwer verletzt, nur weil sie zum Unterricht gingen. Angela Harvey hat Angst um sie - vor allem um Quame.
"Quame, der ganz große Kerl, der hat so viel Potenzial, Er ist hell, er ist wortgewandt, in einem anderen Umfeld wäre er sicher Rechtsanwalt geworden. Aber weil er so groß ist, fällt er überall auf: Er ist der erste, den die Polizei kleinmachen will, und der erste, den eine Gang niedermachen will - einfach nur deswegen, weil sein Äußeres bedrohlich wirkt."
"Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Klasse aufrufe - wo ist der und der - und die Schüler sagen, Miss, der wurde gestern Abend erschossen."
Einer, der zum Vorbild taugt:
Shaun Bailey, Streetworker, Verfechter klarer Worte und Hoffnungsträger
Shaun Bailey, Streetworker, Verfechter klarer Worte und Hoffnungsträger
Thomas Brasch: Oft bist Du der, den ich liebe
"Oft bist Du der, den ich liebe
Oft bist Du der, den ich hasse
Viel seltener jedoch.
Auch der bist Du, vor dem ich mich fürchte.
Du bist der, der mich schlägt
Du bist der, der mich streichelt
Du bist der, der mir sagt, wer ich bin
Du bist der, der mir sagt, was ich kann.
Du bist der, der schreit
Und du bist der, der flüstert
Alles bist Du.
Aber nie wirst Du der sein,
der immer hier bleibt."
Der Befund ist eindeutig: Das Ausmaß der Gewalt mit Messern und Schusswaffen und unter Einfluß von Drogen oder Alkohol hat dramatische Ausmaße angenommen.
Die Anamnese ist lückenlos: Jeder fünfte Brite gilt als arm und verdient weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Ein Teil der Gesellschaft hat den sozialen Anschluss bereits verloren - die Angst vor dem sozialen Abstieg hat längst den Mittelstand erfasst. In dieser Atmosphäre werden gesellschaftliche Regeln und Grenzen zunehmend außer Kraft gesetzt und missachtet.
Das sind die Krankheitssymptome. Doch das Rezept lässt auf sich warten.
My Generation heißt ein Jugendzentrum, das mitten in den North Kensington Estates im Westen Londons steht, einem der berüchtigten sozialen Brennpunkte. Shaun Bailey hat es aufgebaut - er ist Streetworker und sozialer Vordenker: Vor ein paar Jahren veröffentlichte er in der Sunday Times einen Sechs-Punkte-Katalog gegen Jugendgewalt. Ein Plädoyer für klare Grenzen und moralische Maßstäbe. Und ein politischer Appell, sich den Problemen zu stellen und auf die Jugendlichen zuzugehen.
Nun wird er Politiker. Er wird bei den nächsten Parlamentswahlen kandidieren. Für die Tories, die britischen Konservativen.
Westbourne Park, Westlondon. Marokkanische Cafes, pakistanische Billigläden, karibische Essbuden. Unter der Autobahnbrücke, ein Busdepot. Südlich der tiefen Bahnschneise wohnt die Schickeria von Notting Hill. Filmstars, Banker, Politiker. Auf der anderen Seite in den berüchtigten North Kensington Estates tausende von Problemfamilien.
"”In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups.""
Shaun Bailey, 30, ein schwarzer Streetworker. Muskulös, durchtrainiert. Charismatisch. In in den North Kensington Estates aufgewachsen. Ohne Vater, wie die meisten Jungs afrokaribischer Herkunft.
"Mein Vater verschwand, bevor ich ein Jahr alt war. Aber ich hatte eine Großfamilie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, die sich um mich kümmerten und dafür sorgten, dass ich nicht vom richtigen Weg abkam. Heute mischt sich niemand mehr ein, wenn es um fremde Kinder geht."
Konzentriert. Zugewandt. Entschlossen. Wenn Shaun Bailey die Teenager in den North Kensington Estates anspricht, kommt er durch. Nicht gleich, oft dauert es Monate, bis sie mit ihm einen Kaffe trinken, vielleicht sogar zur Sporthalle mitkommen und schließlich zu seinem Zentrum "My Generation" - mitten auf den North Kensington Estates. Shaun Bailey kennt ihre Familie, ihre Freunde, ihre Lebensumstände. Er lässt sich nichts vormachen. Er spricht ihre Sprache. Und nimmt kein Blatt vor den Mund.
"Nur weil du schwarz bist, und einen schlechten Start im Leben hattest, entschuldigt das noch lange nicht dein ganzes Verhalten. Diese Einstellung wird von der weißen Mittelschicht gefördert: Weil sie sich den Schwarzen gegenüber schuldig fühlt, lässt sie oft Dinge durchgehen, die schlichtweg nicht akzeptabel sind."
Im Gemeinschaftszimmer geht Lydia, eine Betreuerin, mit einem Teenager einen Stapel von Broschüren durch.
"”Sie haben keinen Ehrgeiz, keine Selbstachtung, keine Ziele. Keine positiven Vorbilder. Ihre Eltern haben nie gearbeitet. Niemand kümmert sich. Wir helfen ihnen sich selbst zu helfen.""
Rabel, 21, will Elektriker werden. Jetzt sucht er einen Platz an einer Berufsschule.
"Ich kam vor drei Wochen aus dem Gefängnis, ich saß zwölf Monate im Knast. Das war ziemlich übel, aber ich hab versucht, mich fortzubilden und ging nach meiner Entlassung sofort zu Shaun. Am nächsten Tag fing ich an, auf dem Bau zu arbeiten."
Gar nicht erst Langeweile aufkommen lassen, sagt Shaun Bailey. Als Teenager war er selbst nahe dran, sich aus dem Bildungswesen auszuklinken. Er war ein schwacher Schüler. Aber zwei Dinge haben ihn aufgebaut.
"Ich war Mitglied der Armeekadetten. Und ich gehörte zu einem Gymnastik-Team. Die Armeekadetten brachten mir Disziplin bei. Und das Gymnastik-Team half mir aus meinem Umfeld herauszukommen. Ich reiste zu Wettbewerben nach Kontinentaleuropa, in die USA. Das hat meinen Horizont erweitert: Ich sah: Meine Sozialsiedlung ist nicht die ganze Welt."
Bandenkämpfe sind nicht nur ein schwarzes Problem, sagt Shaun Bailey. Im schottischen Glasgow gibt es schon seit Jahrzehnten weiße Gangfights. Aber in vielen Problemvierteln leben besonders viel Schwarze. Deswegen sind sie besonders betroffen, als Täter und als Opfer. Lokale Intitiativen wie sein Projekt funktionieren am besten, sagt er. Seine Mitarbeiter müssen sich nicht einarbeiten. Sie kennen das Milieu, aus erster Hand.
"Die härtesten Jungs kommen in meinen Führungskurs. Sie müssen sich bewähren. In Sportturnieren, in Rollenspielen. Ich hinterfrage ihr Verhalten. Viele haben es nie gelernt, sich verbal auszudrücken. Viele glauben, sie hätten keine Zukunft. Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, mit ihnen ein Zukunftskonzept zu entwickeln."
Shaun Bailey hat eine vielbeachtete Studie geschrieben. No Man’s Land. Der Titel ist ein Wortspiel: "Niemandsland". Aber auch "Keines Mannes Land. Ein Land ohne Väter." In dem Buch geht Shaun Bailey hart mit der britischen Gesellschaft ins Gericht.
"In Großbritannien heißt es ständig, wo ist der Staat, der soll doch etwas unternehmen. Aber der Staat kann nicht Familienvater spielen, je mehr er interveniert, desto mehr werden die Bürger entmündigt. Und je stärker das soziale Wohlfahrtssystem ausgebaut wird, desto tiefer bleiben die Menschen in der Armutsfalle stecken."
Shaun Bailey ist auch in der Politik aktiv. Die Konservativen haben ihn als Kandidaten für den Wahlkreis Hammersmith aufgestellt. Wie viele Konservative ist auch Shaun Bailey der Meinung, dass das britische Multi-Kulti-Modell zu weit gegangen ist. Denn es habe mehr zur Abschottung von Minderheiten beigetragen, als sie zu integrieren.
"Das britische Multi-Kulti-Modell bestärkt Minderheiten darin, sich als Opfer zu fühlen. Ich sage meinen Jungs, es ist höchste Zeit, aus aus der Opferecke herauszukommen."
Shaun Bailey weiß wovon er spricht. Bei Rabel ist seine Botschaft schon angekommen.
"Ich arbeite von acht Uhr früh bis acht, manchmal sogar bis elf Uhr abends. Niemand bekommt mich zu Gesicht. Ich will mich nie mehr in Revierkämpfe einmischen. Meine Lehre ist meine Investition in meine Zukunft. Es gibt keine Entschuldigung."
"Oft bist Du der, den ich liebe
Oft bist Du der, den ich hasse
Viel seltener jedoch.
Auch der bist Du, vor dem ich mich fürchte.
Du bist der, der mich schlägt
Du bist der, der mich streichelt
Du bist der, der mir sagt, wer ich bin
Du bist der, der mir sagt, was ich kann.
Du bist der, der schreit
Und du bist der, der flüstert
Alles bist Du.
Aber nie wirst Du der sein,
der immer hier bleibt."
Der Befund ist eindeutig: Das Ausmaß der Gewalt mit Messern und Schusswaffen und unter Einfluß von Drogen oder Alkohol hat dramatische Ausmaße angenommen.
Die Anamnese ist lückenlos: Jeder fünfte Brite gilt als arm und verdient weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Ein Teil der Gesellschaft hat den sozialen Anschluss bereits verloren - die Angst vor dem sozialen Abstieg hat längst den Mittelstand erfasst. In dieser Atmosphäre werden gesellschaftliche Regeln und Grenzen zunehmend außer Kraft gesetzt und missachtet.
Das sind die Krankheitssymptome. Doch das Rezept lässt auf sich warten.
My Generation heißt ein Jugendzentrum, das mitten in den North Kensington Estates im Westen Londons steht, einem der berüchtigten sozialen Brennpunkte. Shaun Bailey hat es aufgebaut - er ist Streetworker und sozialer Vordenker: Vor ein paar Jahren veröffentlichte er in der Sunday Times einen Sechs-Punkte-Katalog gegen Jugendgewalt. Ein Plädoyer für klare Grenzen und moralische Maßstäbe. Und ein politischer Appell, sich den Problemen zu stellen und auf die Jugendlichen zuzugehen.
Nun wird er Politiker. Er wird bei den nächsten Parlamentswahlen kandidieren. Für die Tories, die britischen Konservativen.
Westbourne Park, Westlondon. Marokkanische Cafes, pakistanische Billigläden, karibische Essbuden. Unter der Autobahnbrücke, ein Busdepot. Südlich der tiefen Bahnschneise wohnt die Schickeria von Notting Hill. Filmstars, Banker, Politiker. Auf der anderen Seite in den berüchtigten North Kensington Estates tausende von Problemfamilien.
"”In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups.""
Shaun Bailey, 30, ein schwarzer Streetworker. Muskulös, durchtrainiert. Charismatisch. In in den North Kensington Estates aufgewachsen. Ohne Vater, wie die meisten Jungs afrokaribischer Herkunft.
"Mein Vater verschwand, bevor ich ein Jahr alt war. Aber ich hatte eine Großfamilie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, die sich um mich kümmerten und dafür sorgten, dass ich nicht vom richtigen Weg abkam. Heute mischt sich niemand mehr ein, wenn es um fremde Kinder geht."
Konzentriert. Zugewandt. Entschlossen. Wenn Shaun Bailey die Teenager in den North Kensington Estates anspricht, kommt er durch. Nicht gleich, oft dauert es Monate, bis sie mit ihm einen Kaffe trinken, vielleicht sogar zur Sporthalle mitkommen und schließlich zu seinem Zentrum "My Generation" - mitten auf den North Kensington Estates. Shaun Bailey kennt ihre Familie, ihre Freunde, ihre Lebensumstände. Er lässt sich nichts vormachen. Er spricht ihre Sprache. Und nimmt kein Blatt vor den Mund.
"Nur weil du schwarz bist, und einen schlechten Start im Leben hattest, entschuldigt das noch lange nicht dein ganzes Verhalten. Diese Einstellung wird von der weißen Mittelschicht gefördert: Weil sie sich den Schwarzen gegenüber schuldig fühlt, lässt sie oft Dinge durchgehen, die schlichtweg nicht akzeptabel sind."
Im Gemeinschaftszimmer geht Lydia, eine Betreuerin, mit einem Teenager einen Stapel von Broschüren durch.
"”Sie haben keinen Ehrgeiz, keine Selbstachtung, keine Ziele. Keine positiven Vorbilder. Ihre Eltern haben nie gearbeitet. Niemand kümmert sich. Wir helfen ihnen sich selbst zu helfen.""
Rabel, 21, will Elektriker werden. Jetzt sucht er einen Platz an einer Berufsschule.
"Ich kam vor drei Wochen aus dem Gefängnis, ich saß zwölf Monate im Knast. Das war ziemlich übel, aber ich hab versucht, mich fortzubilden und ging nach meiner Entlassung sofort zu Shaun. Am nächsten Tag fing ich an, auf dem Bau zu arbeiten."
Gar nicht erst Langeweile aufkommen lassen, sagt Shaun Bailey. Als Teenager war er selbst nahe dran, sich aus dem Bildungswesen auszuklinken. Er war ein schwacher Schüler. Aber zwei Dinge haben ihn aufgebaut.
"Ich war Mitglied der Armeekadetten. Und ich gehörte zu einem Gymnastik-Team. Die Armeekadetten brachten mir Disziplin bei. Und das Gymnastik-Team half mir aus meinem Umfeld herauszukommen. Ich reiste zu Wettbewerben nach Kontinentaleuropa, in die USA. Das hat meinen Horizont erweitert: Ich sah: Meine Sozialsiedlung ist nicht die ganze Welt."
Bandenkämpfe sind nicht nur ein schwarzes Problem, sagt Shaun Bailey. Im schottischen Glasgow gibt es schon seit Jahrzehnten weiße Gangfights. Aber in vielen Problemvierteln leben besonders viel Schwarze. Deswegen sind sie besonders betroffen, als Täter und als Opfer. Lokale Intitiativen wie sein Projekt funktionieren am besten, sagt er. Seine Mitarbeiter müssen sich nicht einarbeiten. Sie kennen das Milieu, aus erster Hand.
"Die härtesten Jungs kommen in meinen Führungskurs. Sie müssen sich bewähren. In Sportturnieren, in Rollenspielen. Ich hinterfrage ihr Verhalten. Viele haben es nie gelernt, sich verbal auszudrücken. Viele glauben, sie hätten keine Zukunft. Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, mit ihnen ein Zukunftskonzept zu entwickeln."
Shaun Bailey hat eine vielbeachtete Studie geschrieben. No Man’s Land. Der Titel ist ein Wortspiel: "Niemandsland". Aber auch "Keines Mannes Land. Ein Land ohne Väter." In dem Buch geht Shaun Bailey hart mit der britischen Gesellschaft ins Gericht.
"In Großbritannien heißt es ständig, wo ist der Staat, der soll doch etwas unternehmen. Aber der Staat kann nicht Familienvater spielen, je mehr er interveniert, desto mehr werden die Bürger entmündigt. Und je stärker das soziale Wohlfahrtssystem ausgebaut wird, desto tiefer bleiben die Menschen in der Armutsfalle stecken."
Shaun Bailey ist auch in der Politik aktiv. Die Konservativen haben ihn als Kandidaten für den Wahlkreis Hammersmith aufgestellt. Wie viele Konservative ist auch Shaun Bailey der Meinung, dass das britische Multi-Kulti-Modell zu weit gegangen ist. Denn es habe mehr zur Abschottung von Minderheiten beigetragen, als sie zu integrieren.
"Das britische Multi-Kulti-Modell bestärkt Minderheiten darin, sich als Opfer zu fühlen. Ich sage meinen Jungs, es ist höchste Zeit, aus aus der Opferecke herauszukommen."
Shaun Bailey weiß wovon er spricht. Bei Rabel ist seine Botschaft schon angekommen.
"Ich arbeite von acht Uhr früh bis acht, manchmal sogar bis elf Uhr abends. Niemand bekommt mich zu Gesicht. Ich will mich nie mehr in Revierkämpfe einmischen. Meine Lehre ist meine Investition in meine Zukunft. Es gibt keine Entschuldigung."