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Aufarbeitung der duklen Vergangenheit

Argentinien arbeitet entschlossen daran, die Verbrechen der früheren Militärdiktatur aufzudecken. Wie genau die Militärjunta und andere südamerikanische Diktaturen vorgingen, versuchen südamerikanische Justizsysteme durch grenzüberschreitende Kooperationen zu ermitteln.

Von Victoria Eglau | 27.04.2013
    Die Szene ist argentinischen Fernsehzuschauern längst vertraut: Angehörige der Opfer jubeln, weinen oder skandieren "Mörder, Mörder”, wenn wieder einmal ein Angehöriger des Unterdrückungsapparats der Diktatur verurteilt worden ist. In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Szene dutzendfach wiederholt. Denn als der Oberste Gerichtshof Argentiniens 2005 jene Gesetze, die die Diktaturverbrecher vor Strafverfolgung geschützt hatten, für verfassungswidrig erklärte und aufhob, kam eine Prozesswelle in Gang. Mehr als 270 ehemalige Militärs und Polizisten sind bisher verurteilt worden und verbüßen Gefängnisstrafen.

    Der Jurist und Argentinien-Experte Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte nennt die Aufarbeitung der Vergangenheit in Argentinien beispielhaft:

    "Gerade als Deutscher kann man das nicht hoch genug einschätzen. Deutschland hat es nie geschafft, seine Verbrechen in dem Umfang aufzuarbeiten wie Argentinien jetzt. Und selbst, wenn man den Blick in die internationale Landschaft wirft – es gibt praktisch kein Land, das mit einer dermaßen auch gesellschaftlichen Unterstützung seine Vergangenheit juristisch aufarbeitet. Und das alles mit den Mitteln eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens."

    Die Militärdiktatur in Argentinien hatte 1976 mit dem Putsch gegen Präsidentin Maria Estela Martinez de Perón begonnen und endete 1983 mit freien Wahlen. Die Diktatur verfolgte ihre Gegner erbarmungslos. Bei der Jagd auf sogenannte Subversive wurde der Staat selbst zum Verbrecher, der folterte und mordete. Laut Menschenrechtsorganisationen ließen Armee und Polizei 30.000 Menschen verschwinden, darunter linke Oppositionelle, Guerilleros, Gewerkschafter und Studenten. Offiziell registriert sind 13000 "desparecidos" - Verschwundene. Einen ersten Versuch der Justiz, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, gab es bereits zwei Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie.

    1985 fand in Buenos Aires der Prozess gegen die Junta statt. Unter anderem verurteilte das Gericht die Generäle Jorge Videla und Emilio Massera zu lebenslanger Haft. Doch nur wenige Jahre später schob ein Schlusspunkt-Gesetz einer umfangreicheren juristischen Aufarbeitung der Diktatur einen Riegel vor. 1989 und 90 schließlich begnadigte Präsident Carlos Menem eine Reihe von Militärs, darunter Videla und Massera.

    "Ich denke, keine Gesellschaft kann eine wirkliche Demokratie aufbauen, keine Gesellschaft kann ihre Würde zurückerlangen, wenn sie die Urheber solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht vor Gericht stellt","

    sagt Ana Maria Careaga, die in den letzten Jahren in verschiedenen Prozessen als Zeugin ausgesagt hat. Ihre Mutter wurde von den Militärs ermordet; man warf sie aus einem Flugzeug ins Meer. Careaga selbst wurde 1977 von einem Diktaturkommando verschleppt, das sie in ein Foltergefängnis brachte – unbeeindruckt davon, dass sie schwanger war. Dass die Justiz die schweren Menschenrechtsverletzungen und Morde nach der jahrzehntelangen Unterbrechung nun weiter aufarbeitet, darüber empfindet die Argentinierin Genugtuung.

    ""Ein Teil dieses dunklen Kapitels unserer Geschichte ist irreparabel, weil es so traumatisch war. Aber ein anderer Teil kann durch die Werkzeuge unserer heutigen Gesellschaft repariert werden, indem Gerechtigkeit geschaffen wird. Allerdings muss man darüber nachdenken, wie die Gerichtsprozesse beschleunigt werden können. Denn es sterben immer mehr Täter und Angehörige der Opfer."

    Letztere haben lange auf Gerechtigkeit gewartet. Doch dreißig Jahre nach Diktatur-Ende sind nicht nur die Angehörigen der Verschwundenen, sondern auch die meisten Urheber der Verbrechen sehr alt. Viele der damaligen Militärs starben, bevor sie verurteilt werden konnten. Der 87 jährige Ex-Diktator Jorge Videla allerdings musste bereits in mehreren Prozessen auf der Anklagebank Platz nehmen und wird aller Voraussicht nach hinter Gittern sterben. Eine Beschleunigung der juristischen Diktaturaufarbeitung wünscht sich der Menschenrechtsanwalt Rodrigo Borda vom Zentrum für rechtliche und soziale Studien, CELS, in Buenos Aires:
    "Unser Justizsystem ist generell zu langsam, vor allem dann, wenn es sich um komplexe Fälle handelt. Und die Prozesse um Diktaturverbrechen sind komplex. Es geht um viele Opfer, viele Täter, viele Angeklagte, viele Ankläger und Verteidiger. Auch besitzt das argentinische Justiz-System diverse Mechanismen, mit denen Prozesse verzögert werden können. All das führt dazu, dass die juristische Aufarbeitung nicht so schnell vonstatten geht, wie sie sollte."

    Ginge es nach den Menschenrechtsorganisationen, sollte auch den zivilen Verantwortlichen der Verbrechen der Prozess gemacht werden. Gegen José Alfredo Martinez de Hoz, irtschaftsminister in den ersten fünf Diktaturjahren, ermittelte die argentinische Justiz wegen seiner mutmaßlichen Verstrickung in die Verschleppung von zwei Unternehmern. Seit 2010 stand Martinez de Hoz unter Hausarrest, doch im vergangenen Monat starb er. Zum Team des Ministers hatte der Staatssekretär für Landwirtschaft, Jorge Zorreguieta, gehört – Vater der künftigen niederländischen Königin Maxima. Gegen Zorreguieta ging die argentinische Justiz bisher nicht vor. Menschenrechtler werfen ihm eine zumindest moralische Mitverantwortung für die Diktaturverbrechen vor.

    Im Vergleich mit anderen südamerikanischen Ländern, in denen ebenfalls Militärregime herrschten, arbeitet Argentinien seine dunkle Vergangenheit zweifellos am entschlossensten auf. Doch inzwischen kooperieren die Justizsysteme. Im März begann in Buenos Aires ein Prozess um die Verbrechen des Plan Condor. Im Rahmen dieses Plans halfen sich die Diktaturen gegenseitig bei der Verfolgung von Oppositionellen. Baltasar Garzón, früher spanischer Richter, heute Berater des argentinischen Abgeordnetenhauses:

    "Endlich koordiniert die südamerikanische Justiz ihre Arbeit grenzüberschreitend. Weil es nun Regierungen gibt, die dafür sind, ans Tageslicht zu bringen, worüber zuvor geschwiegen wurde. Ich denke, der Moment ist gekommen, um aufzudecken, wie genau die Diktaturen und ihre Geheimdienste zusammenarbeiteten, um Tausende von Menschen verschwinden zu lassen."