Wolfgang Engler, Kultursoziologe an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin, setzt sich seit über zwei Jahrzehnten unter kulturhistorischem Vorzeichen mit der Frage von Lüge und Aufrichtigkeit auseinander. Wenn er dies gerade in Zeiten der Krise wieder tut, erwartet man ein zeitdiagnostisches Urteil zur "Aufrichtigkeit im Kapitalismus", wie es im Untertitel des Buches heißt. Doch nur der erste von drei Teilen des Buches wird dem Untertitel gerecht.
In einem Kapitel mit dem Titel "Die Lüge aus Prinzip" geht Engler auf die aktuellen Praktiken von Investmentbankern und Hedgefonds ein. Systematisch Risiken verdunkeln, Spuren verwischen, falsche Fährten legen - in der heutigen Finanzwelt sieht Engler viele Tricks wieder auferstehen, die er aus der langen Geschichte von Lüge und Unaufrichtigkeit kennt. Die aktuelle Krise ist ihm dafür nur ein extremes Beispiel. Immer weiter steigern die Finanzmanager das Tempo, reizen den kleinsten Vorsprung bedenkenlos aus. Sie verpacken und verschnüren Risiken, laden sie um, versehen sie mit neuem Etikett, bis schließlich keiner mehr durchblickt. Engler kommentiert:
"Weil jeder meint, der andere sei der größere Narr, halten sich alle wechselseitig zum Narren. Die Schamschwellen der versachlichten, prolongierten Unaufrichtigkeit liegen heute so niedrig wie nie zuvor in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Die Täuschung segelt im Schatten weltumspannender Geld- und Warenströme; 'verbriefte Lügen', die am Ende auch ins Haus der Hauptakteure flattern; struktureller Betrug, Lüge aus Prinzip."
Mit einigem Befremden nimmt Engler zur Kenntnis, dass nun ausgerechnet der Staat, der 20 Jahre lang "von den ökonomisch Mächtigen in Verruf gebracht" wurde, das Vertrauen erneuern soll. Man hat den Bock zum Gärtner gemacht, kommentiert Engler, doch das Unkraut muss gejätet werden, eine Alternative gibt es nicht.
Im zweiten und weitaus größten Teil seines Buches widmet sich Engler allerdings nicht der Gegenwart, sondern legt einen kulturgeschichtlichen Parforceritt durch das von ihm so genannte "Theater der Aufrichtigkeit" vor. Er beginnt bei griechischen Philosophen, bei den Meistern der Rhetorik, streift die höfische Konversation und deren "verdorbene" Versteckspiele und stellt dem die "aufrichtige Kommunikation" unter Bürgern entgegen. Diese hätten sich als Glieder einer grenzüberschreitenden, "moralischen Versicherungsgemeinschaft", einer "Diskursgemeinschaft" im vorpolitischen Raum verstanden. Diese sogenannte "Gemeinde der Aufrichtigen" konstituierte sich gegen Klerus und Aristokratie. Wolfgang Engler:
"Die Utopie eines reinen, unverstellten mitmenschlichen Austauschs enthielt das politische Programm der Aufklärung im Keim und beschützte es vor fremder Arglist wie vor eigenem Übermut."
Gerade weil Engler sich dem aufklärerischen Ideal der Aufrichtigkeit so intensiv widmet, ist es erstaunlich, dass er auf das Entstehen der Öffentlichkeit nicht näher eingeht. Denn diese lebt - wie die Aufrichtigkeit - von ihrem normativen Anspruch auf Wahrheit. Von dort allerdings wäre es nur ein kleiner Schritt zur kommunikativen Vernunft eines Jürgen Habermas gewesen. Die Quintessenz von dessen Theorie kommunikativen Handelns besteht nämlich gerade darin, dass selbst in fehlgeschlagener Kommunikation noch Wahrheitsansprüche stecken. Doch damit will Wolfgang Engler nichts zu tun haben. Als Anhänger des Systemtheoretikers Niklas Luhmann geht er davon aus, dass die "Entmoralisierung" von gesellschaftlichen Subsystemen wie der Ökonomie ein Erfolg ist. Die Verheißung herrschaftsfreier Kommunikation hält Engler schlicht für "weltfremd", gesellschaftliche Relevanz verbindet er damit nicht. Es verwundert, dass jemand, der einer anderen Theorieschule angehört, die Parallelen zwischen Aufrichtigkeit und kommunikativer Vernunft nicht erkennt oder nicht anerkennen will. Letztendlich kommt Wolfgang Engler zu einem pessimistischen Fazit: Seit die menschlichen Beziehungen in Folge der industriellen Revolution versachlicht wurden, ist Aufrichtigkeit nicht mehr als eine persönliche Marotte. Privater Rückzug ins Biedermeier statt Wahrheitsanspruch - das ist alles, was bleibt.
"Aufrichtigkeit, wo sie noch angeht, im Privaten, bläst die soziale Fanfare nunmehr melancholisch mit der Mundharmonika."
Im dritten Teil des Buches wäre es naheliegend gewesen, sich des Konzeptes der Aufrichtigkeit als sozialmoralischem Heilmittel in der aktuellen Krise zu bedienen. Doch mit seinem funktionalistischen Ansatz hat sich Engler diesen Weg selbst abgeschnitten. Hier Ökonomie, dort Moral - diese strikte Trennung in "Subsysteme" führt nicht weiter. So wechselt Engler nun das Thema. Statt der Aufrichtigkeit widmet er sich nun der Authentizität. Ging es im Rahmen der Aufrichtigkeit um den gegenseitigen Austausch der Bürger, die einander "aufrichtig" gegenübertreten, so ist die Authentizität nun auf sich selbst bezogen. Es geht nur noch darum, ob das Ich sich selbst wahrhaftig erscheint. Auch hier streift der Autor assoziativ-gedankenreich recht unterschiedliche Sphären, macht mal einen Abstecher in die Arbeitswelt, tritt - wie früher schon - für die Entkopplung von Einkommen und Erwerbsarbeit ein. Er endet beim Kampf um Anerkennung und Respekt - beidem misst Engler große Bedeutung bei, zugleich warnt er aber:
"Der 'Kampf um Anerkennung', Kennzeichen jeder dynamischen Gesellschaft, darf das soziale Sein der Einzelnen nicht gefährden. In einem durchgehend zivilisierten Gemeinwesen genösse der Arbeitslose dieselbe soziale Anerkennung wie derzeit schon der Unverheiratete."
Wolfgang Engler schreibt elegant, mit Wortwitz und literarischem Anspruch, auch wenn sich unter seinen kreativen Metaphern die eine oder andere Stilblüte findet. Seine Stärke liegt in der assoziativen Verknüpfung, seine Gedankenblitze unterhalten. So zitiert er einen Montagearbeiter mit den Worten:
"Wenn die Arbeit Spaß machen würde, würden die Reichen sie den Armen niemals überlassen."
Allerdings hat unter den vergnüglichen Abschweifungen und der Fabulierkunst der Autors die argumentative Geschlossenheit seines Essays gelitten.
Rezensiert von Conrad Lay
Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip: Aufrichtigkeit im Kapitalismus
Aufbau Verlag, Berlin 2009, 19,95 Euro.
In einem Kapitel mit dem Titel "Die Lüge aus Prinzip" geht Engler auf die aktuellen Praktiken von Investmentbankern und Hedgefonds ein. Systematisch Risiken verdunkeln, Spuren verwischen, falsche Fährten legen - in der heutigen Finanzwelt sieht Engler viele Tricks wieder auferstehen, die er aus der langen Geschichte von Lüge und Unaufrichtigkeit kennt. Die aktuelle Krise ist ihm dafür nur ein extremes Beispiel. Immer weiter steigern die Finanzmanager das Tempo, reizen den kleinsten Vorsprung bedenkenlos aus. Sie verpacken und verschnüren Risiken, laden sie um, versehen sie mit neuem Etikett, bis schließlich keiner mehr durchblickt. Engler kommentiert:
"Weil jeder meint, der andere sei der größere Narr, halten sich alle wechselseitig zum Narren. Die Schamschwellen der versachlichten, prolongierten Unaufrichtigkeit liegen heute so niedrig wie nie zuvor in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Die Täuschung segelt im Schatten weltumspannender Geld- und Warenströme; 'verbriefte Lügen', die am Ende auch ins Haus der Hauptakteure flattern; struktureller Betrug, Lüge aus Prinzip."
Mit einigem Befremden nimmt Engler zur Kenntnis, dass nun ausgerechnet der Staat, der 20 Jahre lang "von den ökonomisch Mächtigen in Verruf gebracht" wurde, das Vertrauen erneuern soll. Man hat den Bock zum Gärtner gemacht, kommentiert Engler, doch das Unkraut muss gejätet werden, eine Alternative gibt es nicht.
Im zweiten und weitaus größten Teil seines Buches widmet sich Engler allerdings nicht der Gegenwart, sondern legt einen kulturgeschichtlichen Parforceritt durch das von ihm so genannte "Theater der Aufrichtigkeit" vor. Er beginnt bei griechischen Philosophen, bei den Meistern der Rhetorik, streift die höfische Konversation und deren "verdorbene" Versteckspiele und stellt dem die "aufrichtige Kommunikation" unter Bürgern entgegen. Diese hätten sich als Glieder einer grenzüberschreitenden, "moralischen Versicherungsgemeinschaft", einer "Diskursgemeinschaft" im vorpolitischen Raum verstanden. Diese sogenannte "Gemeinde der Aufrichtigen" konstituierte sich gegen Klerus und Aristokratie. Wolfgang Engler:
"Die Utopie eines reinen, unverstellten mitmenschlichen Austauschs enthielt das politische Programm der Aufklärung im Keim und beschützte es vor fremder Arglist wie vor eigenem Übermut."
Gerade weil Engler sich dem aufklärerischen Ideal der Aufrichtigkeit so intensiv widmet, ist es erstaunlich, dass er auf das Entstehen der Öffentlichkeit nicht näher eingeht. Denn diese lebt - wie die Aufrichtigkeit - von ihrem normativen Anspruch auf Wahrheit. Von dort allerdings wäre es nur ein kleiner Schritt zur kommunikativen Vernunft eines Jürgen Habermas gewesen. Die Quintessenz von dessen Theorie kommunikativen Handelns besteht nämlich gerade darin, dass selbst in fehlgeschlagener Kommunikation noch Wahrheitsansprüche stecken. Doch damit will Wolfgang Engler nichts zu tun haben. Als Anhänger des Systemtheoretikers Niklas Luhmann geht er davon aus, dass die "Entmoralisierung" von gesellschaftlichen Subsystemen wie der Ökonomie ein Erfolg ist. Die Verheißung herrschaftsfreier Kommunikation hält Engler schlicht für "weltfremd", gesellschaftliche Relevanz verbindet er damit nicht. Es verwundert, dass jemand, der einer anderen Theorieschule angehört, die Parallelen zwischen Aufrichtigkeit und kommunikativer Vernunft nicht erkennt oder nicht anerkennen will. Letztendlich kommt Wolfgang Engler zu einem pessimistischen Fazit: Seit die menschlichen Beziehungen in Folge der industriellen Revolution versachlicht wurden, ist Aufrichtigkeit nicht mehr als eine persönliche Marotte. Privater Rückzug ins Biedermeier statt Wahrheitsanspruch - das ist alles, was bleibt.
"Aufrichtigkeit, wo sie noch angeht, im Privaten, bläst die soziale Fanfare nunmehr melancholisch mit der Mundharmonika."
Im dritten Teil des Buches wäre es naheliegend gewesen, sich des Konzeptes der Aufrichtigkeit als sozialmoralischem Heilmittel in der aktuellen Krise zu bedienen. Doch mit seinem funktionalistischen Ansatz hat sich Engler diesen Weg selbst abgeschnitten. Hier Ökonomie, dort Moral - diese strikte Trennung in "Subsysteme" führt nicht weiter. So wechselt Engler nun das Thema. Statt der Aufrichtigkeit widmet er sich nun der Authentizität. Ging es im Rahmen der Aufrichtigkeit um den gegenseitigen Austausch der Bürger, die einander "aufrichtig" gegenübertreten, so ist die Authentizität nun auf sich selbst bezogen. Es geht nur noch darum, ob das Ich sich selbst wahrhaftig erscheint. Auch hier streift der Autor assoziativ-gedankenreich recht unterschiedliche Sphären, macht mal einen Abstecher in die Arbeitswelt, tritt - wie früher schon - für die Entkopplung von Einkommen und Erwerbsarbeit ein. Er endet beim Kampf um Anerkennung und Respekt - beidem misst Engler große Bedeutung bei, zugleich warnt er aber:
"Der 'Kampf um Anerkennung', Kennzeichen jeder dynamischen Gesellschaft, darf das soziale Sein der Einzelnen nicht gefährden. In einem durchgehend zivilisierten Gemeinwesen genösse der Arbeitslose dieselbe soziale Anerkennung wie derzeit schon der Unverheiratete."
Wolfgang Engler schreibt elegant, mit Wortwitz und literarischem Anspruch, auch wenn sich unter seinen kreativen Metaphern die eine oder andere Stilblüte findet. Seine Stärke liegt in der assoziativen Verknüpfung, seine Gedankenblitze unterhalten. So zitiert er einen Montagearbeiter mit den Worten:
"Wenn die Arbeit Spaß machen würde, würden die Reichen sie den Armen niemals überlassen."
Allerdings hat unter den vergnüglichen Abschweifungen und der Fabulierkunst der Autors die argumentative Geschlossenheit seines Essays gelitten.
Rezensiert von Conrad Lay
Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip: Aufrichtigkeit im Kapitalismus
Aufbau Verlag, Berlin 2009, 19,95 Euro.