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Aus dem Innenhof der Fantasie

"Das Erstaunlichste an beiden Büchern Shaun Tans: Schon beim bloßen Betrachten der Bilder stellt sich ein Gefühl der Vertrautheit ein, obwohl einem weder die Szenerie der fantastisch-realistischen Landschaften der Vorstadt noch die surreale Kulisse in der Neuen Welt auf den ersten Blick bekannt erscheint. Auch die Geschöpfe, die sich - neben den Menschen - darin bewegen, sind alles andere als alltägliche Gestalten. Wer begegnet schon einem Austauschschüler in Gestalt eines Ahornblattes oder einem tropfenden Wasserhahn auf dem Körper eines Kängurus? "

Von Siggi Seuß |
    Fast möchte man glauben, der australische Illustrator und Schriftsteller Shaun Tan sei in die deutsche Literaturlandschaft gefallen wie eines der seltsamen Geschöpfe in seine "Geschichten aus der Vorstadt des Universums". Wie Eric, zum Beispiel, der Austauschschüler, der - nach den Erzählungen des Autors - einst im Siedlungshaus der Tans wohnte.

    " Wir hatten das Gästezimmer frisch gestrichen, neue Teppiche und Möbel dafür gekauft, damit auch alles schön und bequem für ihn war."

    Nun darf man den Gast nicht nach üblichen menschlichen Maßstäben beurteilen. Eric sieht so aus wie ein hauchdünnes dreizackiges schwarzes Ahornblatt mit Beinchen und Ärmchen. Wie viele andere Gestalten in Tans Geschichten ist Eric ein Fantasiewesen, mit dem der Künstler "das Fremde" symbolisiert. Sein Gesicht besteht aus weiter nichts als zwei winzigen Löchern im Blatt. Außerdem passt Eric nicht nur in eine Kaffeetasse - nein, er schläft auch drin. Er schläft und lernt und liest in der dunklen Speisekammer. Und Mama rätselt derweil, ob der fremde junge Mann sich wirklich wohlfühlt und sie glaubt, sein Verhalten sei "was Kulturelles".

    " Meistens schien Eric sich mehr für kleine Dinge zu interessieren, die er auf dem Boden entdeckte. Das hätte ich vielleicht ein bisschen nervig gefunden, aber ich dachte immer daran, was Mama über das Kulturelle gesagt hatte. Dann störte es mich nicht mehr so."

    Wir Leser aus mitteleuropäischen Gefilden staunen und wundern uns über die fremden und gleichzeitig nahen Welten, die der im westaustralischen Perth lebende 34-jährige Künstler in gleich zwei Publikationen des Herbstprogramms in die Vorstädte des Abendlandes bringt: Die fantastischen "Geschichten aus der Vorstadt des Universums" und die noch fantastischere Graphic Novel "Ein neues Land", die gänzlich ohne Worte auskommt.

    "Ein neues Land" ist die Geschichte eines Emigranten und seiner Familie, in der sich das Schicksal vieler Auswanderer spiegelt. Auch Erinnerungen von Shaun Tans Vater, der vor 50 Jahren von Malaysia nach Australien kam, hatten den Künstler zu diesem außergewöhnlichen Buch inspiriert. Das Milieu in "Ein neues Land" ähnelt dem armer Auswanderer nach Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts: ein junger Mann - vielleicht aus einen südosteuropäischen Land -, der sich in eine neue Welt aufmacht, Freiheit und Arbeit sucht, um später Frau und Kind nachkommen zu lassen. Die Stadt, in der die Emigranten nach langer Überfahrt von Bord eines Ozeandampfers gehen, gleicht einer surrealen Traumlandschaft, mit Anlehnungen an das reale Manhattan zu jener Zeit.
    Das Erstaunlichste an beiden Büchern Shaun Tans: Schon beim bloßen Betrachten der Bilder stellt sich ein Gefühl der Vertrautheit ein, obwohl einem weder die Szenerie der fantastisch-realistischen Landschaften der Vorstadt noch die surreale Kulisse in der Neuen Welt auf den ersten Blick bekannt erscheint. Auch die Geschöpfe, die sich - neben den Menschen - darin bewegen, sind alles andere als alltägliche Gestalten. Wer begegnet schon einem Austauschschüler in Gestalt eines Ahornblattes oder einem tropfenden Wasserhahn auf dem Körper eines Kängurus?

    Gut, das Ambiente monotoner Vorstadtsiedlungen kennen wir hierzulande zumindest aus amerikanischen Filmen. Das Ambiente australischer Vorstädte wirkt ebenso trist, nur noch staubtrockener und heißer. Auffällig sind die uniformen Vorgärten, die im Zaum gehaltenen Büsche und Bäume, die Zäune, die Gehwege, die gezirkelten Gärtchen hinterm Haus - letzte Refugien einer langsam verarmenden Mittelschicht. Und zwischendrin Ödnis, Langeweile und hie und da die sichtbare Ästhetik des Verfalls: Risse im Asphalt vor den Einkaufszentren, von Unkraut überwuchertes Brachland, lose Gehwegplatten, abgeblätterte Fensterrahmen, Graffiti auf den Betonwänden in den Nischen von Straßenunterführungen.

    " Der grün gestrichene Beton vor dem Haus, der zunächst wie eine neuartige Methode schien, beim Rasenmähen Geld zu sparen, war einfach nur noch bedrückend. ... Viele Fenster ließen sich nicht richtig öffnen, um die Fliegen hinauszulassen. Andere ließen sich nicht richtig schließen, um zu verhindern, dass sie hereinkamen. Die frisch gepflanzten Obstbäume starben in der sandigen Erde eines zu sonnigen Gartens und standen unter den schlaffen Wäscheleinen, als bezeichneten sie Gräber - ein kleiner Friedhof der Enttäuschungen."

    Es ist eine Welt zwischen Realität und Fiktion, in die uns Shaun Tan führt. In seinen "Geschichten aus der Vorstadt des Universums" arbeitet er mit verschiedenen Illustrations- und Mischtechniken, gezeichnet, gemalt, aus Bildschnipseln collagiert, mit Graphit- oder Buntstiften in Szene gesetzt, mit Tusche und manchmal auch mit Temperafarben. In "Ein neues Land" benützt der Künstler ausschließlich Graphitstift - das Papier wurde dabei digital koloriert. Wie auch immer: Beide Bücher kennzeichnet ein fantastischer Realismus ganz eigener Prägung. Für junge Leser, vielleicht ab 14 Jahren, und gleichermaßen für Erwachsene.

    Plötzlich wundern wir uns nicht mehr darüber, dass in einem solchen Milieu wie in der Vorstadt des Universums das Fantastische, ja das Surreale blüht und wuchert - wie das Gras auf einem verwahrlosten Grundstück, auf dem ein riesiger alter Wasserbüffel haust.

    "Meistens schlief er und ignorierte jeden, der vorbeiging, außer wenn wir mal stehen blieben und ihn um Rat fragten. Dann kam er langsam zu uns her, hob den linken Huf und wies uns buchstäblich die richtige Richtung. Aber nie sagte er, worauf er zeigte oder wie weit man gehen musste oder was man tun sollte, wenn man dort war. Überhaupt sagte er nie etwas, denn Wasserbüffel sind so; sie reden nicht gern".

    Das Fantastische blüht - wie im alten Palastgarten, der sich hinter dem Durchbruch im Dachkammerboden auftut, ein "Innenhof" der Fantasie, der die Kargheit des Lebens draußen erträglicher macht. So viele seltsame Geschöpfe, so viele Innenhöfe der Fantasie, beglückend und manchmal auch bedrohlich! Hier tappst ein Wesen in einem uralten, muschelverkrustetem Taucheranzug den Gehsteig entlang. Dort stehen "Sie" und starren auf die Siedlungshäuser - Gestalten aus dürren Ästen, mit einem gesichtslosen Erdklumpen als Kopf.

    "Ob sie aus einem bestimmten Grund hier sind? Das lässt sich unmöglich sagen, aber wenn man sie längere Zeit anstarrt, kann man sich vorstellen, dass auch sie nach Antworten suchen, nach einer Art Sinn."

    Sie waren schon immer da, munkelt man, auch in der Zeit, als es noch keine Vorstädte gab. Sie irritieren die Passanten, verunsichern sie und geben die Fragen zurück, die den Menschen auf der Zunge liegen: "Wer seid ihr? Warum seid ihr da? Was wollt ihr?" Und vielleicht: "Warum seid ihr so geworden wie ihr seid?"

    Mit diesen Fragen konfrontiert Shaun Tan auch die Leser. Witzig, ironisch und herzensgütig. Bedeutsam ist dem Illustrator das In-den-Brennpunkt-Rücken der Spuren eines einzelnen Lebens. Das sieht man bereits auf den Frontispizseiten der beiden Bücher. Bis zum Rand gefüllt mit Symbolen kindlicher Fantasie die einen und mit Passbild-Porträts von Emigranten aus aller Welt die anderen. So wie Shaun Tan seine Szenen wählt, seine Kulissen setzt, die Requisiten der Erinnerung bis ins kleinste Detail ziseliert und die Geschichten aus der Sicht kleiner Leute erzählt:

    " Mein Bruder und ich fuhren mit dem Bus 441 bis zur Endhaltestelle und gingen von da zu Fuß weiter. Wir hatten unsere Rucksäcke mit allem Nötigen für so eine Reise gefüllt. ... Es war aufregend, auf eine richtige Expedition zu gehen, als wagte man sich in eine Wüste oder eine Dschungelwildnis, nur dass alles besser ausgeschildert war. Wie toll es vor langer Zeit gewesen sein muss, bevor es Geschäfte und Schnellstraßen und Imbissbuden gab, als die Welt noch unbekannt war."

    So wie Shaun Tan Geschichten aus der Sicht kleiner Leute erzählt - Kinder in der "Vorstadt des Universums", arme Auswanderer in "Ein neues Land" -, so wie er seine Geschichten erzählt, ist Shaun Tan ein großer Moralist. Ein Moralist ohne den geringsten Anflug von Missionarischem. Er fokussiert nur immer wieder die Spuren eines Lebens und setzt sie in Kontrast mit dem großen Ganzen, in das dieses kleine Leben gefallen ist - Himmel, Meer, Landschaft in ihrer Unendlichkeit und Undurchdringlichkeit - wie etwa das Labyrinth des Molochs Großstadt. Einsamkeit, Verlorenheit, Hilfslosigkeit des Individuums in der Masse stehen für Shaun Tan auf der einen Seite, die Sehnsucht nach Geborgenheit, Wärme, Liebe auf der anderen. Und zwischen diesen Welten zeigt er die Augenblicke der Freude über Gesten der Aufmerksamkeit und der Zuwendung anderer Menschen in der Fremde.

    Ja, Shaun Tan ist in die deutsche Literaturlandschaft gefallen wie eines seiner seltsamen Geschöpfe aus der Vorstadt des Universums. Wie Eric, der ahornblattähnliche Austauschschüler, zum Beispiel. Der hat seine Studien längst beendet und das Land wieder verlassen. Aber was er in seinem Gästezimmer - der Speisekammer - als Abschiedsgeschenk an Fantastischem hinterlassen hat, das kann man schlecht mit Worten beschreiben. Man muss es gesehen haben - und außerdem wollen wir die Überraschung hier nicht verraten.

    "... schaut es euch selbst an; es ist immer noch da, nach all den Jahren, und gedeiht dort im Dunkel. Es ist das Erste, das wir neuen Besuchern bei uns zu Hause zeigen. "Seht nur, was unser Austauschschüler uns dagelassen hat", sagen wir ihnen.
    "Das ist bestimmt was Kulturelles", sagt Mama."

    Literatur:

    Shaun Tan:
    Geschichten aus der Vorstadt des Universums
    Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Carlsen Verlag, Hamburg 2008, 96 Seiten, 19,90 Euro

    Shaun Tan:
    Ein neues Land
    Graphic Novel
    Carlsen Verlag, Hamburg 2008; 128 Seiten, 29,90 Euro