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Aus der Sicht der somalischen Piraten

Ralph Kleins Buch zum Thema Piraten vor Somalia ergreift Partei für die, die nicht anderes können. Es schildert ausführlich die sozialen Verhältnisse in Somalia und die Clanstrukturen. Ausgepart bleiben jedoch Informationen über Hintermänner und Verbindungen zum islamistischen Terror.

Von Henry Bernhard | 22.10.2012
    Der Essay nimmt primär die Perspektive der piratischen Subjekte ein. An den somalischen Piraten interessiert mich vor allem die Gesellschaftlichkeit, aus der sie stammen und die sie trägt. Ich will zunächst einmal wissen, was die westlichen Medien verbergen, was da also wirklich los ist, und ich will die Piraten und ihre Motive verstehen. Was sind das für Leute? Warum tun die das? Was machen sie mit den Millionen Dollar, die sie an Lösegeldern pro Jahr einnehmen? Welche Auswirkungen hat die Piraterie auf die Sozialstrukturen, aus denen die Piraten hervorgehen? Könnte man die Piraterie nicht auch als Reaktion auf unvorstellbar miese Lebensbedingungen begreifen, als eine Art sozialen Banditentums, ohne sie dabei gleich zu romantisieren?

    Ralph Klein hat sich viel vorgenommen, stellt unbequeme Fragen und wagt sich weit heraus auf die offene See der Meinungen, wenn er das gewohnte Gut-Böse-Schema auf den Kopf stellt und sich weigert, die Piraterie einfach zu verdammen. Statt dessen sucht er nach deren Wurzeln, die er vielfach bei uns, in der westlichen Welt findet: Die Überfischung des Meeres vor Ostafrika durch riesige Schleppnetze, die den kleinen Fischern die Existenzgrundlage nehmen. Die Verklappung von Giftmüll, der Fische sterben lässt, durch eine internationale Müll-Mafia. Das westliche Missverständnis, das es sich bei Somalia um einen gescheiterten Nationalstaat handelt, den man nur wieder aufrichten müsse, um Ordnung herzustellen.

    Dieses staatliche Gebilde am Horn von Afrika, das von 1960 bis 1991 in dieser Form als "Somalia" firmierte, war ein Produkt der italienisch-britischen Kolonisation, seine "nationale Identität" ein Konstrukt westlicher Anthropologen und bloßer postkolonialer Mythos. … Der postkoloniale Pseudostaat war in Somalia nie flächendeckend präsent, schon gar nicht in den nomadischen Regionen. "Somalia" ist deswegen noch nicht einmal ein Failed State, denn was nicht existierte, kann nicht scheitern – bietet sich aber umso besser als Projektionsfläche für Herrschaftsträume und orientalische Phantasien westlicher Gesellschaften an.

    Der Autor ist offen parteiisch, wenn es um das Schicksal der Somalis geht, bei denen seit 20 Jahren Bürgerkrieg herrscht, von denen die Hälfte hungert und deren Lebenserwartung nur bei knapp über 50 Jahren liegt. Solange dies so sei und es keine wirklichen Alternativen im Broterwerb gebe, hat er für die Piraterie volles Verständnis, denn schließlich würden auf den Schiffen vor Somalia die Waren der westlichen Welt transportiert, nach denen sich das Prekariat dieser Welt sehnt. Und nicht nur damit folgten sie unserer, der westlichen Logik:

    Piraten verfügen über Eigenschaften, die perfekt in die neoliberale Wirtschaftswelt passen würden: Sie sind unternehmungslustig, wagemutig, risiko- und experimentierfreudig, lernbereit, flexibel, dynamisch und mit großer sozialer Kompetenz ausgestattet; sie jammern nicht, sondern handeln, sind zupackend und entschlussfreudig und machen eine Menge Geld.

    Zwar handeln Piraten auf hoher See, die meiste Zeit hält sich der Autor jedoch an Land auf: Er untersucht die Organisation der Piraten, beschreibt die strikte Arbeitsteilung. Da gibt es die, die das Schiff unter hohem Risiko entern und die Besatzung gefangen nehmen; sie werden später durch die Bewacher der Geiseln ausgetauscht. Alle zusammen wiederum müssen von "Caterern" versorgt werden; Geschickte und mehrsprachig Gebildete führen die Lösegeld-Verhandlungen mit den Reedern.

    Einen großen Teil der Beute müssen sie reinvestieren – in Boote, Waffen, Treibstoffe, Nahrung. Das Verbliebene wird aufgeteilt, gestaffelt nach dem Risiko, das der einzelne Beteiligte eingegangen ist. Voller Bewunderung schreibt der Autor von der egalitären Organisation und den angeblich hohen moralischen Standards der Piraten. Begeistert berichtet er davon, wie das erbeutete Lösegeld verwendet wird: Für Nahrung, als Investition in ein legales Geschäft, in die Ausbildung der Kinder, in die lokale Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen, aber auch, so gibt er zähneknirschend zu, in Drogen, Prostitution und Alkohol.

    Hier sind Zweifel an der Übersicht des Autors angebracht, ebenso, wenn Klein die Berichte von Folter und Geiselerschießungen zurückweist. Zwar hat er viele Quellen ausgewertet, am Ort des Geschehens war er jedoch nie. Für die Ängste der Gekaperten, Entführten, über Monate Festgehaltenen hat er wenig übrig, noch viel weniger für die Reeder, die ihr höheres Risiko nur höher und damit teurer versichern müssten.

    Im Jahr 2010 ließ das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine Kosten-Nutzen-Analyse der Piraterie und ihrer Bekämpfung vor Somalia anfertigen. Ihr Ergebnis: Solange das Maß an Gewalt und die Höhe der Lösegelder auf heutigem Niveau bleiben, wird sich nichts ändern, weil alle profitieren: Die Piraten sowieso, die Medien bekommen gute Stories, Versicherungen erhöhen ihre Prämien auch für ungefährdete Regionen, private Securities erhalten Aufträge, Navies können ihre Nützlichkeit demonstrieren und erhalten mehr Geld, Anwaltskanzleien kassieren horrende Vermittlungsprovisionen, wenn Lösegeld gezahlt werde, Forschungsinstitute gedeihen von antipiratischen Geldern usw.

    Recht ausführlich schildert der Autor die sozialen Verhältnisse in Somalia, die Clanstrukturen, die alltägliche Gewalt, das Elend. Gerade vor diesem Hintergrund kann er in der Piraterie einen logischen Ausweg erkennen, der – bei trotz aller Gefahren immer noch überschaubarem Risiko – Überleben, Anerkennung und Zukunftsperspektiven für die Piraten und ihre Angehörigen verspricht. Einer gewissen Romantisierung kann er sich dabei auch nicht erwehren.

    Wenn man jedoch im Internet Videos verfolgt, in denen zerbrechliche Piraten-Boote lustvoll von europäischen Kriegsschiffen beschossen werden, dann kann man eine gewisse Sympathie mit den Underdogs, die ihren Teil vom Reichtum der Welt abhaben wollen, gut verstehen. In diesem Sinne ist auch dieses einseitige Buch zu empfehlen, das Partei für die ergreift, die nicht anders können.

    Wer jedoch Informationen über Hintermänner, Finanziers, Verbindungen zum islamistischen Terror erwartet, wird in diesem Buch nicht fündig. Ärgerlich ist das verwirrende Nebeneinander von Fuß- und Endnoten, das das Nachschlagen unnötig behindert. Es bleibt jedoch ein gut lesbares, meinungsfreudiges und provokantes Buch zu einem Thema, bei dem das Urteil über Gut und Böse, über Richtig und Falsch scheinbar so einfach ist. Dieser gängige Ausweg wird dem Leser genommen.


    Ralph Klein: Moderne Piraterie: Die Piraten vor Somalia und ihre frühen afrikanischen Brüder
    Verlag: Assoziation A, 132 Seiten, 12 Euro
    ISBN: 978-3-862-41416—1