Wer chronisch krank ist, wer fürchten muss, zum Pflegefall zu werden, wer Angst hat, bald am Ende seines Lebens angekommen zu sein, sollte dieses Buch nicht lesen. Die Schilderung der Realität in Alten- und Pflegeheimen, in Krankenhäusern oder bei der pflegerischen Versorgung zu Hause ist zu deprimierend. Man kann diesen Satz aber auch umdrehen: Wer in einer solchen Lebenssituation ist - und irgendwann sind wir das fast alle - sollte dieses Buch unbedingt lesen. Denn es kann helfen, rechtzeitig Vorsorge zu treffen - und nicht nur, wenn es um Patientenverfügungen geht. Der Text des Medizinjuristen Oliver Tolmein zwingt zur Auseinandersetzung mit Fragen, denen wir im Alltag gerne aus dem Weg gehen: Wann ist das Leben für mich nicht mehr lebenswert? Könnte ich mich mit einem Pflegeheim abfinden? Lässt sich auch ein reduziertes Leben in der gewohnten Umgebung führen? Gibt es Angehörige oder Vertrauenspersonen, die dafür sorgen werden, dass mein Wille respektiert wird?
Der Autor, Experte für Sozial- und Behindertenrecht, schreibt mit Anteilnahme, Sachkunde und Engagement über all diese Themen, die wir verdrängen, solange wir gesund sind. Es geht um Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung - so auch der Untertitel seines Buches. Komplizierte und manchmal mehrdeutige Urteile der obersten Gerichte übersetzt er in eine für Laien verständliche Sprache. Er informiert sachlich über Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, auch über die bedenklichen Auswüchse der Euthanasie in den Niederlanden.
Was Tolmein anprangert, nämlich die fatalen Folgen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen, wird von Praktikern bestätigt, die ebenfalls voller Sorge in die Zukunft blicken. Dr. Hilmar Hüneburg ist Ärztlicher Direktor zweier großer Krankenhäuser in Bonn, Intensivmediziner und Schmerztherapeut. Dank des medizinischen Fortschritts müssen Ängste und Schmerzen auch in der letzten Lebensphase nicht sein, doch die Sparmaßnahmen setzen Grenzen, wo Hilfe möglich wäre. Der Arzt teilt die Ansicht des Autoren, dass der Ruf nach Sterbehilfe oft ein verkappter Hilferuf ist, geboren vor allem aus der Angst vor einem würdelosen Tod unter Schmerzen:
"Die Entwicklung der Palliativmedizin wird ja im Grunde nur durch Reglementierung, staatliche Reglementierung und Ressourcenverknappung, also das heißt finanzielle Verknappung, nicht vorwärts getrieben. Jetzt ist es ja sogar so, dass die Palliativmediziner, die ausgewiesenen Palliativmediziner im Bereich der ambulanten Versorgung diese Leistungen nicht mehr abrechnen dürfen. Das ist jetzt in Nordrhein-Westfalen eingeführt worden, so dass man sich fragt, wer wird diese Leistungen vollbringen, wenn nicht die qualifizierten Palliativmediziner? Es gibt so viele Möglichkeiten, die eigentlich geeignet sein sollten, den Menschen die Angst zu nehmen, in Leid und schrecklicher Einsamkeit und unter Schmerzen, unter furchtbarer Übelkeit oder Luftnot sterben zu müssen.”"
Das heißt ganz konkret, medizinisch mögliche Hilfe kann am Geld scheitern.
""Es gibt im Moment eine sehr starke wirtschaftliche Diskussion, weil es auch so ist, dass die Schmerzmittel zum Teil nicht billig sind. Und es ist eigentlich unglaublich, aber es hat im letzten Jahr hier im Bereich Nordrhein-Westfalen eine so genannte Zielvereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen gegeben, dass bei den Schmerzmitteln 15 Millionen Euro eingespart werden müsse, und das bei Schmerzmitteln. Also ich halte das für unglaublich, und das geht schon hart an die Grenze dessen, was man überhaupt Menschen zumuten kann.”"
Der schnelle Tod mit der Giftspritze oder das Abschalten von lebenserhaltenden Geräten wird in der Regel nur von Menschen als Alternative gesehen, die große Qualen oder das Ende der Selbstbestimmung fürchten. Oliver Tolmein betont immer wieder diesen Zusammenhang zwischen Kostendämpfung, Pflegenotstand, Ängsten vor einer technokratisch-kalten Versorgung einerseits und den Plädoyers für Sterbehilfe andererseits.
""Die Sterbehilfediskussion, die wird noch lebendiger werden. Das ist einfach politisch absehbar, nicht nur in Deutschland, das ist ja weltweit der Fall, und wir haben ja auch die Diskussionen über die Ernährung bei hilflosen Schwerstkranken, die haben wir ja in England vor vielen Jahren schon gehabt. Auch der oberste Gerichtshof in den USA hat das schon vor vielen Jahren entschieden, allerdings anders als wir hier. Wir betrachten die Ernährung, also das bedeutet Stillung von Hunger und Durst, als Grundbedürfnis des Menschen. Das wird in den USA nicht mehr so gesehen. Das heißt, Hunger und Durst gelten nicht mehr als Grundbedürfnisse, die auf jeden Fall in der Behandlung gestillt werden müssen. Daran sieht man aber, was weltweit los ist, und deshalb wird bei uns auch die Diskussion noch sehr viel heftiger und deutlicher werden.”"
Oliver Tolmein nimmt seine Leser mit in Alten- und Pflegeheime, zu Einsätzen von Rettungsdiensten und Notfallmedizinern, auf Intensivstationen, in Hospize und in Wohnungen, in denen Menschen auf ihren Tod warten. Was er drastisch und dennoch immer mitfühlend beschreibt, ist bedrückend. Um so wichtiger sind die Ratschläge des Juristen, etwa zum Inhalt von Patientenverfügungen. Er rät darüber hinaus, einem Menschen des Vertrauens eine Vollmacht auszustellen, bei einem erfahrenen Spezialisten Rat zu suchen und den Hinweis auf eine Patientenverfügung immer mit sich zu führen, ebenso Namen und Adresse des Bevollmächtigten.
Am Schluss der nicht leichten Lektüre wünscht man sich eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir miteinander umgehen wollen, wenn das Leben zu Ende geht. Und es drängen sich Fragen auf: Was ist es uns in Cent und Euro wert, schwerstkranken oder hilflosen altersgebrechlichen Menschen ein würdevolles Leben vor dem Tod und bis in den Tod zu ermöglichen? Welche Konsequenzen hat es für die gesamte Gesellschaft, wenn wir aus Kostengründen auf mitfühlende Begleitung durch eine tödliche Krankheit verzichten? Der Intensiv- und Schmerzmediziner Hilmar Hüneburg aus seinem Alltag im Krankenhaus:
""Sobald das Wohlbefinden des sterbenden Menschen im Vordergrund steht, also wenn es nur noch darum geht, wie kann ich es erreichen, dass dieser Mensch sich möglichst gut fühlt, dass es ihm möglichst gut geht, dann ist das Thema der Sterbehilfe absolut im Hintergrund. Und Palliativmedizin ist eben ein Mittel gegen die aktive Sterbehilfe."
Oliver Tolmein: Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung.
C. Bertelsmann Verlag, München, 2006
256 Seiten
14,95 Euro
Der Autor, Experte für Sozial- und Behindertenrecht, schreibt mit Anteilnahme, Sachkunde und Engagement über all diese Themen, die wir verdrängen, solange wir gesund sind. Es geht um Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung - so auch der Untertitel seines Buches. Komplizierte und manchmal mehrdeutige Urteile der obersten Gerichte übersetzt er in eine für Laien verständliche Sprache. Er informiert sachlich über Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, auch über die bedenklichen Auswüchse der Euthanasie in den Niederlanden.
Was Tolmein anprangert, nämlich die fatalen Folgen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen, wird von Praktikern bestätigt, die ebenfalls voller Sorge in die Zukunft blicken. Dr. Hilmar Hüneburg ist Ärztlicher Direktor zweier großer Krankenhäuser in Bonn, Intensivmediziner und Schmerztherapeut. Dank des medizinischen Fortschritts müssen Ängste und Schmerzen auch in der letzten Lebensphase nicht sein, doch die Sparmaßnahmen setzen Grenzen, wo Hilfe möglich wäre. Der Arzt teilt die Ansicht des Autoren, dass der Ruf nach Sterbehilfe oft ein verkappter Hilferuf ist, geboren vor allem aus der Angst vor einem würdelosen Tod unter Schmerzen:
"Die Entwicklung der Palliativmedizin wird ja im Grunde nur durch Reglementierung, staatliche Reglementierung und Ressourcenverknappung, also das heißt finanzielle Verknappung, nicht vorwärts getrieben. Jetzt ist es ja sogar so, dass die Palliativmediziner, die ausgewiesenen Palliativmediziner im Bereich der ambulanten Versorgung diese Leistungen nicht mehr abrechnen dürfen. Das ist jetzt in Nordrhein-Westfalen eingeführt worden, so dass man sich fragt, wer wird diese Leistungen vollbringen, wenn nicht die qualifizierten Palliativmediziner? Es gibt so viele Möglichkeiten, die eigentlich geeignet sein sollten, den Menschen die Angst zu nehmen, in Leid und schrecklicher Einsamkeit und unter Schmerzen, unter furchtbarer Übelkeit oder Luftnot sterben zu müssen.”"
Das heißt ganz konkret, medizinisch mögliche Hilfe kann am Geld scheitern.
""Es gibt im Moment eine sehr starke wirtschaftliche Diskussion, weil es auch so ist, dass die Schmerzmittel zum Teil nicht billig sind. Und es ist eigentlich unglaublich, aber es hat im letzten Jahr hier im Bereich Nordrhein-Westfalen eine so genannte Zielvereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen gegeben, dass bei den Schmerzmitteln 15 Millionen Euro eingespart werden müsse, und das bei Schmerzmitteln. Also ich halte das für unglaublich, und das geht schon hart an die Grenze dessen, was man überhaupt Menschen zumuten kann.”"
Der schnelle Tod mit der Giftspritze oder das Abschalten von lebenserhaltenden Geräten wird in der Regel nur von Menschen als Alternative gesehen, die große Qualen oder das Ende der Selbstbestimmung fürchten. Oliver Tolmein betont immer wieder diesen Zusammenhang zwischen Kostendämpfung, Pflegenotstand, Ängsten vor einer technokratisch-kalten Versorgung einerseits und den Plädoyers für Sterbehilfe andererseits.
""Die Sterbehilfediskussion, die wird noch lebendiger werden. Das ist einfach politisch absehbar, nicht nur in Deutschland, das ist ja weltweit der Fall, und wir haben ja auch die Diskussionen über die Ernährung bei hilflosen Schwerstkranken, die haben wir ja in England vor vielen Jahren schon gehabt. Auch der oberste Gerichtshof in den USA hat das schon vor vielen Jahren entschieden, allerdings anders als wir hier. Wir betrachten die Ernährung, also das bedeutet Stillung von Hunger und Durst, als Grundbedürfnis des Menschen. Das wird in den USA nicht mehr so gesehen. Das heißt, Hunger und Durst gelten nicht mehr als Grundbedürfnisse, die auf jeden Fall in der Behandlung gestillt werden müssen. Daran sieht man aber, was weltweit los ist, und deshalb wird bei uns auch die Diskussion noch sehr viel heftiger und deutlicher werden.”"
Oliver Tolmein nimmt seine Leser mit in Alten- und Pflegeheime, zu Einsätzen von Rettungsdiensten und Notfallmedizinern, auf Intensivstationen, in Hospize und in Wohnungen, in denen Menschen auf ihren Tod warten. Was er drastisch und dennoch immer mitfühlend beschreibt, ist bedrückend. Um so wichtiger sind die Ratschläge des Juristen, etwa zum Inhalt von Patientenverfügungen. Er rät darüber hinaus, einem Menschen des Vertrauens eine Vollmacht auszustellen, bei einem erfahrenen Spezialisten Rat zu suchen und den Hinweis auf eine Patientenverfügung immer mit sich zu führen, ebenso Namen und Adresse des Bevollmächtigten.
Am Schluss der nicht leichten Lektüre wünscht man sich eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir miteinander umgehen wollen, wenn das Leben zu Ende geht. Und es drängen sich Fragen auf: Was ist es uns in Cent und Euro wert, schwerstkranken oder hilflosen altersgebrechlichen Menschen ein würdevolles Leben vor dem Tod und bis in den Tod zu ermöglichen? Welche Konsequenzen hat es für die gesamte Gesellschaft, wenn wir aus Kostengründen auf mitfühlende Begleitung durch eine tödliche Krankheit verzichten? Der Intensiv- und Schmerzmediziner Hilmar Hüneburg aus seinem Alltag im Krankenhaus:
""Sobald das Wohlbefinden des sterbenden Menschen im Vordergrund steht, also wenn es nur noch darum geht, wie kann ich es erreichen, dass dieser Mensch sich möglichst gut fühlt, dass es ihm möglichst gut geht, dann ist das Thema der Sterbehilfe absolut im Hintergrund. Und Palliativmedizin ist eben ein Mittel gegen die aktive Sterbehilfe."
Oliver Tolmein: Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung.
C. Bertelsmann Verlag, München, 2006
256 Seiten
14,95 Euro