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Ausgezeichneter Nachwuchs

Jonas Grethlein ist Privatdozent an der Universität Freiburg, mit gerade mal 27 Jahren. Wie er das geschafft hat? Dank des Zufalls – denn der Zufall war das zentrale Thema seiner Forschungen. Doch Grethlein ist weder Statistiker noch Mathematiker, sondern Althistoriker. Er hat erforscht, wie sich die Menschen in der Antike den Verlauf der Geschichte erklärten - und was ihre Sicht von der Neuzeit unterscheidet.

Von Matthias Hennies |
    Grethlein hat dafür aber nicht die antike Geschichtsschreibung analysiert, wie es bisher üblich war. Er wollte wissen, wie sich das Geschichtsbild in Homers "Ilias" niederschlug: Für die Griechen war die epische Erzählung vom Trojanischen Krieg nämlich ebenso wichtig wie die Geschichtsbücher. Schon in der Antike wurde das "Blättergleichnis" der "Ilias" berühmt: eine Metapher für die Rolle des Zufalls im menschlichen Leben.

    "Gleich wie Blätter im Winde, so sind die Geschlechter der Menschen;
    einige streuet der Wind auf die Erd’ hin, andere wieder
    treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges Wärme:
    So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet."

    Der Zufall stand im Zentrum des griechischen Geschichtsverständnisses: Wie sollte man anders erklären, dass die Welt plötzlich aus den Fugen geraten und auf Wohlstand Krieg und Zerstörung folgen konnten? Oder warum einer lange ein Liebling der Götter war, plötzlich aber ihr Wohlwollen verlor und ins Unglück stürzte?

    Grethlein: "Gerade diese Betonung der menschlichen Fragilität, der eigenen Unsicherheit, das Ausgesetztsein der Willkür der Götter, zeichnet griechisches Geschichtsdenken aus und bietet, glaube ich, auch den wichtigsten Unterschied zu modernem Geschichtsbewusstsein."

    In der Neuzeit erklärt man sich die Brüche der Geschichte mit Entwicklungen, die schon früher begannen. Zur Katastrophe des Nationalsozialismus, so etwa eine gängige Sicht, führte vor allem der deutsche Nationalismus, der sich sehr spät entwickelt hatte und der in der Weltkriegs-Niederlage und im Frieden von Versailles frustriert worden war. Für die Moderne haben die Ereignisse der Gegenwart ihre Wurzeln in der Vergangenheit - so werden uns die unerwarteten Einschnitte und Umwälzungen der Geschichte verständlich.

    Auch die Griechen suchten nach Elementen der Stabilität im willkürlichen Geschehen der Welt. Jonas Grethlein hat zwei Ansatzpunkte identifiziert: Erstens stützten sie sich auf Traditionen, beriefen sich zum Beispiel auf die kontinuierliche Abstammungslinie von einem großen Helden. Die "Ilias" erzählt zum Beispiel von Agamemmnon, dem Sohn des Atreus, und Achill, dem Sohn des Peleus. Zweitens übertrugen die Griechen Ereignisse der Vergangenheit als Exempel auf ihre eigene Zeit. Vergangenes diente ihnen unmittelbar als Handlungsanleitung für die Gegenwart. Einen qualitativen Unterschied zwischen Gestern und Heute wie in der Neuzeit machten sie nicht.

    Grethlein: "So würden wir beispielsweise den Irak-Krieg, um ein aktuelles Beispiel zu wählen, nicht mit dem Peloponnesischen Krieg vergleichen. Während die Griechen den Peloponnesischen Krieg ganz problemlos dem Trojanischen Krieg gegenüberstellen konnten, auch wenn der nach ihrem eigenen Empfinden mehrere hundert Jahre zurücklag."

    Mithilfe von Traditionslinien und historischen Exempeln strukturierten die Griechen die Zufälligkeit der Geschichte: Diese antike Sichtweise arbeitete der Forscher heraus, indem er die "Ilias" mit Methoden der Literaturwissenschaft analysierte. Er untersuchte Zeitstruktur und Erzählperspektive, interpretierte die kunstvolle Verknüpfung von Rückblenden und Vorausdeutungen. In den Alten Sprachen ist diese textkritische Arbeit bisher noch selten, den anderswo lange etablierten Verfahren der Literaturanalyse öffnen sich die Fächer nur zögerlich.

    Doch Grethleins Ergebnis spricht für sich. Er hat nachgewiesen, dass sich auch in der erzählerischen Struktur der "Ilias" die Auseinandersetzung mit dem Zufall spiegelt: In zahlreichen Ausblicken auf künftiges Geschehen zeigt sich, wie die Hoffnungen der Helden durch die Willkür der Götter brutal enttäuscht werden. Und im Rückblick stellen die Akteure immer wieder voll Reue und Bitterkeit fest, dass ihre Zukunftserwartungen verfehlt waren.

    Der Leser dagegen – oder beim mündlichen Vortrag der Hörer – wird häufig im Voraus informiert, was geschehen wird. Anders als die Helden ist er der Macht der Willkür nicht ausgesetzt.

    Grethlein: "Auf der einen Seite wird dem Rezipienten auf der Handlungsebene die gewaltige Kraft des Zufalls verstärkt vorgeführt, zugleich wird er im Rahmen der Narration dem Zufall überhaupt nicht ausgesetzt. Salopp und ganz stark vereinfacht könnte man sagen, dass die "Ilias" ja insofern Lebenshilfe für den den Zwängen der Zeit ausgesetzten Menschen bietet."

    Jonas Grethlein hat sich mit dieser Untersuchung habilitiert, im Alter von 27 Jahren. Nach dem Grund seines Erfolges befragt, erklärt seine Karriere – wie auch sonst? – mit Zufall und Glück.

    Grethlein: "Ja, es waren, glaube ich, viele Zufälle und es war natürlich auch ein Interesse, mich packen die Texte auch nach wie vor noch. Aber ich lese beispielsweise in meiner Freizeit keine griechische Literatur."

    Dennoch fasziniert ihn die Welt der Antike - seit seine Eltern ihn als Kind zu den klassischen Stätten auf der Peloponnes mitnahmen, wie er erzählt. Und als Wissenschaftler hatte er den Mut, über seine Fachgrenzen hinauszublicken, und den interdisziplinären Ansatz konsequent umzusetzen.

    Das ist unter Altertumswissenschaftlern bisher wenig üblich - vor allem in Deutschland nicht. Dr. Grethlein wird denn auch nach Kalifornien wechseln. Am Ende des Jahres übernimmt er eine Stelle an der Universität von Santa Barbara – und das ist kein Zufall:

    Grethlein: "Hier in Deutschland steigt das Lehrdeputat, die Verwaltungsanforderungen werden immer höher – oder vielleicht muss man nur die Berufungsverfahren mit einander vergleichen: Als ich in Santa Barbara interviewt wurde, wurde ich zwei Tage lang aufgenommen, wurde morgens, mittags und abends zum Essen ausgeführt und sehr freundlich behandelt, während ich bei Bewerbungsvorträgen in Deutschland und Österreich eine halbe Stunde lang interviewt wurde und mir Frage nach meinem Alter oder nach einem Defizit an Verwaltungserfahrung gefallen lassen musste."