Balthasar Ushca: Er scheint kein Mann aus dieser Zeit. Er ist so etwas wie ein Relikt. Eine fleckige Baumwolljacke: Mehr Schutz hat er nicht bei der Arbeit am Gletscher. Eine dünne, grüne Anzughose flattert um die Beine des alten Indiomannes. Sein bronzefarbenes Gesicht: Von Falten durchzogen. Die schwarzen Augen blicken konzentriert, wenn Balthasar mit seiner Haue auf das Eis eindrischt. Die Szenerie: Archaisch, wie aus der Vergangenheit! So geht das seit dem frühen Morgen.
Ein paar Stunden zuvor: Der lehmige Boden auf dem Hof von Balthasar ist noch gefroren. Er lädt ein paar Decken auf seine drei Esel, dann treibt er die Tiere hinaus in die Morgenkälte.
Es geht einen schmalen Pfad hinauf, zwischen Feldern, Weiden, Äckern hindurch: Scharf abgegrenzte Rechtecke in hellgrün, ocker oder dunkelbraun überziehen die fruchtbare Landschaft am Fuße des Chimborazo. Ein Farbenspiel in Würfelform! Oben drüber glitzerndes Weiß: die Gletscherkappe des 6000er-Berges.
Schnell ist Balthasar verschwunden, trotz seiner über 60 Jahre. Edison, der junge Wanderführer, und Maria, eine Indigenafrau aus dem Nachbardorf von Cuatro Esquinas, versuchen, den Alten und seine Esel mit dem Geländewagen einzuholen. Der Weg zur Eismine ist weit. Schlamm spritzt. Die Räder drehen durch im rauhreifüberzogenen Gras. Schließlich geht es nur noch zu Fuß weiter.
Die Luft ist dünn - auf über 4000 Meter Höhe. Kaum reicht der Atem. Edison schnauft unter seiner knallroten Baseballkappe, während er vom historischen Handwerk der Eisschläger erzählt.
"Das ist eine alte Tradition hier, in diesem Dorf in der Chimborazo-Provinz. In der Vergangenheit war es völlig üblich, zum Gletscher hinaufzusteigen und Eisblöcke von dort herunterzuholen. Und dann hat man sie nach Riobamba gebracht, auf den Markt. Um sie dort zu verkaufen. Und um damit die Fruchtsäfte zu kühlen."
Nun ist Balthasar Ushca der einzige, der noch zur Schneegrenze hinaufsteigt. Immer freitags.
"Er macht diese Arbeit schon seit seiner Jugend. Seitdem er ein junger Bursche ist. Mindestens 40 Jahre, denn heute ist er über 60! Er ist zwar nur ein kleiner Mann, aber sehr, sehr stark! Er verrichtet seinen Job vor allem noch aus Tradition. Die anderen Eisstecher haben schon lang keine Lust mehr. Kein Wunder: Es gibt ja kaum Geld dafür!"
Früher, so berichtet Edison weiter, sei das ganze Dorf mit hinaufgekommen. Manchmal waren es 20 Männer. Jeder mit drei oder vier Eseln. 80 Esel, hintereinander, in einer Reihe: ein Bild aus der Vergangenheit. Mindestens 25 Jahre ist das her.
In Kwichua, der alten Inka-Sprache, redet Balthasar jetzt mit Maria. Spanisch kann er nur ein paar Brocken. Am Wegrand schneidet der schwarzhaarige Mann Paramogras: Harte, gelb-grüne Fasern. Sie geben später eine gute Isolierung ab, um das Eis darin zu verpacken. Nach drei Stunden: Die drei erreichen einen windigen, steilen Rücken. Ein trostloses Fleckchen Erde! Nur loser Schutt. Schlamm gluckst unter den Sohlen der Gummistiefel.
Die Eismine: Nur ein paar Quadratmeter freigehackter Gletscher zwischen chaotisch aufgetürmten Geröllblöcken. Mit Spitzhacke und Schaufel klopft Balthasar einen birnenförmigen Klotz aus dem Eis. Schweißperlen auf der Stirn, er atmet schwer. Die Arbeit: eine Schinderei auf fast 5000 Meter Höhe.
Dann die lange Brechstange. Ein Krachen! Gletschereis splittert. Ein mannsgroßer Brocken kippt. Er ist zu schwer zum Anheben- Mit kurzen, kräftigen Beilhieben zerteilt der Indiomann den Koloss.
Der Vormittag vergeht. Am Ende liegen sechs der grob behauenen Blöcke am Boden.
"Die Hieleros verpacken das Eis mit Gras. Es ist spannend zu sehen, wie sie erst Seile aus dem Gras machen und dann das Eis hineinpacken."
Mit bloßen Händen dreht Balthasar ein paar Stricke zum Verschnüren aus den steifen Halmen. Mit dem Rest des Grases wickelt er das schmutzig-graue Eis ein, um es vor dem Schmelzen zu schützen. Paramo: Kilometerweit erstrecken sich die ockerfarbenen Wiesen an den Berghängen, erklärt Edison und zeigt ins Tal.
"Auf Spanisch heißt das Paja. Und in Ecuador, allein in den Anden, gibt es zehn verschiedene Arten von Paramo. Das hängt vor allem von der Höhe ab. Meistens besteht es nur aus Gras. Manchmal findet man auch Blumen. Es handelt sich um Mikroflora."
Balthasar wuchtet die Eisbrocken jetzt auf die Eselrücken, immer zwei pro Tier, verschnürt sie mit wollenen Gurten. Die Arbeit des Hieleros ist schlecht bezahlt. Doch die Armut in Cuatro Esquinas ist so groß, dass sich der Knochenjob noch eben rentiert.
"Der Preis für einen Block Eis ist gerade mal zwei Dollar fünfzig. Aber davon muss er auch noch die Pferde leihen, vor allem wenn er eine größere Ladung vom Berg holt. Ansonsten ist Balthasar ein kleiner Bauer. Er hat ein paar Tiere. Und er verkauft Kartoffeln, Zwiebeln oder Bohnen."
Seine Kollegen haben das Eisgeschäft schon lange aufgegeben. Sie arbeiten lieber als Träger oder als Fliesenleger in der Stadt. Dorthin geht auch Balthasar, erklärt er, während er sich verabschiedet.
"Morgen findet ihr mich auf dem Markt. Wenn Ihr wollt, dann kommt einfach. Um acht Uhr auf dem Markt La Merced."
Eselscheuchen und Abstieg ins Tal. Neben anderen Gipfeln grüßen die Vulkane Sangay und Tungurahua herüber. Im Halbstundentakt stoßen sie kleine, schwarze Rauchwolken aus, blasen den Druck aus ihrem Inneren ab. Wie ein Teekessel vor dem Kochen. Ein Zeichen, dass die Erde in Ecuador immer noch aktiv ist.
Am nächsten Tag in Riobamba: Am frühen Morgen hat Balthasar seine Ware schon abgeladen. Gerade steigt der Eisverkäufer wieder auf die Ladefläche eines Pickups. Seine Geschäfte in der Gasse mit den Saftläden: Erledigt!
Mit bloßen Händen wischt Rosa Mariachi unterdessen Matsch und Grashalme von einem der Eisblöcke. Den hat die Marktfrau vor ihrem Verkaufstresen auf einem Gestell drapiert - um Kunden anzulocken. Die Fünfzigjährige mit den braunen Haaren und dem beigefarbenen Strickponcho schwört auf das Chimborazo-Eis:
"Hören Sie, das ist einfach natürlich. Es enthält kein Chlor wie das Kunsteis. Und es hält länge, ohne zu schmelzen. Bis Mittwoch, Donnerstag, Freitag, also sechs Tage. Das künstliche, pah, nicht mal eine Stunde"
Eine dekorative Batterie von blank geputzten, silbernen Mixern ist hinter Rosa aufgebaut. Brombeeren, Orangen, Süßtomaten oder einen Bergkräutermix jagt die beleibte Frau im Minutentakt durch die Geräte. Schnell stehen zwei Gläser auf dem Tisch: Eins mit knallrotem Inhalt, eins quietschgrün. Auf einem Tellerchen daneben: zerstoßenes Gletschereis.
"Es ist gut für den Magen. Und es heilt von schlechtem Blut, ganz schnell. Auch bei Fieber hilft es und gegen Kopfweh"
Auch gegen Hämorrhoiden sei das Gletschereis gut: Einfach unter den Hintern schieben, empfiehlt die verkaufstüchtige Ecuadorianerin mit einem Lächeln. Sie ist eine der wenigen Marktfrauen von Riobamba, die bis heute ihre Fruchtlimonaden und Sorbets nur mit dem legendären Chimborazo-Eis zubereiten. Ob die glitzernden kalten Brocken im Glas wirklich so gesund sind, wie sie sagt? Wer weiß.
Allemal ahnt auch Rosa Mariachi, dass die Ära der Hieleros fast zu Ende ist. Ein Handwerk stirbt. Denn schon bald wird Balthasar Ushca zu alt sein, um zum Chimborazo-Gletscher hinaufzusteigen. Er ist der Letzte seiner Art - und irgendwie schon aus einer anderen Zeit.
Ein paar Stunden zuvor: Der lehmige Boden auf dem Hof von Balthasar ist noch gefroren. Er lädt ein paar Decken auf seine drei Esel, dann treibt er die Tiere hinaus in die Morgenkälte.
Es geht einen schmalen Pfad hinauf, zwischen Feldern, Weiden, Äckern hindurch: Scharf abgegrenzte Rechtecke in hellgrün, ocker oder dunkelbraun überziehen die fruchtbare Landschaft am Fuße des Chimborazo. Ein Farbenspiel in Würfelform! Oben drüber glitzerndes Weiß: die Gletscherkappe des 6000er-Berges.
Schnell ist Balthasar verschwunden, trotz seiner über 60 Jahre. Edison, der junge Wanderführer, und Maria, eine Indigenafrau aus dem Nachbardorf von Cuatro Esquinas, versuchen, den Alten und seine Esel mit dem Geländewagen einzuholen. Der Weg zur Eismine ist weit. Schlamm spritzt. Die Räder drehen durch im rauhreifüberzogenen Gras. Schließlich geht es nur noch zu Fuß weiter.
Die Luft ist dünn - auf über 4000 Meter Höhe. Kaum reicht der Atem. Edison schnauft unter seiner knallroten Baseballkappe, während er vom historischen Handwerk der Eisschläger erzählt.
"Das ist eine alte Tradition hier, in diesem Dorf in der Chimborazo-Provinz. In der Vergangenheit war es völlig üblich, zum Gletscher hinaufzusteigen und Eisblöcke von dort herunterzuholen. Und dann hat man sie nach Riobamba gebracht, auf den Markt. Um sie dort zu verkaufen. Und um damit die Fruchtsäfte zu kühlen."
Nun ist Balthasar Ushca der einzige, der noch zur Schneegrenze hinaufsteigt. Immer freitags.
"Er macht diese Arbeit schon seit seiner Jugend. Seitdem er ein junger Bursche ist. Mindestens 40 Jahre, denn heute ist er über 60! Er ist zwar nur ein kleiner Mann, aber sehr, sehr stark! Er verrichtet seinen Job vor allem noch aus Tradition. Die anderen Eisstecher haben schon lang keine Lust mehr. Kein Wunder: Es gibt ja kaum Geld dafür!"
Früher, so berichtet Edison weiter, sei das ganze Dorf mit hinaufgekommen. Manchmal waren es 20 Männer. Jeder mit drei oder vier Eseln. 80 Esel, hintereinander, in einer Reihe: ein Bild aus der Vergangenheit. Mindestens 25 Jahre ist das her.
In Kwichua, der alten Inka-Sprache, redet Balthasar jetzt mit Maria. Spanisch kann er nur ein paar Brocken. Am Wegrand schneidet der schwarzhaarige Mann Paramogras: Harte, gelb-grüne Fasern. Sie geben später eine gute Isolierung ab, um das Eis darin zu verpacken. Nach drei Stunden: Die drei erreichen einen windigen, steilen Rücken. Ein trostloses Fleckchen Erde! Nur loser Schutt. Schlamm gluckst unter den Sohlen der Gummistiefel.
Die Eismine: Nur ein paar Quadratmeter freigehackter Gletscher zwischen chaotisch aufgetürmten Geröllblöcken. Mit Spitzhacke und Schaufel klopft Balthasar einen birnenförmigen Klotz aus dem Eis. Schweißperlen auf der Stirn, er atmet schwer. Die Arbeit: eine Schinderei auf fast 5000 Meter Höhe.
Dann die lange Brechstange. Ein Krachen! Gletschereis splittert. Ein mannsgroßer Brocken kippt. Er ist zu schwer zum Anheben- Mit kurzen, kräftigen Beilhieben zerteilt der Indiomann den Koloss.
Der Vormittag vergeht. Am Ende liegen sechs der grob behauenen Blöcke am Boden.
"Die Hieleros verpacken das Eis mit Gras. Es ist spannend zu sehen, wie sie erst Seile aus dem Gras machen und dann das Eis hineinpacken."
Mit bloßen Händen dreht Balthasar ein paar Stricke zum Verschnüren aus den steifen Halmen. Mit dem Rest des Grases wickelt er das schmutzig-graue Eis ein, um es vor dem Schmelzen zu schützen. Paramo: Kilometerweit erstrecken sich die ockerfarbenen Wiesen an den Berghängen, erklärt Edison und zeigt ins Tal.
"Auf Spanisch heißt das Paja. Und in Ecuador, allein in den Anden, gibt es zehn verschiedene Arten von Paramo. Das hängt vor allem von der Höhe ab. Meistens besteht es nur aus Gras. Manchmal findet man auch Blumen. Es handelt sich um Mikroflora."
Balthasar wuchtet die Eisbrocken jetzt auf die Eselrücken, immer zwei pro Tier, verschnürt sie mit wollenen Gurten. Die Arbeit des Hieleros ist schlecht bezahlt. Doch die Armut in Cuatro Esquinas ist so groß, dass sich der Knochenjob noch eben rentiert.
"Der Preis für einen Block Eis ist gerade mal zwei Dollar fünfzig. Aber davon muss er auch noch die Pferde leihen, vor allem wenn er eine größere Ladung vom Berg holt. Ansonsten ist Balthasar ein kleiner Bauer. Er hat ein paar Tiere. Und er verkauft Kartoffeln, Zwiebeln oder Bohnen."
Seine Kollegen haben das Eisgeschäft schon lange aufgegeben. Sie arbeiten lieber als Träger oder als Fliesenleger in der Stadt. Dorthin geht auch Balthasar, erklärt er, während er sich verabschiedet.
"Morgen findet ihr mich auf dem Markt. Wenn Ihr wollt, dann kommt einfach. Um acht Uhr auf dem Markt La Merced."
Eselscheuchen und Abstieg ins Tal. Neben anderen Gipfeln grüßen die Vulkane Sangay und Tungurahua herüber. Im Halbstundentakt stoßen sie kleine, schwarze Rauchwolken aus, blasen den Druck aus ihrem Inneren ab. Wie ein Teekessel vor dem Kochen. Ein Zeichen, dass die Erde in Ecuador immer noch aktiv ist.
Am nächsten Tag in Riobamba: Am frühen Morgen hat Balthasar seine Ware schon abgeladen. Gerade steigt der Eisverkäufer wieder auf die Ladefläche eines Pickups. Seine Geschäfte in der Gasse mit den Saftläden: Erledigt!
Mit bloßen Händen wischt Rosa Mariachi unterdessen Matsch und Grashalme von einem der Eisblöcke. Den hat die Marktfrau vor ihrem Verkaufstresen auf einem Gestell drapiert - um Kunden anzulocken. Die Fünfzigjährige mit den braunen Haaren und dem beigefarbenen Strickponcho schwört auf das Chimborazo-Eis:
"Hören Sie, das ist einfach natürlich. Es enthält kein Chlor wie das Kunsteis. Und es hält länge, ohne zu schmelzen. Bis Mittwoch, Donnerstag, Freitag, also sechs Tage. Das künstliche, pah, nicht mal eine Stunde"
Eine dekorative Batterie von blank geputzten, silbernen Mixern ist hinter Rosa aufgebaut. Brombeeren, Orangen, Süßtomaten oder einen Bergkräutermix jagt die beleibte Frau im Minutentakt durch die Geräte. Schnell stehen zwei Gläser auf dem Tisch: Eins mit knallrotem Inhalt, eins quietschgrün. Auf einem Tellerchen daneben: zerstoßenes Gletschereis.
"Es ist gut für den Magen. Und es heilt von schlechtem Blut, ganz schnell. Auch bei Fieber hilft es und gegen Kopfweh"
Auch gegen Hämorrhoiden sei das Gletschereis gut: Einfach unter den Hintern schieben, empfiehlt die verkaufstüchtige Ecuadorianerin mit einem Lächeln. Sie ist eine der wenigen Marktfrauen von Riobamba, die bis heute ihre Fruchtlimonaden und Sorbets nur mit dem legendären Chimborazo-Eis zubereiten. Ob die glitzernden kalten Brocken im Glas wirklich so gesund sind, wie sie sagt? Wer weiß.
Allemal ahnt auch Rosa Mariachi, dass die Ära der Hieleros fast zu Ende ist. Ein Handwerk stirbt. Denn schon bald wird Balthasar Ushca zu alt sein, um zum Chimborazo-Gletscher hinaufzusteigen. Er ist der Letzte seiner Art - und irgendwie schon aus einer anderen Zeit.