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Ausverkauf des amerikanischen Traums

Heute klagen die Söhne über das frühe Ende ihrer Illusionen – Vater-Sohn-Konflikte und die Tragödie des moralischen Scheiterns stehen im Mittelpunkt Luk Percevals Interpretation von Arthur Millers "Tod eines Handelsreisenden". Der Abschied vom Glaubenssoldatentum des Kapitalismus an der Berliner Schaubühne fällt nicht wirklich schwer.

Von Eberhard Spreng |
    "The Inside of his Head", also etwa das Innere seines Kopfes sollte das berühmte Stück von Arthur Miller ursprünglich heißen. Damit deutet sich eine Dramaturgie an, die die Geschichte des alternden Handlungsreisenden als ein Bewusstseinsproblem kenntlich macht, als mentale Angelegenheit, und als Tragödie des Denkens. Und zugleich hat Miller das Scheitern seines Protagonisten, die Selbsttäuschung und die daraus entstehende Zerrüttung seiner Familie in hohe pathetisch-klassische Töne getrieben, was schon bei der Uraufführung zu Kritik geführt hat.

    Ist das Kleinbürgertum, das Drama des im Kapitalismus Scheiternden, des Beispiels aus der Massenstatistik Stoff für die große Tragöde? Seit 1949 sind die Krisen des Kapitalismus regelmäßig wiedergekehrt und haben immer neue Willy Lomans hervorgebracht, und Söhne wie Biff und Happy. Nur der dramatische Lastenausgleich zwischen den Generationen scheint verdreht: Nicht ein nach 36 Jahren müde gewordener Handlungsreisender gibt die Blickrichtung vor bei der Produktion der verlogenen Träume vom schönen Leben, sondern heute klagen die Söhne über das frühe Ende ihrer Illusionen gegenüber einer gnädig mit Reichtum bedachten Generation ihrer Eltern.

    Vor allem an der Schaubühne war in diesen Jahren von Geschichte aus diesem Blickwinkel viel zu erfahren. Luk Perceval ahnt, dass man den Vater gar nicht erst - altmodisch stückkonform - im Prozess des Zerfallens zeigen sollte, sondern von vorn herein als Endmoräne des Kleinbürgertums, als unbeweglichen Sofahocker und Fernsehglotzer, so als wäre er quasi der große Bruder der Underdogs von heute, der von Ravenhill und Sarah Kane.

    Das Heim der Lomans ist im Dekor der Katrin Brack nichts weiter als ein Sofa und ein Sessel vor einem Wald von etwas ins Kraut geschossenen Topfpflanzen, ein Urwald, eine bedrohlich gewordene Wohnlichkeit, ein unheimlich raschelndes Kleinbürgerbiotop. Aus ihm heraus treten die Söhne, wie der schlampige Vater auch sie zunächst nur nachlässig bekleidet, später ein erfolgreicher Anwalt, Symbol für einen Status, den die scheiternden Söhne nicht erreichen, eine junge Dame in Strapsen, Bild für die ehemalige gelegentliche Sexualpartnerin des Vaters.

    Lomans Sohn Biff hatte den Vater einst mit ihr in einem Hotelzimmer überrascht, eine Szene, die bei Artur Miller zum Schlüsselerlebnis für die Erkenntnis der Verlogenheiten der Lomanschen Lebensmaxime und das anschließende Scheitern des Sohnes wird, einem Herumtreiber, Betrüger, Taugenichts, einem, der 20 Jahre später, also 1969, wohl nach Woodstock gepilgert wäre. Noch aber hat Amerika eine alternativlose "One-World-Ideologie" ohne Aussteigerkulturen.

    Die Vater-Sohn-Konflikte, die Tragödie des moralischen Scheiterns, die das wirtschaftliche Scheitern Lomans noch übertrifft und in den Selbstmord des Vaters führt, diese wütenden Kämpfe auf dem Sofa, gehören zu den schönsten Momenten dieser letzten Arbeit des flämischen Regisseurs mit seinem Toneelhuis-Ensemble. Wenn Sohn Happy sein Jackett, wütend verzweifelt, immer wieder über die Sofalehne schlägt, es dann entkräftet über den Fernseher wirft, und brüllt: "Hör auf in einer Traumwelt zu leben", ist Perceval im Kopf-Drama vollständig angekommen: An der unüberwindlichsten Grenze zwischen den Menschen, der Hirnschale, die nur noch eine Schnittstelle kennt: Den Fernseher.

    Josse De Pauw spielt den Willy Loman eindringlich als einen in sich gekehrten Penner, der so sehr schon Opfer ist, dass man ihm nicht abnimmt, vom Glaubenssoldatentum des Kapitalismus, von der fröhlichen Affirmation des American Dream schmerzhaft Abschied nehmen zu müssen. Wo in Dimiter Gotscheffs Inszenierung am Deutschen Theater vor zwei Jahren mit Christian Grashoff eine melodramatische, aber noch lebende "Ach Mensch"-Ikone einzog, wird hier ständig auf eine Leiche eingeprügelt. Auch deshalb ist dieser Handlungsreisende nicht ganz da, wo Perceval seine Familiengeschichten gerne hätte: Als zeitgenössische Beispiele der klassischen Tragödie.