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Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus.

Die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte im Nationalsozialismus war über lange Zeit ein stark vernachlässigtes Stiefkind der Forschung. Seit einigen Jahren nun wird hier – mit mehr oder weniger Erfolg – nachgearbeitet. Jetzt hat die Historikerin Susanne Heim ein weiteres wichtiges Kapitel dieser Geschichte vorgelegt. Der Titel: "Autarkie und Ostexpansion – Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus. Es handelt sich um ein Forschungsprojekt der renommierten Max-Planck-Gesellschaft, in dem deren dunkle Vorgeschichte, die Geschichte ihrer Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aufgearbeitet wird.

Ludger Fittkau |
    Die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte im Nationalsozialismus war über lange Zeit ein stark vernachlässigtes Stiefkind der Forschung. Seit einigen Jahren nun wird hier – mit mehr oder weniger Erfolg – nachgearbeitet. Jetzt hat die Historikerin Susanne Heim ein weiteres wichtiges Kapitel dieser Geschichte vorgelegt. Der Titel: "Autarkie und Ostexpansion – Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus. Es handelt sich um ein Forschungsprojekt der renommierten Max-Planck-Gesellschaft, in dem deren dunkle Vorgeschichte, die Geschichte ihrer Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aufgearbeitet wird.

    Von Auschwitz ins Köln der 60er Jahre reicht der lange Schatten der wissenschaftlichen Pflanzenzucht im Dienste der Nationalsozialisten. Denn der Züchtungsforscher Wilhelm Rudorf, während des Dritten Reiches verantwortlich für die Pflanzenzuchtstation in Auschwitz, war bis zu seinem Tod im Jahre 1969 wissenschaftliches Mitglied des Max-Plank-Institutes für Züchtungsforschung im Kölner Vorort Vogelsang.

    Rudorf war 1935 von den Nationalsozialisten gegen das Votum von Fachwissenschaftlern zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Züchtungsforschung in Müncheberg bei Berlin ernannt worden. Er gehörte zu den NS-Wissenschaftlern, die ihre Arbeit in den Dienst der Idee einer landwirtschaftlichen Autarkie des Dritten Reiches sowie der Eroberung des "Lebensraums im Osten" stellten. Rudorf formulierte das programmatisch 1937 in einem Aufsatz mit dem Titel: "Die politischen Aufgaben der deutschen Pflanzenzüchtung":

    Die Aufgaben bestehen in der Züchtung von Rassen der Kulturpflanzenarten, mit denen auf den deutschen Böden und in den deutschen Klimabezirken die Ernährung und die Versorgung mit den wichtigsten Rohstoffen, Faserstoffen, Öl, Zellulose u.a.m. gewährleistet werden. Darüber hinaus aber hat die Pflanzenzüchtung die besondere Aufgabe, die Nutzpflanzen zu schaffen oder zu verbessern, welche eine dichtere Besiedlung des ganzen Nordost- und Ostraumes und anderer Grenzgebiete (....) möglich machen.

    Doch die Züchtungsforschung unter den Nationalsozialisten sollte auch direkt Rohstoffe für die Kriegsführung zuliefern: Heinrich Himmler persönlich beauftragte im Juni 43 im Berliner SS-Hauptamt Wilhelm Rudorf mit der züchterischen Grundlagenforschung an Kok-saghys, einer dem Löwenzahn verwandten Pflanze aus der Sowjetunion, aus der man Pflanzenkautschuk zu gewinnen hoffte.

    Naturkautschuk brauchte die deutsche Rüstungsindustrie für die Produktion von Reifen für Militärfahrzeuge. Diese bestanden zwar größtenteils aus dem sogenannten "Buna", dem synthetischen Kautschuk der IG Farben, doch für die Haltbarkeit der Reifen mussten kleinere Mengen Naturkautschuk beigemischt werden.

    Nach dem Überfall auf die Sowjetunion gelangte Koksaghys-Saatgut in die Hände des SS und wurde unter anderem in Rajsko ausgesät, einem Landwirtschaftsbetrieb des Konzentrationslagers Auschwitz. Für die Arbeit im "Kommando Pflanzenzucht" wurden vor allem weibliche Häftlinge herangezogen, bei der Räumung des Lagers zu Beginn des Jahres 1945 waren es 150 Arbeiterinnen. Rudorf hatte seinen Mitarbeiter Richard Böhme mit der Leitung der Arbeiten in Auschwitz beauftragt - dieser wurde daraufhin zum SS-Sturmbannführer ernannt. Eva Tichauer, die als Häftling im Pfanzenzuchtkommando arbeitete, erinnert sich an Böhme:

    Seine leichten, leisen Schritte zwingen uns, ständig auf der Hut zu sein. Er steht dauernd hinter uns, versucht alles zu kontrollieren und besteht darauf, dass es unsere Pflicht sei, ehrlich zu arbeiten und die volle Produktionskapazität zu erreichen. Er treibt diese perverse Logik auf die Spitze, als er uns erklärt, dass er, wenn er Gefangener der Sowjets wäre, dasselbe täte. Am Vorabend der Räumung des Lagers, als wir ihn an seine Worte erinnern und versprechen, ihn zu retten, wenn er uns bis zur Befreiung durch die Rote Armee in Rajsko lässt, schickt uns dieser Feigling auf den Todesmarsch. Die Intelligenten unter den SS-Leuten sind schlimmer als die Tiere. Bis zum bitteren Ende planen sie unseren Tod, damit es keine Zeugen gegen sie gibt.

    Teils zu Fuß, teils in Viehwaggons schickt Böhme die Frauen seines Kommandos auf den Weg Richtung Ravensbrück. Während er wenige Tage später in SS-Uniform auf der Flucht in Polen erschlagen wird, überlebt sein Chef Wilhelm Rudorf das Ende des Dritten Reiches unbeschadet an seinem Arbeitsplatz.

    Rudorf überstand nicht nur die Entnazifizierung, sondern sorgte auch dafür, dass Kollegen, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, nicht wieder im Institut aufgenommen wurden. So verhinderte er, dass der Wissenschaftler Max Ufer, der mit seiner jüdischen Frau vor den Nationalsozialisten geflohen war und nun wieder um Aufnahme in das Institut bat, seinen Arbeitsplatz zurückerhielt.

    Eine der wenigen offenen Gegnerinnen der NS-Herrschaft, die trotz zeitweiligem Berufsverbot im Umfeld der Züchtungsforschung im Dritten Reich überlebte, war Elisabeth Schiemann. Als Mitglied der "Bekennenden Kirche" versteckte die Wissenschaftlerin Verfolgte bei sich zuhause und führte jüdische Flüchtlinge teilweise persönlich über Bergwege in die Schweiz.

    Elisabeth Schiemann, deren Geschichte in einem Beitrag des Buches aufgearbeitet wird, äußert sich nach dem Krieg in einem Brief an den zukünftigen Präsidenten Otto Hahn entsetzt über Rudorfs Weiterbeschäftigung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), der künftigen Max-Plank-Gesellschaft:

    "Was uns hier betrübt, ist, dass Persönlichkeiten (oder keine Persönlichkeiten) wie Rudorf wissenschaftlich (...) und persönlich wie charakterlich so belastet, weiter in der KWG geblieben sind, bzw. ihr Erbe antreten sollen. Das ist mir unbegreiflich! Und: sehr schmerzlich im Interesse ihres guten Namens, selbst wenn er in seiner alten Form nicht mehr verwendet werden darf!

    Dieser Brief bleibt ohne Wirkung. Wie es Rudorf mit Hilfe alter NS-Seilschaften in der wissenschaftlichen Gesellschaft gelingt, im Amt zu bleiben, wird im Buch eindrucksvoll beschrieben. Ein "Schweigekartell" nennt Autor Michael Schüring in seinem Beitrag die große Gruppe von Wissenschaftlern in der Max-Plank-Gesellschaft, die den Fall Max Ufer genauso unter den Teppich kehrte wie die Forschung in Auschwitz oder auch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern an Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituten.

    Die Beiträge im vorliegenden Buch enthalten eine Fülle von Material, mit dem die aktive Rolle der wissenschaftlichen Pflanzenzucht und Agrarforschung herausgearbeitet wird. Schwächen hat das Buch dort, wo der so genannte "Eugenik Diskurs der Linken" vor dem Nationalsozialismus von jenem "der Rechten" abgegrenzt wird.

    So wird in dem ansonsten sehr informativen Beitrag über Elisabeth Schiemann ihr ehemaliger Chef, der Genetiker Erwin Baur, den nicht näher benannten "linken Eugenikern" in kritischer Absicht gegenübergestellt. Linke Eugeniker hätten in ihr Denken "noch sozialkritische Inhalte" einfließen lassen, die "zunehmend durch eine biologistische Rhetorik" ersetzt worden seien, wonach einer Degeneration der Bevölkerung Einhalt zu gebieten sei.

    Hier fällt das Buch leider hinter den Stand der historischen Forschung zurück. Denn der Eugenik-Diskurs der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts ist mit Kategorien von Links und Rechts nicht zu begreifen – führende europäische Eugeniker wie Ernst Haeckel oder August Forel, die die Degeneration der Bevölkerung schon lange vor dem Ersten Weltkrieg mit Zwangssterilisation oder im Fall Haeckel mit hundertausendfachem Mord an Behinderten bekämpfen wollten, wurden von Lenin wie von Hugenberg gleichermaßen verehrt. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte in einigen europäischen Ländern wie in Teilen der USA ein "eugenischer Konsens", der quer durch alle politischen Lager verlief.

    Bedauerlicherweise bleibt auch ein Beitrag etwas oberflächlich, der auf die Spuren einer ganz anderen Geschichte der Pflanzenzüchtung während des Krieges führt: einer Widerstandsgeschichte. Stanislaw Meducki von der Technischen Universität Kielce in Polen berichtet darüber, dass an der sogenannten "Landwirtschaftlichen Forschungsanstalt des Generalgouvernements" in Pulawy eine Widerstandgruppe existierte. Meducki deutet einen Zusammenhang zur Tatsache an, dass Friedrich Christiansen-Weniger, der deutsche Direktor des Institutes an der Weichsel, zur Widerstandsgruppe des "Kreisauer Kreises" gehörte und möglicherweise dem polnischen Widerstand an seinem Institut bewusst einen Aktionsraum gab. Doch leider bleibt es an dieser Stelle bei Vermutungen – hier hätte man sich eine genauere Darstellung gewünscht.

    Dennoch: Unter dem Strich versammelt das Buch wichtige historische Arbeiten zur Förderung der wissenschaftlichen Pflanzenzucht im NS-Staat- sowie ein weiteres Beispiel für die erschreckenden Kontinuitäten beim wissenschaftlichen Führungspersonal in der Bundesrepublik. Die Rolle der führenden Biologen zwischen Begeisterung für die "Erzeugungsschlacht" im Zweiten Weltkrieg und vereinzeltem Widerstand wird anschaulich gemacht. Eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für die Geschichte der Max-Plank-Institute interessiert.

    Susanne Heim (Hg.): Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus. Es ist erschienen im Göttinger Wallstein-Verlag, umfasst 306 Seiten und kostet 20 Euro.