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Autobiographischer Versuch?

Das erste Theaterstück von Felix Ensslin entstand, nachdem er gemeinsam mit dem Intendanten Stephan Märki Goethes "Werther" in Weimar auf die Bühne gebracht und Schillers "Tell" für eine Inszenierung am Originalschauplatz auf dem Rütli eingerichtet hatte. Anschließend wollte Ensslin Bernard-Marie Koltès abstrakt-philosophischen Diskurs "In der Einsamkeit der Baumwollfelder" auf die Bühne bringen, doch dann wagte er den Schritt vom Dramaturgen zum Dramatiker und Regisseur. Entstanden ist aus der Reibung mit dem fremden Text von Koltès ein eigener Text, der den Untertitel "Mit Koltès sprechen" trägt und mit einem Zitat von Koltès beginnt:

Von Hartmut Krug |
    Für mein Gefühl ist es letzten Endes eine ganz andere Denkweise. Ich bin da mit Sicherheit sehr stark auch da geprägt von einem bestimmten deutschen, protestantischen Sprachgebrauch. Wenn ich "Die Einsamkeit der Baumwollfelder" nehme, ist es so in dieser Tradition des discours, hat es eine gewisse Kälte, die die Redundanz dieser Bewegung von Suche nach Anerkennung, Ablehnung von Anerkennung, Kampf um Anerkennung, Verführung, Ablehnung von Verführung, also zumindestens nicht kommentiert. Also ich will zumindestens sagen, dass mein Stück ein Versuch ist, da weiter zu schauen.

    Ensslins Stück erzählt von einer Frau, die am Sarg ihrer Mutter mit dieser einen Selbstbehauptungs- und Erfahrungsdialog führt und um ihre Identität kämpft. "Der erste Spiegel im Leben eines Menschen ist seine Mutter" schreibt der Autor im Vorwort zu seinem Stück, und er benennt die Möglichkeit, dass ein Kind darin gefangen bleibt.

    Es ist im Grunde, die Beziehung einer Beziehungslosigkeit zu zeigen. Das tun zu müssen in einer Form, im Grunde, indem man reduziert, reduziert, reduziert, - alle Mittel sozusagen abgibt und sich ganz den Worten dieses Textes stellt und mit dem Körper in dem Raum ganz alleine dasteht.

    Felix Ensslin ist in der öffentlichen Wahrnehmung immer gefangen geblieben in der Nicht-Beziehung zu seiner Mutter Gudrun Ensslin, die als RAF-Terroristin in Stammheim 1977 Selbstmord beging, ihn aber schon wenige Monate nach seiner Geburt 1967 zurück gelassen hatte. Aufgewachsen in einer vielköpfigen Pflegefamilie auf der schwäbischen Alb, der neue Vater war Landarzt, die Mutter Kirchenmusikerin, hat er sich seit seinem Studium der Philosophie und des Dramas in New York stets damit beschäftigt, was das protestantische Denken in der Entfaltung des modernen Subjekts für eine Rolle spielt.

    Man kann Ensslins erstes Stück auch autobiographisch lesen, doch zugleich erzählt es von jeder Form menschlicher, biographischer Abhängigkeit. Der Text wirkt bei der Lektüre ungemein hermetisch und fast abweisend kompliziert und komprimiert. Doch bei der Uraufführung im e-Werk, der kleinen Experimentierbühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar, wird er vom regieführenden Autor und seinen beiden faszinierenden Darstellerinnen zu szenischer Sinnlichkeit aufgeschlossen. Wie Claudia Meyer und Corinna Kirchhoff die Sprache zum Klingen und zugleich zur Bedeutung bringen, das ist faszinierend. Das Stück bleibt anstrengend, die kaum einstündige Aufführung fordert den Zuschauer ungemein. Doch es vermag ihn, jedenfalls in dieser Uraufführung, ebenso heftig zu faszinieren.

    Den im Text vorgeschriebenen Sarg gibt es nicht: auf leerer Bühne wird in Weimar aus Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, Stille und Sprache der Versuch einer Beziehung zwischen zwei Frauen inszeniert. Es passiert nichts, doch man ist gebannt.

    Mutter und Tochter gehen aufeinander zu, wenden sich ab, verschließen sich, öffnen sich: gezeigt wird ein emotionaler Vorgang ohne alle Heftigkeit oder Aggression, auch ohne äußere Dramatik. Lichtschneisen oder -felder führen die beiden zusammen oder vereinzelnen sie, und gelegentlich kommentieren auf der Bühnenrückwand abstrakte Bilder oder unscharfe Polaroidfotos die Beziehungssituationen ganz sacht.

    Gezeigt wird ein Austausch zwischen Menschen. Die Tochter möchte ein eigenes Leben haben, das so genau wie ihre Perlenkette gefügt ist, und die erst nach ihrem Tod, nach ihrem Verschwinden befragte Mutter ist eine Projektion, bei der Rat und Austausch gesucht werden. Felix Ensslins Stück und Inszenierung sind bestimmt von Sprache, nicht von illustrierender Bildhaftigkeit.

    Während in der Stückvorlage die Tochter ihre tote Mutter ein zweites, endgültiges Mal tötet, wird dies hier nur in abstrakter Hintergrundprojektion angedeutet. Auf der Bühne wird die Perlenkette weitergegeben und die Jacken werden fast beiläufig getauscht. Das Stück zeigt, wie das Nachdenken über eine andere, vorher gehende Generation möglich sein könnte. Ein kleiner, schauspielerisch brillanter und thematisch faszinierender Theaterabend ist in Weimar zu sehen.