Freitag, 19. April 2024

Archiv

Autorin Jana Hensel
"Westdeutschland ist immer noch die Nenngröße"

Die Autorin und Journalistin Jana Hensel kritisiert, dass von Ostdeutschen immer noch eine Anpassung an den Westen gefordert werde. Man habe in der DDR ganz eigene Erfahrungen gemacht, die mit dem Mauerfall nicht vergessen sein sollten. Das gelte auch für die letzten 30 Jahre, sagte Hensel im Dlf.

Jana Hensel im Gespräch mit Christiane Kaess | 05.02.2018
    Die Autorin Jana Hensel
    Jana Hensel, geboren in Sachsen, befasst sich viel mit ostdeutschen und frauenpolitischen Themen (picture alliance / dpa / Kirsten Nijhof)
    Christiane Kaess: Es gab und gibt schon viele Jahrestage, die an die Teilung Deutschlands und an seine Wiedervereinigung erinnern. In diesen Tagen ist es wieder soweit, auch wenn es dieses Mal gar nicht um ein rundes Datum geht, sondern um eine Berechnung, die vielen sicher nicht aufgefallen wäre, wenn man sie nicht öffentlich thematisiert hätte. Die Mauer, die Deutschland teilte, stand genau 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage. Genauso lange ist sie jetzt weg und mit dem Stichtag heute ist die Mauer sogar länger Geschichte, als sie das Schicksal der Menschen im geteilten Deutschland bestimmt hat.
    Jana Hensel ist Journalistin bei "Zeit Online" und Autorin. Sie hat unter anderem das Buch "Zonenkinder" geschrieben über das Lebensgefühl Jugendlicher in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Guten Morgen, Frau Hensel.
    Jana Hensel: Hallo! – Schönen guten Morgen.
    Kaess: Was bedeutet dieses Datum denn für Sie?
    Hensel: Erst mal ist es ein bisschen ein eigenartiges Datum, über das man ein bisschen nachdenken muss. Mich hat überrascht, dass ich in der vergangenen Woche, als ich das ein paar Leuten erzählt habe, dass die alle ein bisschen erschrocken darauf reagiert haben. Offenbar haben sie nicht das Gefühl, dass die Mauer schon so lange weg ist, wie sie weg ist, und das fand ich interessant.
    "Schon wieder wird eine Epoche für beendet erklärt"
    Kaess: Kommt Ihnen das auch so vor?
    Hensel: Dieses erschrocken sein – ich beschäftige mich sehr viel mit solchen Identitätsfragen. Insofern halte ich dieses etwas für beendet erklären – schon als ich "Zonenkinder" schrieb (das ist nun schon sehr, sehr viele Jahre her) -, mich begleitet es von je her eigentlich, dass man meine Beschäftigung mit ostdeutscher Identität alle Jahre für beendet erklären möchte oder für nicht mehr notwendig erachtet. Und ich glaube, dass die Leute sich erschrocken haben bei diesem Datum, hat auch damit zu tun, dass sie, glaube ich, Angst hatten, dass mal wieder ein Abschnitt, eine Epoche als für beendet erklärt wird, nämlich die, wo man sich mit dieser Mauer noch beschäftigen muss oder wo es noch Spuren davon geben könnte.
    Kaess: Sie haben gerade selber gesagt, das ist tatsächlich so ein krummes Datum. Es ist eben nicht 30 Jahre Mauerfall oder 25 Jahre Wiedervereinigung. Dieser Stichtag, die Mauer länger weg als sie stand, impliziert das auch, dass es jetzt eigentlich keine Unterschiede mehr geben dürfte?
    Hensel: Eben! Das ist das, was es impliziert, und es ist das, worüber wir eigentlich so oft gesprochen haben, und ich glaube, auch viele Ostdeutschen sind es leid, dass wir eigentlich, wenn wir über Ostdeutschland sprechen, A oft nur an Feiertagen darüber sprechen und B immer in Bezug auf Westdeutschland, immer in Bezug auf die Frage, gibt es noch Unterschiede, wie groß sind die Unterschiede, wie lange haben wir noch Unterschiede, dürfen wir noch Unterschiede haben. In Wahrheit thematisieren wir sehr oft eigentlich Anpassungsleistungen, die wir von Ostdeutschland oder der ostdeutschen Gesellschaft verlangen, immer wieder zu solchen Daten, und ich glaube, das ist das, was die Leute ein bisschen erschrocken macht.
    "Erfahren, dass die Geschichte gar nicht linear ist"
    Kaess: Dann frage ich Sie trotzdem mal: Was sind denn für Sie die gravierenden Unterschiede noch?
    Hensel: Ja, über dieses Wörtchen "noch" könnte man sprechen. Was sind noch die gravierenden Unterschiede? Ich weiß nicht. Die Mauer steht nun 30 Jahre nicht mehr. Wir haben doch eigentlich erfahren in diesen beinahe nun drei gemeinsamen Vereinigungsjahrzehnten, dass die Geschichte gar nicht linear ist, dass diese Erzählung gar nicht funktioniert, dieses "eines Tages werden wir zusammenwachsen"."
    Wir können eigentlich die verschiedenen Jahrzehnte durchgehen und werden sehen, dass eigentlich jedes Jahrzehnt von ganz anderen politischen Fragen gekennzeichnet war. Die 90er-Jahre vor allem durch einen totalen Zusammenbruch der ostdeutschen Gesellschaft, mental, ökonomisch und politisch. Mitte der 90er-Jahre war die ostdeutsche Wirtschaft quasi Geschichte. Millionen Menschen waren arbeitslos. Davon hat sich die ostdeutsche Gesellschaft, glaube ich, viele Jahre erholt.
    Heute, im dritten Wiedervereinigungsjahrzehnt, diskutieren wir nun schon seit auch inzwischen Jahren über Phänomene wie Pegida und die AfD. Wir fragen uns, was hat das mit Vorwende- und Nachwende-Prägung zu tun. Wir merken vor allem, wir kommen mit dieser linearen Geschichtserzählung eigentlich nicht weiter.
    "Andere Länder haben es da leichter"
    Kaess: Wenn ich Sie richtig verstehe, Frau Hensel, dann finden Sie es überhaupt nicht erstrebenswert, dass die Unterschiede wegfallen?
    Hensel: Erstrebenswert halte ich die nicht, weil es geht ja immer um Unterschiede der Ostdeutschen in Bezug auf die Westdeutschen. Westdeutschland, die westdeutsche Gesellschaft, westdeutsche Erfahrungen sind quasi die Nenngröße und die Ostdeutschen haben sich dem anzupassen. Nein! Nicht nur, dass man in der DDR ganz eigene spezifische Erfahrungen gemacht hat, die mit '89 weder alle vergessen sein sollen, noch vorbei waren. Eben auch, was ich gerade gesagt habe: diese letzten 30 Jahre. Auch da hat man in diesem Ostdeutschland andere, auch ganz grundlegend andere Erfahrungen gemacht als in Westdeutschland.
    Das ist eine schwierige deutsche Gegenwartserzählung. Andere Länder haben es da leichter, schauen auf größere Zeiträume gemeinsamer Geschichte zurück. Aber wir sind ein eben gerade erst wieder vereinigtes Land, und das ist eine ganz schwierige Geschichtserzählung.
    Kaess: Eine andere Größe, in der auch gerne gemessen wird, sind die Gewinner und Verlierer der Wiedervereinigung. Ich würde jetzt mal denken, dass Sie sich zu den Gewinnern zählen, zumindest unter dem Aspekt der Freiheit. Zumindest haben Sie das auch mal so geschrieben in der "Zeit". Können Sie die Verlierer nachvollziehen und dass die sich auch so sehen?
    Hensel: Diese Verlierer- und Gewinnereinteilung und Kategorien – das sehen wir gerade bei Pegida oder das sehen wir bei solchen Phänomenen wie der AfD – funktionieren nicht mehr. Wir wissen inzwischen, dass, wenn wir nach Dresden zu Pegida schauen, sich dort Gewinner wie Verlierer rassistisch, antidemokratisch äußern und artikulieren, dass gerade Pegida und auch die AfD Bewegungen sind, die in allen sozialen Schichten und in allen Milieus Anhänger finden. So einfach funktioniert das nicht mehr.
    Aber was sie natürlich sagen und was auch wichtig ist und gerade in diesen Zeiten immer wichtiger wird zu sagen: Natürlich bedeutet 28 Jahre keine Mauer mehr auch 28 Jahre Freiheit, Reisen, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und so weiter, ein unglaublich hohes Gut.
    "Ich sehe keine Verklärung der DDR"
    Kaess: Dann frage ich noch mal anders. Verstehen Sie die Verklärung der DDR, da wo sie noch vorkommt?
    Hensel: Gibt es noch eine Verklärung der DDR? Ich sehe keine. Ich sehe keine Verklärung der DDR. Ich glaube, selbst bei Pegida finden Sie keine Verklärung der DDR mehr. Ich glaube, was wir da finden bei Pegida und auch bei dieser AfD ist etwas, was wir in der Nachwende-Geschichte Ostdeutschlands immer wieder finden, wie zum Beispiel an Phänomenen wie in den frühen 90er-Jahren Rostock-Lichtenhagen oder auch in Hoyerswerda. Wir finden massive Fremdenfeindlichkeit, wir finden Eruptionen von Fremdenhass, die sich gleichsam gegen das demokratische System wenden.
    Das ist, glaube ich, etwas, wenn wir über die Unterschiede zwischen Ost und West sprechen, dann ist das ein großer Unterschied. Auch in Westdeutschland gibt es Fremdenfeindlichkeit. Auch in Westdeutschland gibt es Rassismus. Aber der richtet sich nicht gegen das System, während die Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland immer auch ein Mittel war, gegen Angela Merkel, gegen die da oben zu demonstrieren. Sie haben ganz andere mentale Gemengelagen in Ost- und Westdeutschland.
    "Wir haben auch den Rassismus in Westdeutschland"
    Kaess: Jüngstes prominentes Beispiel, hören wir in diesen Tagen, ist Cottbus, wo es seit Wochen zu Auseinandersetzungen zwischen den Cottbusern und Flüchtlingen kommt. Es hat jetzt am Wochenende zwei Demonstrationen gegeben. Etwa tausend Menschen sind gegen Hass auf die Straße gegangen und etwa doppelt so viele gegen Fremde. Was denken Sie, wenn Sie solche Zahlen hören?
    Hensel: Na ja, wie ich das gerade sagte. Wir müssen uns mit den Unterschieden beschäftigen, was bedeutet Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, und da habe ich nicht alle Antworten. Mein Gefühl ist aber, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit politisch anders interpretiert und auch benutzt wird in Ostdeutschland. Wir haben auch in Westdeutschland diese Fremdenfeindlichkeit. Wir haben auch den Rassismus in Westdeutschland. Nur wird der anders politisch eingeordnet.
    Der ist nicht antidemokratisch. Der richtet sich nicht gegen die demokratische Verfassung der Bundesrepublik. In Ostdeutschland aber ist das so, ist Rassismus und Fremdenfeindlichkeit immer auch ein Mittel gewesen, gegen die Verfasstheit der Bundesrepublik als Ganzheit zu kämpfen. Und was man, glaube ich, auch macht – das ist auch ein Unterschied: Der Rassist oder der Fremdenfeind in Ostdeutschland, der geht auf die Straße. Der sagt laut seine Meinung, der demonstriert. Das ist auch ein bisschen eine vielleicht fehlgeleitete Interpretation der wichtigen Erfahrung von _89. Ich glaube, der Rassismus in Westdeutschland, der findet im Hinterzimmer statt. Das ist eine Kneipenkultur. Das ist etwas, was man nicht zu laut artikuliert, während der Rassismus in Ostdeutschland immer auch lautstark artikuliert wird.
    Was ich sagen will: Ich glaube, dass wir viele Phänomene in Ost und West gleichermaßen finden. Nur fühlen sie sich anders an. Sie haben eine andere Identität und werden anders auch in diese Gegenwart hineingestellt. Da müssen wir viel genauer hingucken und das viel genauer analysieren, anstatt da ganz oft einfach Dinge zu vermengen und dann auch wirklich falsch zu verstehen. Aber natürlich ist das etwas, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, wo immer er stattfinden wird, sei es in Cottbus, sei es in Baden-Württemberg, womit wir uns als Gesellschaft nicht abfinden können.
    "Wäre es nicht möglich gewesen, gleichberechtigter zu vereinen?"
    Kaess: Frau Hensel, sagen Sie uns noch zum Schluss: Gibt es für Sie etwas im Rückblick, was anders hätte laufen sollen nach dem Fall der Mauer?
    Hensel: Eine Frage, die mich tatsächlich in diesen Tagen beschäftigt, wenn wir solche, auch etwas eigenartigen Tage begehen. Ich frage mich tatsächlich, ob es nicht möglich gewesen wäre, Ost- und Westdeutschland gleichberechtigter wiederzuvereinen.
    Kaess: Was hieße das?
    Hensel: Ob es nicht möglich gewesen wäre, tatsächlich diese beiden deutschen Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch jeweils als Antworten auf den zweiten Weltkrieg gegründet haben, ob man nicht deren Geschichte hätte gleichberechtigter erzählen können.
    Kaess: … sagt die Autorin und Journalistin Jana Hensel. Danke für Ihre Zeit!
    Hensel: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.