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Bad Boy

Tomi Ungerer gehört zu den wichtigsten Illustratoren, Zeichnern und Werbegrafikern. Nun sind in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall Zeichnungen, Objekte und Plastiken des Künstlers zu sehen - mit dem Titel "Eklips -Neues für die Augen von 1960- 2010".

Von Christian Gampert | 23.05.2010
    Zeitlebens scheint an Tomi Ungerer der Zweifel genagt zu haben, ob er denn ein richtiger Künstler sei – und nicht nur ein erfolgreicher Werbegraphiker, Buchillustrator, Karikaturist, Gelegenheits-Schriftsteller. Und obwohl es in seiner französischen Heimatstadt Straßburg ein ganzes Museum gibt, das nur ihm gewidmet ist, muss ihm diese "deutsche" Retrospektive auf das Gesamtwerk wie ein Ritterschlag vorkommen; selig spaziert der fast 80-Jährige, auf einen Stock gestützt, durch die Ausstellung und führt persönliche Freunde gleich ins Allerheiligste, durch die Leiter-artigen Beine einer magersüchtigen Nana hinein ins Separé, wo die Erotica gezeigt werden.

    Vor einem Jahr war Tomi Ungerer in der großen Max-Ernst-Ausstellung in Schwäbisch-Hall und hat da offenbar noch einmal einen Schub bekommen: manisch produzierte er diverse surreale Zeichnungen und Objekte – das hervorstechendste ist jener aus Backsteinen bestehende Koffer, ein Koffer mit Vergangenheit, der die Schau im Museum Würth jetzt eröffnet.

    Die Biografie wird minutiös abgeschritten: vom kleinen Elsässer Tomi, geboren kurz vor Machtergreifung der Nazis, aufgewachsen zwischen zwei Kulturen, der früh den Vater verliert, zu zeichnen beginnt, nach dem Krieg das Abi schmeißt und in New York ein führender Cartoonist wird: der Humor als Über-Lebensmittel, die Satire als politische Waffe, der Sex als große Attraktion, der Tod als ständige Bedrohung. Ungerer ist aufgewachsen in Colmar, im Schatten des Isenheimer Altars. Und er ist, wie die Ausstellung belegt, nicht nur ein politischer Mensch und großer Erotomane, der die Mechanisierung des Sexus beklagt, sondern auch ein großer Thanatologe, von Furcht und Faszination vor dem Sensenmann gleichermaßen geprägt.

    Ungerer hat extreme Armut und extremen Reichtum kennengelernt; er war Schaufensterdekorateur ebenso wie Illustrator bibel-artig verbreiteter Kinderbücher – das "große Liederbuch" ist in Deutschland immer noch sein größter Coup. Er war Darling der New Yorker High Society und musste dann, als Sex Maniac verschrieen, in die Einsamkeit Kanadas emigrieren, wo er Schafe züchtete.

    Vor allem aber ist er ein begnadeter Zeichner. Die Sicherheit seiner Linienführung und seine stilistische Vielfalt sind beneidenswert. Es gibt diese Karikaturen und Plakate, die in ihrer flächigen Klarheit sofort als Ungerer erkennbar sind; aber während ein Sempé immer ein Sempé bleibt, ist bei Ungerer bisweilen unsicher, ob diverse Blätter nicht von Paul Flora oder gar Egon Schiele sein könnten. Er kennt die Vorbilder in- und auswendig, von Daumier bis Doré. Manches in den politischen Persiflagen ist vordergründig und banal, aber gerade das Zusammenspiel von Sex und Tod nötigt Ungerer dann zu einer stupenden zeichnerischen Virtuosität, zu ganz kargen Figuren im leeren Raum.

    Dies mit einer Vielzahl von Werken zu belegen, ist das Verdienst dieser Ausstellung. Dass nebenbei auch manch Dubioses zum Vorschein kommt, sei hier freundlich übergangen. Man ist frappiert, wie treu sich da einer ist: gegen den Krieg, gegen die Wirtschaftsbosse, gegen Bürokratie und Falschheit – aber: es lebe das Kinderparadies, es leben die Katzen, Hunde, Schafe und Schweine. Dies alles hat sich seit den 1960iger Jahre eigentlich nicht geändert, gelegentlich gibt es surrealistische Anfälle, aber hier hat keine Werkentwicklung im strengen Sinne stattgefunden; was Ungerer kann, das konnte er scheinbar schon immer, und er zieht es bei diversen sich bietenden Gelegenheiten dann aus der Tasche.

    Kunst gehört zum Leben wie Essen und Trinken für Tomi Ungerer, der ständig zeichnet und eine Idee hat und daraus dann Collagen und Skulpturen fertigt – noch die Tragetüte zu seiner Ausstellung ist ein Kunstwerk: sie zeigt eine Katze, die wie ein Turner an Ringen hängt, und die Ringe hängen an der Tragekordel der Tasche.

    So möge in dieser Schau ein jeder seinen Tomi Ungerer entdecken: den politischen, den skurrilen, den surrealen, den traurigen, den kindlichen. Allerdings: das an Egon Schiele anschließende Kapitel "Eros und Tod" ist bei Weitem das Beste.