Archiv


Balkanische Empfindlichkeiten

Sreten Ugricic schaut kritisch auf seine serbischen Landsleute. Für ihn besteht immer noch eine große Diskrepanz zwischen Wahrheit und der Überzeugung vieler Serben, weder am Jugoslawienkrieg noch am aktuellen Kosovokonflikt schuld zu sein. Ugricic spricht den Serben eine "Untertanenmentalität" zu.

Von Mirko Schwanitz |
    Aktuell besteht auf dem Balkan ein Grenzkonflikte zwischen Serbien und Kosovo.
    Aktuell besteht auf dem Balkan ein Grenzkonflikte zwischen Serbien und Kosovo. (picture alliance / dpa EPA/VALDRIN XHEMAJ)
    Von der Bushaltestelle am Slavia-Platz strebt eine steile Straße den Vracar-Hügel hinauf. Auf seiner Spitze belauern sich die Antipoden der serbischen Kultur. Links die Kirche des Heiligen Sava, das größte orthodoxe Gotteshaus der Welt. Rechts die Nationalbibliothek, der Tempel der serbischen Literatur. Der Hüter des Tempels, Sreten Ugricic, hat ein Buch geschrieben, das so brisant ist, dass es bis heute von den serbischen Medien weitgehend ignoriert wird.

    "In einem ziemlich radikalen literarischen Stil habe ich versucht, den Ursprung des nationalistischen Gedankenguts in Serbien zu entdecken."

    In seinem Roman "An den unbekannten Helden" reflektiert Ugricic die Konsequenzen von staatlicher Manipulation, Freiheitsbeschränkung und der unheilvollen Macht der serbischen Kirche. Es ist der Versuch, zu erklären, warum sich die Serben bis heute so schwer tun, ihre Kriegsverbrechen in den jüngsten Balkankriegen anzuerkennen und viele noch immer vor der Verantwortung flüchten.

    "Das Paradoxe ist, dass es immer noch so aussieht, als wäre das Trauma der Serben tiefer als das der Kroaten, Bosnier oder Kosovo-Albaner, die die schlimmsten Folgen der Kriege zu tragen hatten. Warum? Weil wir am Ende die Verlierer waren. Nicht militärisch, nicht wirtschaftlich, aber moralisch. Eine moralische Niederlage aber ist immer eine selbst verursachte Niederlage. Wir haben uns also selbst besiegt. Die anderen Völker des ehemaligen Jugoslawiens haben dieses Problem nicht und haben deshalb viel früher mit der einer Auseinandersetzung der Vergangenheit begonnen. Das soll keine Entschuldigung für unser Verhalten sein. Im Gegenteil, weil die Niederlage so tief ist, ist es unsere Pflicht, die Beschäftigung damit an die erste Stelle zu setzen."

    Doch genau hier sieht Sreten Ugricic nach wie vor große Defizite. Der Grund sei vor allem das Verhältnis vieler Serben zur Wahrheit. Deshalb lässt er im Roman den Hofnarren des Diktators analysieren:

    Die Serben leben in einem reversiblen Koma, sie respektierten die Wahrheit nicht. Die Wahrheit ist weder serbisch noch antiserbisch. Wie das, fragt der Diktator. Zur Wahrheit kann man nicht über eine Abkürzung gelangen. Die Wahrheit drückt nicht ein Auge zu. Und weil die Dinge so stehen, sind die Serben von den Tatsachen gekränkt und von den Argumenten dieser Welt. Eigentlich sind sie gekränkt von den Folgen ihres Benehmens in dieser Welt. Den Serben kommt alles Mögliche in den Sinn - alles, nur nicht, dass es vielleicht doch besser wäre, das eigene Verhältnis zu Wahrheit zu ändern. Die Serben begreifen nicht, das, in dem sie die Wahrheit nicht achten, sich selbst nicht achten.

    Wider besseren Wissens würde eine Mehrheit der Serben noch immer glauben, dass ihr Land weder Schuld an den jüngsten Balkankriegen noch an den Entwicklungen im Kosovo sei, sondern vielmehr Opfer ausländischer Mächte, die sich gegen Serbien verschworen hätten.

    "Ich fürchte, dass in Serbien dieses Auseinanderklaffen von Wahrheit und Überzeugungen immer noch schwere Konsequenzen für mein Volk hat. Bei den meisten Menschen beobachte ich immer noch eine Art Untertanenmentalität, die sie stark anfällig macht für Manipulationen des ideologischen Apparats. Die, die wirklich unabhängig und in ihrem Denken und Handeln autonom sind, sind bis heute in der Minderheit."


    Seit dem Sturz Milosevics vor mehr als einem Jahrzehnt habe sich in Serbien nur auf den ersten Blick wirklich etwas geändert, meint Sreten Ugricic. Serbien sei eine Scheindemokratie und das sei für ihn der Hauptgrund für das Ausbleiben einer Katharsis. Ohne eine solche Katharsis aber ist er überzeugt, wird die Aufnahme Serbiens in die EU sehr schwer. Es ginge nicht darum, nur ein paar Kriegsverbrecher auszuliefern, wenn dem System, dass sie hervorgebracht nicht das Wasser abgegraben werde. Danach befragt, wie sich denn die serbischen Schriftsteller in einer solchen Situation verhielten, was sie zu einem neuen Bild von Serbien beitragen würden, denkt Ugricic lange nach, bevor er entschieden und klar antwortet:

    "Man kann die serbischen Autoren grob in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe, und das ist die Mehrheit der serbischen Autoren, richtet ihr Schaffen auf die Reproduktion und Erhaltung der bestehenden Ordnung und deren Ideologie aus, die nach wie vor eine dominant nationalistische ist. Die zweite Gruppe tut so, als sei überhaupt nichts passiert. Und die dritte und für mich einzig relevante Gruppe sind jene Autoren, die sich mit dem Kontext auseinandersetzten, die versuchen literarisch zu analysieren, was eigentlich die Voraussetzungen waren, die dazu geführt haben, dass passieren konnte, was passiert ist."