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Band Wire mit neuem Album
Dem Vereinten Königreich den Puls fühlen

Die Band Wire unterschied sich deutlich von anderen Punk- und Wave-Bands ihrer Generation: durch musikalische Risikobereitschaft, den konsequenten Willen zum eigenen, kopiergeschützten Klangbild und nicht zuletzt wegen ihres akademischen Hintergrunds. Und: Sie veröffentlicht immer noch interessante Alben.

Von Thomas Elbern | 02.02.2020
    Vier Männer stehen vor einer okerfarbenen Wand. Zusammen sind sie die Band Wire.
    Unauffällig und langlebig: die britische Band Wire (Giuliana Covella)
    Was mit den meisten Punkbands passiert, deren Debütalben Ende der siebziger Jahre erschienen sind? Entweder es gibt sie nicht mehr, oder sie spielen heute ihre alten Klassiker vor Fans, die mittlerweile das Doppelte ihres ursprünglichen Körpergewichts zugelegt haben. Punkrock in seiner rebellischen Urform ist heute öde und langweilig geworden und alles andere als relevant. Doch schon damals, zur Zeit des Punk und New Wave gab es Ausnahmen: die britische Band Wire zum Beispiel, deren Debüt "Pink Flag" 1977 erschien. Schon damals brachen die Londoner Kunststudenten den klassischen Rock’n Roll mit Punkrock und etablierten dann in späteren Alben den Noiserock und New Wave.
    Wire, die Institution
    Dass eine der unauffälligsten Bands dieser Ära zwar nicht die Erfolgreichste, dafür aber die wichtigste Gruppe des Post Punk werden würde, ist der Langlebigkeit Wire’s zu verdanken. Denn Wire hat nie wirklich aufgehört zu existieren und vor kurzem erst mit "Mind hive" wieder ein Album veröffentlicht, das wieder daran erinnert, dass der ruhelose Geist der Gruppe auch heute noch von großer Bedeutung ist. Sänger Colin Newman drückt es so aus:
    "Typisch an Wire ist, dass wir die ganze Zeit eigentlich nur eine einzige Idee verfolgt haben. Es ging uns immer um das Werk Wire und nicht um die Beziehungen der Bandmitglieder untereinander oder um Zeit mit Freunden im Studio oder auf Tour zu verbringen. Wire ist wie eine Idee, die sich ständig weiterentwickelt. Wir versuchen, uns nicht zu wiederholen, aber auch nicht, wie man so schön sagt, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Also entwickeln wir uns weiter und versuchen, das Gesamtwerk über die einzelnen Songs zu definieren."
    Zu beschäftigt, um Kultband zu werden
    Sänger Colin Newman weiß, wovon er spricht. Zu oft konnten Wire dabei zusehen, wie britische Bands wie "The Cure" oder "Joy Division" zu Kultbands erklärt wurden, während der Einfluss von frühen Wire Alben wie "Pink Flag, Chairs missing" oder "154" erst oft Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen deutlich wurde."Blur" und "REM" sind die berühmtesten Bands, die sich von Wire inspiriert fühlten. Doch Wire waren in den vergangenen 40 Jahren einfach zu beschäftigt, um das überhaupt zu bemerken. Lösten sich aus Frust auf, um sich dann wiederzufinden, ihren Sound elektronischer zu gestalten und dann doch wieder gitarrenlastiger zu werden oder Soloalben herauszubringen. Doch seit spätestens 2010 überzeugen Wire wieder mit Alben, die die Brücke zum Postpunk schlagen, den sie zwar sehr mitgeprägt haben, der aber in ihrem Fall weder nostalgisch noch angestaubt wirkt. Geholfen dabei hat Gitarrist Matthew Simms, der gerade mal halb so alt ist wie die übrigen Bandmitglieder und der seit 2010 zum festen Lineup der Gruppe gehört. Seine innovativen Gitarrensounds, die oft wie ein Synthesizer klingen, prägen seitdem die Veröffentlichungen. Das schätzt auch Colin Newman.
    "Wir denken bei Wire nicht viel über Sound nach, sondern es geht immer um Ideen, die wir umsetzen wollen. Und Mathew ist jemand, der sehr instinktiv verstanden hat, wie Wire funktioniert. Man muss eine bestimmte Begabung dafür haben. Und der Song "Hung" ist ein gutes Beispiel für einen typischen Wire Song. Es ist das längste Stück auf dem Album und hat den kürzesten Text. Vier Zeilen die humorvoll, aber auch todernst sind. Das ist so, als würde man "Wire" in einem einzigen Song zusammenfassen."
    Immer noch am Puls des heutigen England
    "Mind hive" setzt die Tradition der jüngeren Wire Alben fort. Es ist dieser gitarrendominierte Sound, über dem glasklar die Stimme von Colin Newman thront. Newman, der übrigens nie über scheinbar profane Dinge wie Liebe singt, sondern lieber über ausufernden Kapitalismus und eine Gesellschaft, deren Überwachungssysteme sich selbstständig gemacht haben. Ob diese Texte wie im Song "Cactused" von 1977 stammen und von Newman wiederentdeckt worden sind oder jüngeren Datums sind, ist dabei unerheblich. Sie ertasten immer den Puls des vereinten Königreichs.
    Wire sind Meister im Umschreiben von Themen, dem schemenhaften Skizzieren von inneren und gesellschaftlichen Zuständen und immer noch ganz die Kunststudenten, die man eher beim Fachsimpeln im Museum, als im Pub nebenan trifft. Ja, und kopieren lässt sich dieser Sound nicht, dafür ist er zu verschroben und eigen...
    "Was wir über all die Jahre erkannt haben, ist, egal wie wir etwas instrumentieren oder arrangieren, am Ende klingt es immer nach Wire. Es ist nicht schwer, Musik wie Wire zu machen, wenn man Wire ist. Für andere mag das ziemlich schwierig sein, aber für uns ist es sehr leicht und die einzige Musik, die wir überhaupt spielen können. Das vereinfachte Konzept lautet: vier Leute in einem Raum."
    Vielleicht die letzte Tournee
    Ab März sind Wire wieder auf Tournee und kommen im Mai für drei Konzerte nach Deutschland.
    Für eine Band, deren Mitglieder außer dem Gitarristen Matthew Simms weit über 6o Jahre alt sind, kann das eine Herausforderung sein. Doch einen Besuch im Museum des Post Punk braucht man bei Auftritten der Band nicht zu erwarten. Dass Wire überhaupt mal ältere Songs spielen, ist eher die Ausnahme. Die aktuelle Inkarnation ihres Schaffens, in diesem Fall "Mind hive", steht bei Colin Newman immer im Vordergrund:
    "Neue Songs live zu spielen kann sehr interessant sein, denn man lernt eine Menge dazu, man lernt neue Aspekte über die Musik und manchmal bekommen wir auf Tour neue Ideen für kommende Studioproduktionen. Auf der anderen Seite können wir auf Grund unseres fortgeschrittenen Alters nicht wie eine Band unterwegs sein, in der die Mitglieder gerade mal 19 sind. Wir können immer noch Gigs und kleinere Touren spielen, doch 18 Wochen am Stück weltweit unterwegs zu sein, wird nicht mehr passieren."
    Eine Lektion für junge Musiker
    Wire könnten gerade für junge Musiker als eine Art Rollenmodell fungieren, die 2020 ihren eigenen Sound spielen und entdecken wollen und sich eben nicht an aktuelle Trends orientieren. Colin Newman hat da so seine Ideen.
    "Hast du etwas auf eine Weise zu sagen, wie nur du es sagen kannst? Wir sind alle Individualisten und wir alle hören Musik unterschiedlich. Es kann besonders für junge Musiker ganz schön hart werden. Sie denken, sie müssten Musik machen, die wie die von anderen Musikern klingt, um erfolgreich zu sein. Aber sei besser du selbst. Okay, das ist für mich mittlerweile ziemlich einfach zu behaupten. Es ist wie im Zen Buddhismus, der Anfang und das Ende sind das Gleiche. Aber in der Mitte wird es kompliziert. Ich glaube, ich kann garantieren, dass, wenn jemand heute sein Ding durchzieht und dann erst einmal in Schwierigkeiten gerät, er am Ende dann doch einsehen wird, dass das die beste Idee war. Ein eigener Ausdruck ist das, was nachhaltig ist."