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Bangen am Bosporus

Geologie.- Dass die Folgen des Erdbebens von Haiti so katastrophal sind, liegt daran, dass dort ein geologisches "Worst-Case-Szenario" Wirklichkeit geworden ist. Aber auch in einer anderen Region der Erde, in der es eine ähnliche tektonische Situation gibt, fürchten die Menschen ein großes Beben: in Istanbul. Die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich berichtet im Gespräch mit Ralf Krauter.

    Ralf Krauter: Frau Röhrlich, als Sie vergangene Woche an dieser Stelle hier im Studio über das Desaster berichteten, war die Botschaft im Kern noch: Naja, so genau weiß noch keiner, wie es dazu kam. Was ist denn der Sachstand heute?

    Dagmar Röhrlich: Ja, man weiß heute, dass diese gesamte geologische Situation geradezu aufgeladen war, dass wieder einmal ein Beben passieren musste, eigentlich. Und Haiti ist ja eingeklemmt von den größeren Platten drum herum. Haiti liegt auf der kleinen karibischen Platte, die aussieht wie ein Pflaumenkern. Und drum herum habe ich viel größere Platten: die südamerikanische, die nordamerikanische. Und all diese großen Platten nehmen es in die Zange regelrecht, bewegen sich so im Millimeterbereich gegeneinander und dabei kommt es an einer Stelle, nämlich genau da, wo jetzt die Störung auch passiert ist, wo das Beben passiert ist, ist die kleine karibische Platte in einen regelrechten Flickenteppich von Störungen zerbrochen. Und das sind viele kleine sogenannte Mikroplatten, die da aneinander vorbeischrammen und da hat sich halt dieses Beben der Magnitude 7,0 ereignet. Und es ist so, dass es eigentlich zu erwarten war. Es war lange an dieser speziellen Stelle keines mehr gewesen. Nur dass es jetzt so schlimm war, ist natürlich schrecklich.

    Krauter: Es war zu erwarten. Warum genau sprechen die Experten im Fall von Haiti von einen Worst-Case-Beben? Was sind denn Kriterien für diese Klassifikation?

    Röhrlich: Das geht dann auch um die Folgen. Es ist wirklich da passiert und es hat die schlimmsten Folgen gehabt, wie man an den Zerstörungen sieht und an den vielen, vielen menschlichen Opfern, die man sich nur vorstellen kann. Es ist so, dass der Erdbebenherd sehr flach war. Also 10, 15 Kilometer lag der nur tief in der Erde drin. Und das schon mal immer sehr ungünstig, weil diese flachen Beben meist die schlimmsten Zerstörungen hervorrufen. Dann lag das Ganze auch recht nah an der Hauptstadt Port-au-Prince heran. So dass wirklich direkt die Wellen dort angebrandet sind mit ihrer zerstörerischen Kraft. Und, ein ganz wichtiger Faktor ist, dass die Bausubstanz ungeheuer schlecht ist. Wenn man sich mal anschaut: 1989 hat es in Kalifornien, in Loma Prieta, ein Beben der Stärke 7,1 gegeben. Da gab es 63 Tote. Hier wissen wir noch nicht einmal, ob es jetzt 100.000, vielleicht sogar 200.000 sind. Das zeigt, wie groß der Einfluss der Bausubstanz auf die Folgen eines Bebens ist und was ein Beben zum Worst-Case-Beben machen kann.

    Krauter: Das hat natürlich auch mit dem Entwicklungsstand des Landes zu tun, wo die Katastrophe passiert. Nun weiß man ja aus Erfahrung: Große Beben lösen oft weitere Erdbeben aus, als Trigger sozusagen. Wie hoch ist diese Gefahr auf Haiti? Kann man das schon sagen?

    Röhrlich: Auf jeden Fall wird es am Stück der Störung, das jetzt aktiviert worden ist, wo die Energie rausgelassen worden ist, noch eine Weile Nachbeben geben. Genau an der gleichen Stelle ein ähnlich großes Beben, das könnte jetzt 100 Jahre dauern, weil sich die Spannungen wieder aufbauen müssen, die Störung muss sich aufladen, sagt der Geologe so schön. Aber wenn man jetzt diese gesamte Region anschaut, dann ist es schon wahrscheinlich, dass sich dadurch, dass es Verlagerungen gegeben hat, dass irgendwo der Stress sogar angestiegen ist, an einem anderen Teil der Störung oder an einer anderen Störung überhaupt, so dass das nächste Beben wahrscheinlicher geworden ist, dass es bald stattfindet. Satellitenmessungen, da haben jetzt amerikanische und britische Forscher sich das angeschaut und haben daraus berechnet, dass wahrscheinlich die Hälfte der Spannung abgebaut worden ist. Die andere Hälfte ist noch da. Es sei denn, es hat Kriechbewegungen gegeben an diesen Störungen. Das kann es geben, dass es so kleine Entlastungen gibt, die man so gar nicht sieht an der Oberfläche, so dass das Potenzial ein bisschen runtergegangen ist. Das weiß man nicht, aber sollte sich es sich entladen, dann ist jetzt höchste Warnstufe für die anderen Bereiche.

    Krauter: Auch Istanbul wartet ja sozusagen auf ein großes Beben. Es gibt ja geologische Parallelen zwischen den beiden Orten Haiti und Istanbul, haben Sie erklärt. Warum?

    Röhrlich: Beide Orte liegen in der Nähe von großen Störungen, wo sich die Erdkruste so aneinander vorbei schiebt. Und wie auch in Los Angeles übrigens, die San-Andreas-Verwerfung. Und Istanbul ist auch ein ungeheuer kompliziertes tektonisches Gebilde, was da in der Nähe dieser Stadt ist. Es ist so, dass die arabische Platte nach Eurasien reindrückt und dabei wird die anatolische Platte rausgedrückt, nach Westen. Und da bildet sich dann im Marmarameer vor Istanbul weil gleichzeitig vor Kreta, der Insel Kreta, noch der Mittelmeer-Meeresboden ins Erdinnere reingezogen wird, ein ungeheuer kompliziertes Kräftemuster, das diesen Erdboden da auch so zerbrochen hat, ähnlich wie vor Haiti. Und 1766 hat es in diesem Stück, dieser sehr langen nordanatolischen Verwerfung, die da durchs Marmarameer zieht, das letzte Mal gebebt, ein Stück vor Istanbul. Und das heißt, da hat sich in der Zwischenzeit ungeheuer viel an Spannung aufgebaut. Gleichzeitig wissen die Forscher, dass seit 1939 die nordanatolische Verwerfung im Osten angefangen hat zu brechen, Spannung abzubauen. 1999 war das letzte große Beben von Izmit und danach das von Düzce. Das ist also jetzt noch ein Stück von so 125, 150 Kilometern, das nicht gerissen ist, wo diese ganze akkumulierte Spannung noch da ist. Und da haben jetzt Forscher vom Geoforschungszentrum Potsdam und vom Karlsruher Institut für Technologie mit Computersimulationen mal geschaut: Was könnte auf diesem letzten Teilstück denn passieren, wenn es reißt?

    Krauter: Man hat also Vermutungen, dass da bald etwas passieren könnte. Was genau ist denn bei diesen Modellrechnungen im Computer rausgekommen?

    Röhrlich: Man weiß, dass da sich vier Meter Versatz im Boden aufgebaut haben, die reißen können auf diesem Stück. Und die Forscher haben jetzt die neuesten Daten, die man hat, in den Computer reingestopft und haben dann Modellrechnungen gemacht, und haben dabei festgestellt, dass dieses letzte Stück keine gerade Linie ist, sondern dass es drei Teilstücke gibt. Und das ist natürlich erstmal eine Hoffnung gebende Nachricht, wenn man so will. Denn wenn diese Störung auf einen Schlag reißen würde, über die gesamte Distanz, dann hätten wir ein Beben mit der Magnitude 7,7. Wenn es aber jetzt in drei Teilstücken... die hintereinander brechen würden, dann hätten wir ein Beben der Magnitude 7,2. Das hört sich jetzt nicht nach viel an, der Unterschied. Aber das ist eine logarithmische Skala, das heißt, dieses 7,7er-Beben wäre sechs Mal stärker als das 7,2er Beben. Das heißt, das ist schon ein Unterschied für die Leute, die da wohnen.

    Krauter: Klingt so als ob die zerstückelte Entladung dieser Spannungen eigentlich die wünschenswerte wäre. Was sagen die Simulationen? Welches Szenario ist das wahrscheinlichere?

    Röhrlich: Zurzeit sieht es so aus, als sei das Segment, das Istanbul am nächsten liegt, auch am stärksten aufgeladen. Aber wenn nur dieses Stück reißt, dann haben wir, wie gesagt, Magnitude 7,2. Das ist immer noch schlimm, immer noch eine Katastrophe für Istanbul. Aber 7,7 wäre schlimmer. Und es könnte also sein, dass dieses Stück als einziges reißt und dass es dann Wochen, Monate, vielleicht auch Jahre dauert, ehe die Spannung an den beiden anderen Teilstücken sich entlastet. So wie Izmit gebebt hat und Monate später hat dann bei Düzce das zweite Beben stattgefunden. Aber es kann auch sein, dass es mehr so einen Reissverschluss-Effekt hat, dass es zwar da anfängt, sich aber dann zu den beiden anderen Ästen weiter fortsetzt, so dass wir dann Pech haben und alles doch in einem durch reißt. Das ist also noch wirklich unklar. Man hat auch noch eine Hoffnung, diese Störung verläuft da ja im Meer. Und man hofft, dass es da vielleicht auch diese Kriechbewegungen gibt, wo man auch auf Haiti drauf hofft. So dass die Spannung vielleicht nicht ganz so hoch aufgebaut ist wie man im Moment befürchtet.

    Krauter: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Es klingt aber trotzdem so als ob man in Istanbul gut beraten wäre, sich vorzubereiten auf den Ernstfall. Passiert das denn schon?

    Röhrlich: Istanbul hat 13 Millionen Einwohner. Man weiß die Gefahr jetzt ganz genau, man kennt sie und man hat auch angefangen. Es wird nachgeschaut: Wie sind Schulen gebaut? Muss man etwas verstärken? Wie sieht es mit Kindergärten aus, mit Krankenhäusern? Aber die Bausubstanz ist natürlich generell ganz, ganz schlecht. Das weiß man noch von den Regenfällen, Hochwasser 2006, wo ganz viele Häuser zerstört worden sind. Da kann man eigentlich wahrscheinlich überhaupt nicht viel machen. Und da raten dann amerikanische Geologen – es hört sich erstmal absurd an – die Leute sollen sich massive Tische kaufen, sie in den Raum stellen, und, wenn es bebt, unter diese Tischplatte drunter. In der Hoffnung, dass dadurch ein Hohlraum entsteht, in dem man überleben kann. Ist zwar schon fast zynisch, aber vielleicht das Einzige, was für viele Menschen dort bleibt.