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Baustelle und Bilderbuch - die Schlossfrage

Bei der Kombination von Idylle und Stadt stößt man in nahezu jeder Kommune irgendwann auf die "Schlossfrage": Gemeint ist der Wiederaufbau monumentaler Gebäude aus Gründen der Identitätsstiftung - Berlins Stadtschloss ist derzeit das bekannteste Beispiel. Klaus Jan Philipp, Professor für Architekturgeschichte und Leiter des Instituts für Architekturgeschichte an der Universität Stuttgart, über das idyllische Versprechen herrschaftlicher Paläste.

Von Klaus Jan Philipp |
    Zur idyllischen Stadt gehört ein Schloss. Sei es schwelgerisch barock mit großem Ehrenhof und weitläufigem Garten, sei es pittoresk mittelalterlich mit Türmen und Zinnen. Das Schloss verweist uns in eine Welt, die noch in Ordnung war, in der ein guter Fürst sich um seine Untertanen kümmerte, ihnen Schutz bot und Brot und Arbeit gab.

    Berlin ist keine idyllische Stadt, die Bundesregierung kein guter Fürst, und dennoch schickt sich Berlin nun an, ein Schloss zu bauen. Nicht irgendein Schloss, sondern dasjenige der preußischen Könige und Kaiser soll auf Beschluss des Bundestages, des obersten Souveräns, wiedererrichtet werden. Es soll wiedererstehen nicht aus Schutt und Asche, sondern aus dem Nichts, denn dort wo es einmal stand, ist heute gähnende Leere. Der oberste Souverän der DDR hatte 1950 seinen Abriss befohlen und an die Stelle des Schlosses den Palast der Republik gesetzt, der nun auch schon wieder verschwunden ist. Der Abriss von 1950 war in den Augen der Ideologie des real existierenden Sozialismus konsequent, denn mit der endgültigen Tilgung des Schlosses war auch jede Erinnerung an eine monarchische Regierungsform getilgt.

    Der durch unsere Demokratie beschlossenen Rekonstruktion der Fassaden und der Kuppel des Schlosses fehlt eine solche Konsequenz: Niemand will wieder einen König, der in diesem Schloss residieren könnte. Also geht es um etwas Anderes: Die Wiederherstellung der Idylle durch die historische Architektur des Andreas Schlüter, der die wesentlichen Teile des Berliner Stadtschlosses ab 1699 neu erbaute. Da es aber kein richtiges Schloss mehr sein kann, wird es zum Humboldt-Forum mit Museen, Bibliothek und einer Agora, die zum Zentrum des kulturellen Lebens der Hauptstadt werden soll. Die Fassade aber wird weiterhin die Fassade eines Schlosses sein.

    "Schloss, Arx, Castrum, Chateau, ein Fürstliches oder Herren-Hauß, mit Mauren und Thoren, oder mit Graben und Brücken versehen. Dergleichen Häuser haben allezeit gewisse Herrlichkeiten und Gerechtigkeiten, die ihnen ankleben und mit ihnen veräussert werden, aber nicht allezeit die Landes-Hoheit. Es darf auch, ohne des Landes-Herrn Vorwissen und Bewilligung, niemand, der es nicht hergebracht, ein Schloß neu erbauen und ist schuldig, wenn er eines hat, dasselbe dem Landes-Herrn auf Begehren zu öffnen. Ein Schloss, so auf des Landes-Herrn niedergerissen worden, verlieret seine Gerechtigkeit; wenn es aber der Besitzer verändert oder verlegt, ist ihm solches unnachtheilig."

    Vieles von dem, was das Zedlersche Universallexikon hier aus dem frühen 18. Jahrhundert unter dem Stichwort Schloss berichtet, verknüpft sich trotz völlig geänderter gesellschaftlicher Situation noch immer mit unserem Begriff von einem Schloss. Ein Schloss ist eben nicht nur irgendein Bauwerk eines Herrschers, in dem er sich vor Feinden sicher sein kann und das ihm zur Repräsentation dient. Am Schloss "kleben" auch "Herrlichkeiten" und "Gerechtigkeiten", will sagen, das Schloss ist integraler Bestandteil herrschaftlicher Machtausübung. Deshalb war es nur zu verständlich, dass das Berliner Schloss abgerissen wurde. Und nicht nur die DDR entsorgte ihre undemokratische Vorgeschichte, auch eine Stadt wie Braunschweig riss ihr Welfenschloss nach langen Diskussionen und einer äußerst knappen Abstimmung noch im Jahr 1961 vollständig ab. In anderen Städte wurde kontrovers über den Erhalt der alten Schlösser diskutiert und die Entscheidung fiel zugunsten des Erhalts, wie etwa in Stuttgart, wo das Schloss seine "Gerechtigkeit" in dem Sinne behielt, dass hier der Sitz des Finanzministeriums eingerichtet wurde und ein wiederhergestellter Saal für Repräsentationszwecke weiter im alten Sinne genutzt wird.

    In Braunschweig steht das Schloss, das der Architekt Theodor Ottmer bis 1841 in neubarocken Formen erbaute, heute wieder, als wenn es nie abgerissen worden wäre. Zumindest scheint es so auf den ersten Blick: Denn es wurde nur die Fassade rekonstruiert, zum Teil mit den originalen Materialien, die geschichtsbewusste Bürger in ihren Vorgärten vergraben hatten, darauf hoffend, der Wiederaufbau werde einst erfolgen. Hinter dieser Fassade regiert der Mammon: Eine Einkaufspassage, sinnigerweise "Schlossarkaden" genannt, öffnet sich dort, wo einst der König ein und ausging. König Kunde darf sich hier wirklich als König fühlen. Ziel des Entwicklers ECE und der Stadt war es, Braunschweig als Oberzentrum mit übergeordnetem Versorgungsauftrag zu sichern und nachhaltig zu stabilisieren. Der Neubau sollte dem seit den sechziger Jahren vernachlässigten Ort ein "neues Gepräge und eine nicht hoch genug einzustufende optische Aufwertung" bringen. Schamvoll wurden noch Bibliothek, Kulturinstitut, Stadtarchiv mit eingebracht. Im Bebauungsplan heißt es:

    "Durch den Zweiten Weltkrieg sind zahlreiche sichtbare Zeugnisse der bedeutsamen Braunschweiger Stadtgeschichte, die noch fest im Bürgerbewusstsein verankert sind, verloren gegangen. Ziel der Stadt Braunschweig ist es, diese eigene Stadtgeschichte wieder erlebbar zu machen und als Markenzeichen zu nutzen. Die Rekonstruktion des ehemaligen Braunschweiger Residenzschlosses entspricht diesen Bestrebungen. [...] Sie macht Geschichte für die Bürger wieder erfahrbar und nutzt die Mittel heutiger Bauarchitektur im Sinne der Denkmalpflege. Damit wird eine hochwertige Verbindung zwischen dem funktionalen Einkaufzentrum und dem historisch geprägten Baukörper hergestellt."

    Die Sprache ist entlarvend. Nirgends geht es im Bebauungsplan um die architektonische Qualität des Schlosses als Bauwerk des frühen 19. Jahrhunderts oder gar um seine Funktion als Königsschloss. Stattdessen wird es zum Markenzeichen, das nebenbei eine optische Aufwertung des Platzes bewirkt. Die Erfahrbarkeit von Geschichte stellt sich gewiss nicht dadurch ein, dass man alte Steine vor einen Stahlbetonbau klebt. Und dennoch hat der Braunschweiger Schlossneubau mit angegliedertem Einkaufszentrum bewiesen, dass eine historische Fassade durchaus fähig ist, einer desolaten städtebaulichen Situation ein neues und auch ein gutes Gesicht zu verleihen. Selbst die größten Kritiker des Fassadismus bescheinigen heute der Braunschweiger Situation Qualitäten, die so mit einer modernen Architektur wahrscheinlich nicht hätten hergestellt werden können.

    Damit stehen die moderne Architektur und die heute entwerfenden Architekten auf dem Prüfstand: Sind wir heute nicht mehr in der Lage, Gebäude zu entwerfen, die es an städtebaulicher und architektonischer Qualität mit den Bauten der Geschichte aufnehmen können? Ist unsere Architektur so verarmt, dass man ihr erst gar nicht mehr zutraut, Gleiches wie die Bauten aus der Geschichte zu leisten? Haben wir Angst vor den kalten Glasfassaden der Großbanken und noch mehr Angst vor den skulpturalen Ungetümen wie dem Daimler- und Porsche-Museum in Stuttgart oder der BMW-Welt in München, die zum Glück ja nicht in den Stadtzentren gebaut wurden, sondern in ohnehin unanschaulichen industriellen Zonen? Oder ist gar nicht die moderne Architektur als solche Schuld, sondern der Wunsch nach der idyllischen Stadt?

    "Republikaner bauen Wasserleitungen, Kanäle, Wege, öffentliche Plätze, Märkte. Jeder Palast aber, den ein Monarch errichtet, ist der Keim zu einem nahen Unglück."

    Louis Sébastian Mercier, der dies 1774, fünfzehn Jahre vor der Französischen Revolution in seinem Roman Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume schrieb, hatte keine idyllische, sondern eine aufgeräumte Stadt vor Augen, als er sich weit in die Zukunft träumte und im Paris des Jahres 2440 wieder aufwachte. Während seines siebenhundertjährigen Schlafes hatte eine Art Instant-Heilung Frankreich und Paris verändert: Die Regierungsform ist weder monarchisch noch demokratisch, noch aristokratisch:

    "Sie ist vernünftig und für die Menschen gemacht."

    Das wirkte sich auch auf den städtebaulichen Zustand aus: Die Seine-Brücken sind instand gestellt, die Bastille bis auf die Grundmauern abgerissen, die Tuilerien sind für jedermann zugänglich, auf allen Plätzen gibt es öffentliche Brunnen, die reinstes Wasser spenden, statt des Hôtel-Dieu, des einstigen stinkenden Siechenhauses, gibt es moderne Spitäler, in deren Betten nur noch ein Kranker liegt statt der vormaligen sechs, das lateinische Geschwätz an der Sorbonne ist abgeschafft, die Ärzte tragen die Verantwortung für ihre Operationen selbst, und sogar die Juristen halten sich an die Gesetze. Auch der Louvre, das alte Königsschloss ist fertig gebaut. Der Fassade von Claude Perrault gegenüber ist ein Pendant errichtet und es sei das prächtigste Schloss der Welt. Hier regiert der vernünftige Herrscher, aber nicht nur er:

    "Alle angesehenen Künstler wohnten in diesem Palast. Dies war das würdigste Gefolge der herrscherlichen Majestät. Diese war nur auf die Künste stolz, die den Ruhm und das Glück des Reiches ausmachten."

    Die Idee, das Schloss zum Regierungssitz der Künste zu machen, ist also nicht neu, sondern eine Idee der Aufklärung. Noch vor der Französischen Revolution 1789 hatte ein Architekt sich ebenfalls mit einem idealen Palast eines Herrschers beschäftigt, den er in der Gegend von Saint-Germain-en-Laye in einer amphitheatralisch gebildeten Landschaft anlegen wollte. Die Rede ist von Etienne-Louis Boullée, der unter die Revolutionsarchitekten gezählt wird, obwohl er mit der Französischen Revolution nichts zu tun hatte. Vielmehr ist seine Formensprache revolutionär: Megalomane Anlagen, bestehend aus reinen stereometrischen Kuben, unendliche Säulenreihen und dramatische Beleuchtungen zeichnen sein zeichnerisches Oeuvre aus, darunter der berühmte Kugelbau des Kenoptaphs für Isaac Newton. Der Schloss-Entwurf Boullées ist schier unendlich groß und übertrifft die Anlage von Versailles, dem Riesenschloss König Ludwig XIV. um ein Vielfaches. Megalomanie ohne Grenzen:

    "Allen Reichtum der Architektur zur Schau stellen, alle Feierlichkeit und Großartigkeit der schönen Künste zu entfalten, das ist die Aufgabe eines Künstlers, der die Residenz eines Herrschers erbaut ..."

    ... schreibt Boullée in seinem Essay sur l'art von 1789/90. Der Herrscherpalast ist von den Palästen der Prinzen eingefasst und von größter Ausdehnung. Perfekte Symmetrie und Regelmäßigkeit geben der Anlage Einheit; die Lage am Hang der Seine nutzt Boullée, um der Gefahr der Monotonie durch ein stufenweises Ansteigen der einzelnen Bereiche der Anlage zu entgehen. Boullée hatte den Palast 1785 entworfen und er war sich bewusst, dass es nach der Revolution heikel war, ein solches Projekt überhaupt noch in seinem Besitz zu haben. Aber er findet einen Ausweg, indem er der Anlage einen aufklärerischen Gedanken einschreibt. Angeregt durch Montaignes Überlegungen zur Erziehung der Kinder ist es ihm nämlich ein ernstes Anliegen,

    "alle Akademien in meinem Palastkomplex aufzunehmen, und zwar nicht nur damit die jungen Prinzen in den Zentren des Wissens erzogen würden, sondern damit auch die mit ihrer Erziehung Beauftragten die Gelegenheit erhalten, mit den gelehrtesten Männern zu verkehren und schließlich auch, damit der Monarch selbst sich am Umgang mit den weisesten Männern seines Reiches erfreuen kann."

    Das Schloss als gigantische Akademie, als unendlicher Wissensspeicher, und ein wissbegieriger Herrscher, der die besten Köpfe seiner Zeit um sich schart - welch kühne Idee zu Ende des ancien régime! Realisiert wurde von diesen Ideen freilich nichts, die Entwürfe Boullées blieben ebenso wie Merciers Blicks ins fünfundzwanzigste Jahrhundert ein Traum.

    Bevor Mercier jedoch aus seinem Traum wieder aufwacht, führt er den Leser in eine letzte Szene: Er besucht Versailles, wo einst das größte Schloss des größten Königs Frankreichs, nämlich das Ludwigs des Vierzehnten stand:

    "Ich kam und suchte mit den Augen den prächtigen Palast, wo das Schicksal so vieler Nationen entschieden wurde. Welche Überraschung! Ich erblickte nichts als Trümmer, eingefallene Mauern, verstümmelte Statuen; aus einigen Säulengängen, die zur Hälfte eingestürzt waren, konnte man sich eine unklare Vorstellung von seiner einstigen Pracht machen."

    Mercier trifft auf einen alten Mann, der offensichtlich als Eremit die Ruinenlandschaft bewohnt und befragt ihn über die trostlose Entwicklung, die Versailles genommen habe. Der Palast sei von selbst in sich zusammengefallen, weil sein Besitzer in unbändigem Ehrgeiz die Natur zu bezwingen versucht habe; unnötig sei das Blut und die Tränen derer vergossen worden, die den Palastkoloss unter schmerzvollen Mühen errichtet hätten. Aber der Bau entbehrte ebenso des festen Grundes, wie sein Erbauer Ludwig XIV. Und kein anderer als dieser ist es, dem Mercier hier in Versailles im Jahr 2440 begegnet:

    "Ach ich Unglücklicher, wisset, daß ich jener Louis XIV. bin, der diesen traurigen Palast erbaut hat. Die göttliche Gerechtigkeit hat die Fackel meiner Tage wieder angezündet, damit ich mein beweinenswürdiges Werk aus nächster Nähe betrachten solle .. Wie zerbrechlich sind doch die Denkmäler des Stolzes ... Ich weine, und ich werde ewig weinen müssen ... Ach, daß ich nicht gewusst habe ..."

    Es brauchte noch einige Jahre bis man selbst solchen fiktiven und faktischen Ruinen positive Aspekte abgewinnen konnte. Gebaute Ruinen in englischen Landschaftsgärten von Wörlitz bis Laxenburg, die Rheinschlösser wie Stolzenfels und Rheinfels, zeigen, wie sehr man sich über den Bau, den Wiederaufbau und den Neubau von kleinen Schlössern in die seligen Zeiten des ancien régime und noch viel weiter zurück versetzen wollte. Der Hessische Hofpoet Casparson schrieb anlässlich der Eröffnung der von 1793 bis 1800 erbauten Löwenburg bei Schloss Wilhelmshöhe in Kassel:

    "Der anschauende Wanderer gantz staunen, gantz schauen, gantz in die Ritterzeit hineingezaubert - und doch alles, alles Täuschung. Denn Wilhelm IX. gründete die Burg, er führte sie auf. Nicht ist sie aus den Zeiten der Heinriche und Hermanne, der Ludewige, der Wilhelme des alten Hessens. Sie ist das Denkmal, welches Größe und Stärke, das Denkmal, welches er denen widmete, die solche auf ihn vererbten. Ruinen werden also in unserem Deutschland unwidersprechlich am schicklichsten Anlagen nach gothischem Geschmack, das bewies Wilhelm der IX., er tats, er lebe."

    Geschichte allein schien nun zeitgemäß und die vollzogene Täuschung wurde positiv als Rückversicherung in der Geschichte verbucht. Gottfried Semper fragte sich schon im Jahr 1834, ob angesichts der vielen historischen Stile, in denen gebaut werde, der Mensch bald nicht mehr wisse, welchem Jahrhundert er angehöre. Dieser Stilpluralismus hat der Idylle jedenfalls nicht geschadet:

    "Aus einem tiefen grünen Tal
    Steigt auf ein Fels als wie ein Strahl
    Drauf schaut das Schlößlein Lichtenstein
    Vergnüglich in die Welt hinein."

    Bekanntlich hatte Wilhelm Hauffs Roman "Lichtenstein" von 1826 einen solchen Erfolg , dass das "Schlösschen" nach seinen Schilderungen vom Architekten Carl Alexander Heideloff neu erbaut und 1841 von Wilhelm Graf von Württemberg eröffnet und bezogen werden konnte:

    "Wie ein kolossaler Münsterturm steigt aus einem tiefen Albtal ein schöner Felsen, frei und kühn empor. [...] Wie das Nest eines Vogels auf die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten Zinnen eines Turms gebaut, hing das Schlösschen auf dem Felsen. Es konnte oben keinen sehr großen Raum haben, denn außer einem Turm sah man nur eine befestigte Wohnung, aber die vielen Schießscharten im unteren Teil des Gebäudes, und mehrere weite Öffnungen, aus denen die Mündungen von schwerem Geschütz hervorragten, zeigten, daß es wohlverwahrt und trotz seines kleinen Raumes eine nicht zu verachtende Feste sei; und wenn ihm die vielen hellen Fenster des oberen Stockes ein freies, luftiges Ansehen verliehen, so zeigten doch die ungeheuren Grundmauern und Strebepfeiler, die mit dem Felsen verwachsen schienen, und durch Zeit und Ungewitter beinahe dieselbe braungraue Farbe, wie die Steinmasse, worauf sie ruhten, angenommen hatten, daß es auf festem Grunde wurzle, und weder vor der Gewalt der Elemente noch dem Sturm der Menschen erzittern werde."

    Naturgleichheit der Architektur, Wehrhaftigkeit und Freiheit verbinden sich schwärmerisch zu einem Bild des Schlosses, bei dem Repräsentation und Fortifikation zu einer romantisch verklärten Einheit verschmelzen. Das Schlösschen, bewohnt von einem "alten Ritter" wird zum Ideal einer noch im Höfischen verwurzelten, dennoch freien Gesellschaft aufgeklärter Menschen, unter denen der Fürst nur noch primus inter pares ist.

    Die Ruinenromantik, mit der in der Spätphase der Aufklärung zu Ende des 18. Jahrhunderts die Begeisterung für das Mittelalter ihren Ausgang genommen hatte, führte schließlich zu den "Schaumpasteten" der Schlösser des Bayrischen Königs Ludwig II. in Linderhof, Herrenchiemsee und Neuschwanstein. Während Herrenchiemsee dem Schloss Versailles nacheifert - vielleicht erscheint auch hier im Jahr 2440 der um den Todesschlaf gebrachte Ludwig II. wieder - ist Neuschwanstein für viele, nicht nur für die Touristen aus Übersee das Schloss schlechthin: Kollektiver Archetypus aller Kulturen. Das 1868 bis 1886 erbaute Schloss geht direkt auf eine Märchenillustration zurück, was kein Zufall ist, denn Schlösser spielen im europäischen Volksmärchen eine eminent wichtige Rolle. Die Volkskundlerin Sabine Wienker-Piepho unterscheidet drei Möglichkeiten der Verwendung von Schlössern im Märchen:

    " Erstens charakterisieren sie einen Aktionsraum, dessen Luxus zu Verschwendung, Vergnügen und Sinnenfreude anregt. Ein solch märchenhaftes Luxusleben ruft gewöhnlich Kontrastvorstellungen zum "oikos", zum Haus des einfacheren Lebens hervor.
    Zweitens: Das Märchenschloss ist das Zentrum der Macht, das Domizil der Herrschaft und der Ort entsprechender Transaktionen, Verschwörungen und Intrigen, oder auch - seltener - von Widerständigkeiten.
    Drittens schaffen Märchenschlösser eine Atmosphäre des Schreckens. Dann sind sie numinose Orte, mit Requisiten des Entsetzens und mit Geistern, Toten und Untoten ausgestattet. Sie werden von den unheimlichsten Personen bewohnt und beherbergen alle nur denkbaren Arten von Aggressoren."

    Die Volkskundler beobachten derzeit eine weltweite Konjunktur von Märchen und Märchenschlössern. Offenbar besteht ein tiefes Bedürfnis nach Märchenkönig und Märchenschloss, und dies nicht nur in westlichen Gesellschaften. Dabei ist das Schloss immer das gleiche vieltürmige, hochgelegene, an Neuschwanstein erinnernde Gebäude.

    Wenn es ein deutsches Schloss gibt, wenn ein Schloss Deutschland symbolisieren soll, dann ist es Neuschwanstein - auf jeden Fall nicht das schwergewichtige, behäbige Berliner Stadtschloss mit seiner ungelenken Kuppel. Auch inhaltlich wird es nicht zum Märchenschloss und somit zu einem überkulturellen Identifikationsobjekt werden, dazu ist die vorgesehenen Nutzung als Museum ostasiatischer Kulturen und als Bibliothek und Agora zu schwach.

    Es gab Zeiten in Deutschland, in denen man sich gegen eine Rekonstruktion erfolgreich wehrte, es bei der Ruine oder dem leeren Platz beließ oder modern weiterbaute:

    Zum Beispiel die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin: Nach langen Diskussionen entschied man sich hier 1957 die Ruine der Kirche als Mahnmal stehen zu lassen und Egon Eiermann baute seine neue Kirche unmittelbar daneben.

    Zum Beispiel die Alte Pinakothek, bei deren Wiederaufbau der Architekt Hans Döllgast die vom Kriege geschlagene Wunde ostentativ zur Schau stellt und bis heute so manchen Touristen verunsichert, der sich fragt, warum man dieses Haus denn nicht vernünftig zu Ende gebaut habe.

    Zum Beispiel die Frauenkirche in Dresden, deren Ruine ja während der ganzen DDR-Zeit als Mahnmal ihre Wirkung tat.

    Zum Beispiel der Hamburger Domplatz: Nachdem der Dom bereits 1806 niedergelegt worden war, stand hier bis zum Bombensturm die Gelehrtenschule des Johanneums. Im Krieg stark zerstört, wurde die Schule abgetragen und seitdem ist hier in der Mitte Hamburg ein großer, banal als Parkplatz genutzter leerer Platz. Bei einem anderen Gebäude waren die Hamburger dagegen flugs beim Wiederaufbau: Der heute stehende Michel, einst das Wahrzeichen der Stadt, war 1906 abgebrannt und nach den Plänen von Ernst Georg Sonnin wieder aufgebaut worden. Als er im Zweiten Weltkrieg wieder zerstört worden war, zögerten die Hamburger nicht, ihn nochmals in den alten Formen wiederherzustellen. Und das alles ohne große Diskussionen, ohne ideologische Kämpfe, ohne Schuldzuweisungen und Verdächtigungen.

    Schaut man sich heute die Mitte der Stadt Münster mit ihren schönen, idyllischen Arkaden am Prinzipalmarkt an, dann vergisst man leicht, dass das mittelalterlich anmutende Ambiente eine Wiederaufbauleistung ist. Nur der Fachmann erkennt im Detail die Formensprache der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In fünfzig Jahren - so kann man vermuten - wird auch in Dresden niemand mehr erkennen, dass Frauenkirche und umliegende Bebauung ein Werk der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts sind und nicht dem Barock entstammen.

    Andererseits lieben wir auch die Ruinen: Beim Heidelberger Schloss konnte vor über einhundert Jahren die Rekonstruktion verhindert werden, nachdem sich der Denkmalpfleger Georg Dehio machtvoll für die Konservierung des Ruinösen eingesetzt hatte. Selbst ein sonst des Romantisierens nicht verdächtiger Walter Benjamin geriet hier ins Schwärmen...,

    "Ruinen, deren Trümmer gegen den Himmel ragen, erscheinen bisweilen doppelt schön an klaren Tagen, wenn der Blick in ihren Fenstern oder zu Häupten den vorüberziehenden Wolken begegnet. Die Zerstörung bekräftigt durch das vergängliche Schauspiel, das sie am Himmel eröffnet, die Ewigkeit dieser Trümmer."

    Freilich lag der Fall in Braunschweig und liegt der Fall in Berlin und Potsdam, wo man sich ebenfalls anschickt das alte Schloss wiederaufzubauen, anders als in Heidelberg, denn hier war und ist ja gar nichts mehr da: Keine Ruinen, die man als Mahnung erhalten könnte, die man modern vollenden, denen man etwas Aktuelles konfrontieren könnte. Aber auch ein nur gering ausgebildeter Wille der Bevölkerung, Millionen für den Wiederaufbau zu spenden, wie dies in Dresden oder auch beim Hamburger Michel der Fall war, fehlt in Berlin. Dennoch, es war der Wunsch des Deutschen Bundestages, die Fassaden des Schlosses wiederherzustellen - also doch Volkes Wunsch?

    Es ist nicht einfach, sich ein Urteil zu bilden. Dass der Platz vor dem Lustgarten mit dem Alten Museum Karl Friedrich Schinkels und dem neobarocken Berliner Dom ein mächtiges Gebäude braucht, um überhaupt wieder zu einem großstädtischen Platz zu werden, konnte man 1993 körperlich erfahren, als die Schlossfassade auf bedruckten vor ein Gerüst gehängten Planen kurzzeitig wiedererstanden war. Dies könnte im Prinzip auch ein modernes Gebäude, das die Kubatur des Schlosses aufnimmt, leisten. Jedoch entschied sich der Bundestag, 2002 vor diese Alternativen gestellt, immerhin mit Zweidrittelmehrheit für die Rekonstruktion. Nachdem Ende November 2008 der Architektenwettbewerb, an dem nur bescheidene 158 Büros teilnahmen, zugunsten des Entwurf von Franco Stella aus Vicenza entschieden worden war, stehen die Architekten vor einem Scherbenhaufen. Zwar gelang es den einer Rekonstruktion kritisch gegenüberstehenden Architekten in der Jury, einen sich nicht dem Rekonstruktionsgebot beugenden Entwurf besonders zu loben und mit einem Preisgeld zu bedenken, aber letztlich ist die "moderne" Fraktion gescheitert.

    Dies ist sie nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Die Neuerer hatten es seit der Restauration immer schwer gehabt sich gegen die Traditionalisten durchzusetzen. Wer Neuerung suchte, machte sich verdächtig. König Ludwig I. von Bayern hatte in einem Erlass von 1826 geschrieben:

    "Dass die Historie ein spezifisches Gegengewicht wider revolutionäre Neuerung und wider ungeduldiges Experimentieren sei - wer seinen Sinn ernst und würdig auf die Vergangenheit richte, sei nicht zu fürchten in der Gegenwart."

    Und er ließ das neue München von seinen Architekten Klenze, Gärtner, Ohlmüller und Ziebland in historischen Stilen erbauen. Berlin hingegen galt damals als Hort der Modernen. Insbesondere Karl Friedrich Schinkel hatte erkannt, dass das Kopieren früherer Geschichte ein ahistorischer Akt sei:

    " Nur das ist ein geschichtlicher Akt, der auf irgend eine Weise ein Mehr, ein neues Element in die Welt einführt, aus dem sich eine neue Geschichte erzeugt und fortspinnt."

    Schinkels früh verstorbener Kollege Anton Hallmann schrieb gar...

    "Im Fortschritt allein nur lebendige Kunst."

    Sah Hallmann damals das Übel in der Akademieausbildung begründet, die ihre Schüler systematisch zur Nachäffung abrichte, so liegt offensichtlich das Problem heute tiefer. In den deutschen Architekturschulen jedenfalls wird nicht mehr nach historischen Vorbildern entworfen, sondern das Diktat des Neuen gilt. Dies oft genug und gerade in Berlin mit dem Hinweis auf Schinkel. Oswald Mathias Ungers resümierte 1981 zur Feier des 200. Geburtstages Schinkels

    "Schinkel ist plötzlich in Mode gekommen. Nach der langen Durststrecke formaler Enthaltsamkeit wird sein Architekturvokabular institutionalisiert. [...] Der Stil stimmt: Er lässt sich glänzend beschreiben, nachahmen, verändern, zitieren und fortsetzen. Das Spektrum des Meisters ist so komplex, dass sich jeder frei bedienen kann, der klassisch Veranlagte so gut wie der Romantiker, der Technologe so gut wie der handwerklich bewusste Baumeister alten Stils, der unverbesserliche Funktionalist so gut wie der tiefgründige Zeichensetzer. Alle passen sie unter den weiten Mantel des man for all seasons."

    Wo ist der Geist Schinkels, auf den sich weiterhin alle beziehen, geblieben, wo der Mut dieses beamteten Architekten in königlich preußischen Diensten zu unkonventionellen Lösungen und zu einem kreativen Fortschreiben der Architekturgeschichte?

    Auf einem seiner programmatischen Gemälde hat Schinkel die Baustelle eines griechischen Tempels dargestellt; er nannte es "Blick in Griechenlands Blüte". Wenn ab 2010 der Neubau des Berliner Stadtschlosses beginnt, wird der Blick auf die Baustelle kein Blick in Deutschlands Blüte sein.