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Beitrag zum besseren Verstehen

Rund 3,5 Millionen Muslime leben in Deutschland, etwa 15 Millionen in der Europäischen Union. Die Studie "Europas muslimische Eliten. Wer sie sind und was sie wollen" zeigt: Es bildet sich ein europäischer Islam heraus. Jasper Barenberg hat das Buch gelesen.

    Diese Untersuchung war überfällig. Die aus Dänemark stammende, in den USA forschende Politikwissenschaftlerin Jytte Klausen hat sich die Mühe gemacht, 300 muslimische Führungspersönlichkeiten zu befragen, in Frankreich, Deutschland, England, Schweden und Dänemark, um auf diese Weise der Lebenswirklichkeit und den Einstellungen einer Gruppe näher zu kommen, die Klausen
    muslimische Eliten nennt. Dazu zählt sie gewählte oder ernannte Führungspersönlichkeiten mit muslimischem Hintergrund. Sie engagieren sich in Verbänden oder in der Politik, in Kommunen oder nationalen Parlamenten. Stadträte hat die Wissenschaftlerin getroffen, Ärzte und Ingenieure, Professoren, Anwälte und Sozialarbeiter.

    Nicht als repräsentative Umfrage will sie ihre Studie verstanden wissen, sondern als Bestandsaufnahme. Bei der Auswahl der Länder war sie auf Vielfalt bedacht: Staaten mit und ohne kolonialer Vergangenheit sind darunter, Länder mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung und solche mit mehrheitlich protestantischer, laizistische und staatskirchlich verfasste. Die Befragen waren arabischer, türkischer und asiatischer Herkunft. Der Anteil der Frauen lag – gemessen an ihrem Anteil innerhalb der muslimischen Eliten – eher über dem Durchschnitt. Wie ein roter Faden zieht sich die Erkenntnis durch das Buch, dass sich tatsächlich so etwas wie ein europäischer Islam herausbildet. Die weit überwiegende Mehrheit ihrer Gesprächspartner sei säkular eingestellt, unterstütze die Grundwerte individueller Freiheiten und befürworte die Trennung von Religion und Politik, so das Fazit von Jytte Klausen.

    "Die führenden Muslime, die ich getroffen habe, vertraten zwar unterschiedliche Ansichten zur Frage angemessener Beziehungen zwischen dem Islam und dem Staat, aber mit wenigen Ausnahmen waren sie alle Realisten. Sie waren sich darin einig, dass der Islam in Europa eine Minderheitenreligion darstellt und Muslime innerhalb der liberalen Demokratie ihren Platz finden müssen."

    Die Veränderung des Islam in und durch Europa hält Jytte Klausen für einen unumkehrbaren Prozess. Jenen, die das Bekenntnis der muslimischen Führungspersönlichkeiten zu Rechtsstaat und Demokratie für unaufrichtig halten, widerspricht sie energisch. Europas neue muslimische Gruppen als Feigenblätter für islamische Extremisten? Europas muslimische Verbände als eine Art Trojanisches Pferd für die weltweite Ausbreitung des Islam? Ebenso ernsthaft wie nüchtern diskutiert die dänische Politologin Szenarien dieser Art, um sie dann zu verwerfen, allen voran die Rede vom bevorstehenden "Kampf der Kulturen", wie sie der US-Amerikaner Samuel Huntington schon vor Jahren in die Debatte geworfen hat:

    "Der These liegt ein Menschenbild zugrunde, das Muslime als fremd gesteuerte Akteure einer feindseligen Kultur betrachtet, die dem liberalen Individualismus zuwiderläuft."

    In den Augen von Jytte Klausen ein Zerrbild der Wirklichkeit:

    "Europas muslimische politische Führer bezwecken weder den Umsturz der liberalen Demokratie noch die Ersetzung des säkularisierten Rechtsstaats durch das islamische Recht Die meisten Muslime suchen nach Möglichkeiten, Institutionen aufzubauen, die ihnen die Ausübung ihrer Religion auf eine Weise erlauben, die mit sozialer Integration einhergeht."

    Und da sieht Klausen einen erheblichen Nachholbedarf, und zwar in den Gesellschaften, in denen die Muslime oft bereits seit Generationen leben. Ob sie die Einwanderung in die sechs untersuchten Länder Revue passieren lässt oder die gegenwärtigen Organisationsstrukturen der Muslime, ob sie das Kopftuchverbot zum Thema macht, muslimische Speisevorschriften oder staatliche Politik gegenüber christlichen Kirchen mit der Politik gegenüber der islamischen Gemeinschaft vergleicht: In den Augen der Wissenschaftlerin hat in allen Ländern der Staat viel zu spät auf die dauerhafte Anwesenheit einer muslimischen Minderheit reagiert. Und dann wenig Entgegenkommen gezeigt. Ein historisches Versäumnis.

    "Sicherlich kommt es zu Spannungen und Konflikten, wenn Staaten eine große Anzahl von Muslimen aufnehmen, deren Anwesenheit in Westeuropa relativ neu ist. Die Schwierigkeit rührt aber nicht daher, dass Muslime generell antidemokratisch eingestellt sind. Die Herausforderung besteht vor allem darin, dass die Muslime, die Integration in die europäischen Gesellschaften suchen, eine Stimme in europäischen Organisationen einfordern und auf einer gleichberechtigten Behandlung ihrer Gemeindeorganisationen bestehen."

    Angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – darin vor allem sieht Jytte Klausen die Bringschuld der europäischen Gesellschaften gegenüber den Muslimen. Und die Voraussetzung dafür, dass sich der Islam in Europa auf friedlichem Weg liberalen Gesellschaftsmodellen annähern kann.

    "Ein Anfang liegt in der Nutzung der Entscheidungsfreiheit innerhalb bestehender Gesetze, um praktische Probleme zu lösen und Hindernisse zu beseitigen, die der Integration des Islam entgegenstehen. Postchristlicher religiöser Pluralismus in Europa ist eine gesellschaftliche Tatsache, der man sich stellen muss."

    Wie ist es möglich, als europäische Muslime zu leben – und nicht als Muslime, die sich mehr oder weniger zufällig in Europa aufhalten? Wie genau kann eine stärker religiös definierte Weltsicht mit einer stärker säkularen in Übereinstimmung gebracht werden? Auf diese Fragen kann auch Jytte Klausen keine befriedigenden Antworten geben. Auch deshalb nicht, weil sie die Konflikte nicht ausblendet, sondern benennt. Sie schlägt aber vor, sich endlich gemeinsam auf die Suche nach einer Antwort zu machen.

    "Die europäischen Regierungen verfügen über die Mittel, diese Konflikte in einer die Integration fördernden Weise zu lösen, aber nur, wenn sie mit einem breiten Spektrum muslimischer Repräsentantinnen und Repräsentanten zusammenarbeiten."

    Zu schade nur, dass Innenminister Wolfgang Schäuble die Einladungen zu seiner Islamkonferenz im Herbst vermutlich schon verschickt hat. Sonst hätte ihm Jytte Klausen noch ein paar Gesprächspartner empfehlen können.

    Jytte Klausen: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind und was sie wollen. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2006
    306 Seiten
    29,90 Euro